Ars tremonia

Dicht und doppelbödig

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„Antigone“ von Sophokles/Schimmelpfennig feierte Premiere am Schauspiel Dortmund

Die „Antigone“ des griechischen Dramatikers Sophokles gilt gemeinhin als das klassische Drama um den Konflikt zwischen Staatsraison und Humanität und ist angesichts der gegenwärtigen Kriege in Europa und der Welt aktueller denn je. Roland Schimmelpfennigs Überschreibung des Dramas dient als Grundlage für die Spielfassung der Dramaturgin Marie Senf und der Regisseurin Ariane Kareev. Letztere stellt in ihrer gut durchdachten und soliden Inszenierung vor allem den Konflikt zwischen der Titelheldin und Kreon, zwischen männlichem Machtanspruch und weiblicher Rebellion in den Mittelpunkt. Herausgekommen ist dabei ein bildgewaltiger Abend mit zuweilen ein wenig opernhaft und pathetisch agierenden, gleichwohl hervorragenden Darstellern, einem sensationellen Sprechchor und zwei finnischen Artistinnen, was der Inszenierung nicht nur eine inhaltlich-ästhetisch spannende Ebene hinzufügt, sondern auch eine sehenswerte circensische Note verleiht.

Eine kraftvolle Bühne und überzeugende Darsteller

Schon der erste Eindruck ist gewaltig: Der Palast von Theben (Bühne: Nicole Marianna Wytyczak) ist gestaltet aus langen Tuchbahnen, die von der Decke hängen und wie rotmarmorierte Säulen aussehen – eine Szenerie, in der sich Hart und Weich zu einer symbolischen Verbildlichung des Konflikts zwischen Kreon und Antigone ergänzen. Wir blicken auf den Schauplatz eines soeben beendeten Krieges; der Boden dampft noch und ist heiß wie die Gemüter. Das alles ist kongenial untermalt von archaisch dröhnenden, bedrohlichen Sounds (Yotam Schlezinger).

Das Ensemble und der Dortmunder Sprechchor bei "Antigone". (Foto: (c) Birgit Hupfeld)
Das Ensemble und der Dortmunder Sprechchor bei „Antigone“. (Foto: (c) Birgit Hupfeld)

Die Geschichte ist zweieinhalbtausend Jahre alt und weithin bekannt: Der Königssohn Polyneikes fühlt sich um sein Erbe am Reich geprellt und greift seine Vaterstadt Theben an. Eteokles, sein Bruder, verteidigt sie. Beide töten sich im Kampf, und das Unheil nimmt seinen Lauf, als ihr Onkel Kreon, der neue Herrscher, bei Todesstrafe verbietet, den Leichnam des Polyneikes zu bestatten. Antigone, die Schwester der beiden Toten, missachtet die Verordnung, bestattet ihren Bruder und bekennt sich öffentlich zu der Tat. Kreon lässt sie daraufhin lebendig einmauern. Doch der Widerstand gegen sein konsequentes Urteil formiert sich: Die eigene Familie, die Seherin und selbst das Volk ergreifen Partei für die Rebellin. Als Kreon verunsichert endlich nachgibt, ist es zu spät – am Ende sind alle um ihn herum tot.

Ekkehard Freye gibt den Kreon zunächst wunderbar als nassforschen, mediengewandten Politiker, der eloquent den Rechtsstaat repräsentiert. Linda Elsner als Antigone inszeniert sich nicht minder medienwirksam als Märtyrerin, die sich scheinbar vor dem Tod nicht fürchtet. Beiden Protagonisten folgt man hochinteressiert bei der Entwicklung ihrer Figuren, die nach und nach den sicher geglaubten Boden unter ihren Füßen verlieren. Auch alle anderen Rollen sind sauber gearbeitet und fügen sich nahtlos in den sehr klaren, dicht inszenierten Erzählprozess. Besonders erwähnenswert ist Alexander Darkow als Wächter, der auch den notwendigen Witz nicht vermissen lässt.

Spektakuläre Choreografien und eine starke zweite Ebene

Der Dortmunder Sprechchor ist so gut wie nie. Schlüssig und wirksam ist die Idee, ihn anfangs im Publikum zu platzieren, wodurch die Zuschauer selbst zum Volk von Theben und damit zu einem aktiven Teil des Geschehens werden. Und wie dieser wirklich auf den Punkt überschriebene Chortext inszeniert ist – ich wiederhole mich gern – ist eine Sensation: Auf höchstem Niveau präsent, präzise und wortgewaltig!

Besonders wird dieser Theaterabend durch die Erfindung einer zweiten Ebene. Bespielt wird sie akrobatisch von Anna und Minna Marjamäki, die als Polyneikes und „Spiegelantigone“ – so lesen wir im gut gemachten Programmheft – die „Sphäre der Toten verkörpern“. Gleich zu Beginn werden wir so zu Zeugen von Polyneikes’ verzweifeltem artistischen Versuch, sich aus dem Schattenreich zwischen Leben und Tod zu befreien. Höhepunkt all dieser sehenswerten akrobatischen Choreografien ist das ausdrucksstarke, wortlose Duett zwischen Hochseil und Boden von Antigone und ihrem Spiegel nach der Vollstreckung von Kreons Urteil. Diesen doppelten Boden als kommentierendes Element neben dem Chor zu installieren, erweist sich als bestechende Idee und rundet eine insgesamt sehr sehenswerte Inszenierung auf spektakuläre Weise ab.