Ars tremonia

Szenische Forschungsreisen

image_print

Fast schon traditionell zu Beginn des Jahres öffnete Jens Heitjohann, der künstlerische Leiter der freien Spielstätte in der Dortmunder Nordstadt, nun bereits zum dritten Mal seine Pforten für eine unterhaltsame und spannende Werkschau von Studierenden des Masterstudiengangs „Szenische Forschung“ an der Ruhr-Universität Bochum. Es herrscht fast so etwas wie Jahrmarktsatmosphäre, denn nicht nur die Bühne wird bespielt, sondern ebenso das Foyer und ein Studio. Zum Auftakt werden am ersten Tag insgesamt neun Projekte vorgestellt. Hans-Peter Krüger besuchte am 24. Januar 2025 den ersten Tag, Michael Lemken berichtet über den zweiten Tag.

Es gibt Installationen, Performances und szenische Anordnungen, in denen es darum geht – wie es auf der Website des Studiengangs heißt – „mittels spielerischer, spekulativer oder subversiver Entwürfe Aspekte der Wirklichkeit zu entdecken und erfahrbar zu machen, die dem Alltag und den Wissenschaften gleichermaßen verborgen bleiben.“ Herausgekommen sind dabei neun unterhaltsame, spannende und auch verstörende Ausflüge in die vielfältige Landschaft performativer Künste: szenische Forschungsreisen, die formal und inhaltlich die Grenzen traditioneller Theaterformen bisweilen auf überraschend kurzweilige Weise überschreiten.

Persönliche und partizipative Projekte

Fast schon programmatisch schreibt Carolin Pfänder gleich zu Beginn ihrer etwa 60-minütigen Performance „Comfort Binge Watching mit Allerliebst“ mittels Overheadprojektor an die Wand: „Ich darf nicht Theater spielen.“ Was folgt, ist eine sehr persönliche, autobiografische Auseinandersetzung der Künstlerin mit Versagensängsten, Furcht vor Fehlern und seelischer Überforderung. Aber C., wie sie sich kurz nennt, hat eine Strategie dagegen: Sie schaut Serien, die, immer nach dem gleichen Muster produziert, ein verlässlicher Anker für das angeschlagene Seelenschiff sind und die Hoffnung auf die heilende Wirkung von Wiederholungen nähren.

Unterfüttert wird diese Performance durch Filmausschnitte von Serien wie „Gilmore Girls“, „Friends“ oder „Big Bang Theory“ sowie durch wissenschaftliche und literarische Texte, die an die Wand projiziert werden. Am Ende formuliert C. schließlich auch so etwas wie eine Sehnsucht: „Wenn es ein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit gäbe, wäre das genau das, was ich will im Leben.“ Eine nachdenkliche, in seiner Dichte manchmal überfordernde, aber doch nie langweilige, verstörende szenische Forschung zum Thema Depression, an deren Ende sie voller Zuversicht an die Wand schreibt: „Ich darf Theater machen.“

Experimantal Toppings:  Alina Mathiak in ihrem Versuch, in die Welt ihres Vaters einzutauchen.
Experimental Toppings: Alina Mathiak in ihrem Versuch, in die Welt ihres Vaters einzutauchen.

Im Foyer sind die Grenzen zwischen Bühne und Publikum aufgelöst. Mitmachen ist angesagt. In Judith Grytzkas partizipativer Installation „Die Ordnung der Dinge“ stehen die Besucher anfangs vor einer Kiste mit unzähligen kleinen Dingen. Daneben stehen zwei leere Setzkästen mit der Anweisung: „Bitte sortieren.“ Es dauert nicht lange, und alle legen tatsächlich Hand an, suchen und verteilen, diskutieren Ordnungsprinzipien, um dann festzustellen, dass Ordnung für jeden etwas anderes ist.

Zum Sortiermaterial gehört auch eine Fotobox mit unzähligen Bildern von mehr oder weniger aufgeräumten Regalen, Schubladen und Schränken, die nach unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen an die Wand geheftet, dann wieder neu aussortiert und umgruppiert werden. Einmal angefangen, fällt es einigen schwer, sich loszureißen von der Ordnungsarbeit an der Installation, die, wie ein Besucher treffend formuliert, einen „verführerischen Suchtcharakter“ in sich trägt.

Ungewöhnliche Performances und Installationen

Alina Mathiak und Melina Hylla haben eine Ecke des Foyers mit einem glitzernden Herzchenvorhang eingerichtet für eine Art Sprechstunde in Sachen Liebe. „Let’s talk about love“ heißt ihr Projekt, in dem sie in Einzelgesprächen Menschen bitten, ihre Gedanken, Fragen und Geschichten zu diesem Herzensthema zu formulieren. Und wenn sie keine Worte finden, können sie auch singen, Geräusche und Töne einsetzen oder einfach schweigen. All das wird aufgenommen und in einer Art Archiv zum Nachhören über die Liebe gespeichert, denn an Liebe, da sind sich die beiden Performerinnen sicher, mangelt es in der Welt.

Inspiriert von Mark Rothkos Gemälde „Orange Red Yellow“ hat Nooshin Seifi im Studio 1 einen Tisch mit orangenen und gelben Tischdecken geschmückt. Rote Servietten verbergen noch das Geschirr. Es wird aufgefordert, Platz zu nehmen und die Servietten zu entfernen. Zum Vorschein kommen nicht etwa gleiche Teller und Löffel, sondern sehr verschiedene Behältnisse und Essbestecke.

Dann wird natürlich gelb-orangefarbene Suppe aus Kürbis und Möhren angeboten, und nacheinander erfolgen die Anweisungen: „Find a solution“, „Never give up“, „It’s never too late“. Eine Irritation gewohnter Vorstellungen setzt ein: Ein leicht verschobenes Setting lässt den üblichen Alltag in einem anderen Licht erscheinen. Die Auseinandersetzung mit ungewohnten Handgriffen lenkt den Gedankenstrom in neue Erzählperspektiven. Das Ergebnis ist eine lebhafte Kommunikation, wie man sie sich nach einer spannenden Theaterinszenierung wünscht.

Dzenny Samardzic nimmt uns mit in ein aus Kinderbettwäsche gestaltetes Märchenerzähler-Zelt. In ihrer Performance „Enti, Erna, Wummi & Co“ geht es um Kuscheltiere. Jeder Besucher darf sich aus einem großen Haufen eines aussuchen, bevor er auf weichen Kissen im Zelt Platz nimmt, um in anheimelnder Atmosphäre Geschichten zu hören, die von einem alten Cassettenrecorder abgespielt werden. Das unterstützt den märchenhaft-nostalgischen Charakter und bietet eine wunderbar ruhige, meditative Viertelstunde, in der die Erinnerungen an die eigene Kindheit und die damit verbundenen Gefühle lebendig werden.

„Zutun“ nennt F*Kemmether ihre aktiv herausfordernde Installation. Einzeln darf der Neugierige in ein kleines Versuchslabor eintreten, wo er aufgefordert wird, Reis, Haferflocken oder Leinsamen umzufüllen – aus Tüten in Gläser oder Plastikbehälter. Vor allem Aufmerksamkeit wird verlangt – nur nichts verschütten! Es geht um Sorgfalt, ruhige Planung und Genauigkeit und letztlich darum, mit den Kräften zu haushalten, was in einer allzu hektischen Welt oft vernachlässigt wird.

2026, so verspricht es Jens Heitjohann in seiner Eröffnungsrede, sollen die „Experimental Toppings“ wieder das Jahr im Theater im Depot eröffnen.