Ars tremonia

Mädchenschule – eine subtile Gratwanderung

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Ein Schauspiel von Nona Fernandéz in der deutschsprachigen Erstaufführung übersetzt von Friederike von Criegern.

Der erste Akt wirft den Zuschauer direkt hinein in ein Problem, das er sich allerdings selbst erarbeiten muss, was es ist und wo. Aus dem Off sind spanische Worte zu hören, der Raum ist also die spanische Welt, nur die ist sehr groß … die vier Personen, als Film präsentiert, sind offensichtlich zu Hause, gegen Abend, zwei „Mädels“ und zwei Männer … eine gleichgeschlechtliche Ehe? Spanien? Nach Franco? Dazu passen aber die zu verstehenden Wortfetzen nicht, hier sind ehemalige Lateinschüler oder regelmäßige Spanienurlauber etwas im Vorteil. Die Reaktion der Erwachsenen zeigt urplötzlich doch einen Hinweis auf die Zeit, 1980er Jahre und den Ort … der Ort des Geisterhauses, Allende, Chile … die Stimme aus dem Off, es muss zur Zeit von Pinochet sein.

Es kann nicht Spanien sein, weil auch das Stück nicht europäisch auf einen einstürmt.

Die Familie ist eine klassische, mit Mann, Mutter und zwei Töchtern, die einen Geflüchteten bei sich aufgenommen haben. Nur der Geheimdienst meldet sich und droht. Also schützt man die Familie, denn die Töchter werden zuerst in ihr Zimmer geschickt, wo sie sich verstecken sollen.

Es fällt ein Schuss und die Kamera nimmt die Position der Seele ein und entflieht der Erde.

Die Szene wechselt brutal, während man noch den ersten Akt verarbeitet. Aber man ist derart gefangen, dass man umschaltet, man will wissen, was passiert … und vielleicht kommt die Auflösung ja gleich …

Chile, 9/11 1973 putschte das Militär gegen den demokratisch gewählten Salvador Allende, der das Land aus dem kolonialen Griff der USA und Europas herausführen wollte. Die USA boykottierten Chile, ein zweites Kuba befürchtend und destabilisierten das Land, nachdem Allende Schlüsselindustrien, Bergbau, Banken, Versicherungen und die Kupferminen verstaatlichte … es ging wie immer um US-Investitionen, wie damals in Kuba. Aus Chile wurde ein neoliberales Musterland gemacht, mit anderen Worten, die US pervertierte Bronzezeitwirtschaft radikal durchgesetzt, alles, inklusive der Grundversorgung, z.B. mit Wasser, ist privatisiert.

Der Lehrer telefoniert, sein Mobil benutzend, wirkt zum Bersten gestresst und geht hektisch, immer wieder betonend, dass er sich im Griff habe, hin und her. Er hatte seine Psychopharmaka selbst abgesetzt, um wieder normal leben zu können.
Er hört eine Stimme aus der Wand und kurz darauf steht Maldonado vor ihm. Sie taxieren sich Gegenseitig mit größtem Misstrauen aus unterschiedlichen Gründen. Es braucht einige Zeit, bis dass sie einen Nenner erreichen. Der wieder unausbalanciert wird, als zwei weitere Personen aus dem Loch in Wand hervorkriechen … Riquelme und die stumme Fuenzalida, die alles, was sie zu fragen oder zu sagen hat, aufschreibt und dabei zusehends rasender schreibt … es kulminiert in einem ersten Wort, das sie wieder spricht.

Die drei und weitere Companieras befinden sich seit Oktober in ihrem Versteck und realisieren, dass sie ihre Abschlussprüfungen verpasst haben …
Dem Zuschauer schwant, dass die drei nicht im Oktober des gleichen, aktuellen, Jahres im Versteck verschwanden. Oder ob der Lehrer ohne seine Medikamente gerade eine Psychose erlebt … so reagieren aber auch die drei SchülerInnenprotestler. Sie haben zudem aufgrund des Erlebten eine Paranoia entwickelt, die sich in gelegentlich komischen, Lacher erzeugenden, Situationen zeigt … wie auf das Mobil des Lehrers, das für eine Bombe gehalten wird …
Das die geflüchteten Schülerinnen 1985 in dem Versteck verschwanden, wird nach Fuenzalida erstem Wort und der folgenden Beichte ihres Lebens nach den Ereignissen, die zur Flucht zwangen, berichtet.

Im Zuschauer, der gebannt ist, in die Geschichte tief hineingezogen wurde, entsteht ein Konflikt … hat der Lehrer halluziniert, weil er seine Medikamente abgesetzt hat, oder wie haben die Companieras in ihrem Versteck über 30 Jahre überleben können?

Das Stück bezieht sich auf die 1985 verstärkten Schülerproteste gegen General Pinochet im Jahre 1985 und die Folterungen des Regimes, die auch in der von dem Deutschen Evangelikalen, Paul Schäfer, in Chile 1961 gegründeten Sektengemeinschaft, der Colonia Dignidad, durchgeführt wurden … Neben diesen Menschenrechtsverletzungen und Beteiligungen an Staatsmorden, beging Schäfer auch massiv Kindesmissbrauch.

Nona Fernandéz gelingt mit dem Stück eine subtile Gratwanderung zwischen Wahnsinn, Psychosen, möglicher Realität und fantasievoller Sciencefiction. Es spiegelt die Situation derjenigen ansatzweise wider, die in die Mühlen eines terroristischen, diktatorischen Regimes geraten sind, Folter und Brutalität erleben müssen oder mussten.

Ein Stück, das uns vor Augen führt, wie privilegiert wir hier in Deutschland leben und doch bedroht sind durch eine populistische Sekte und querschlagende Sozialverweigerer, besonders weil auch wir in Deutschland immer mehr die Destabilisierung des Systems durch die Brutalität des US-Kapitalismus, besonders seit 2007/08, jedes Jahr ein Stück mehr erleben.

Mädchenschule ist eine faszinierende und fesselnde Inszenierung, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Denn nicht nur die Geschichte zieht einen in das Stück, sondern auch das Ensemble spielt fantastisch fesselnd … inklusive Situationskomik, die gelegentlich im Halse stecken bleibt.

Der Lehrer – Alexander Darkow, Maldonado – Nika Miskovic, Riquelme – Valentina Schüler, Fuenzalida – Linus Ebner, der gealterte Junge – das Ensemble
Regie – Anna Tenti, Bühne – Nane Thomas, Kostü, + Videokonzept – Lena Kremer, Musik – Tobias Hoeft, Dramaturgie – Sabine Reich, Regieassistenz – Christian Feras Kaddoura, Souflage – Violetta Ziegler

Nika Mišković, Valentina Schüler, Linus Ebner, Alexander Darkow (Foto: © Florian Dürkopp)
Nika Mišković, Valentina Schüler, Linus Ebner, Alexander Darkow (Foto: © Florian Dürkopp)