Der Jugendclub feiert Premiere im KJT
Drei graue Figuren schleichen auf der Bühne um einen Stuhlberg herum. Wie Schnecken tragen sie ihr Haus auf dem Rücken, terrassenförmige Wohn-Einheiten, die auf den ersten Blick wie eine schwere Last wirken, die sie aber andererseits ganz leicht, beinahe zärtlich vom Rücken lösen und nebeneinander stellen zu einer großen Einheit. Ein großes Haus steht vor uns, ein Betonklotz, könnte man sagen. Hunderte von Wohnungen unter einem Dach, sogenannter billiger Wohnraum, der vor allem in den siebziger Jahren in vielen Großstädten in den sozialen Brennpunkten hochgezogen wurde, nicht nur um die Wohnungsnot zu lindern, sondern auch um Menschen in der Hoffnung auf ein friedliches Miteinander zusammenzuführen. Ein sozialarchitektonisches Experiment mit zweifelhaftem Ausgang.
Die drei grauen Figuren geben diesem Klotz eine Stimme. Nach der gewaltfreien Aufbauphase treten sie dann doch noch den Stuhlberg um. Und schon in den ersten Minuten dieser bemerkenswerten und engagierten Inszenierung bekommen wir die beide Pole zu spüren, zwischen denen sich die Stimmung der Protagonisten bewegt: Zärtlichkeit und Wut. Ja, sie hassen und sie lieben ihn, ihren Betonklotz.

Foto: © Birgit Hupfeld
Jona Rauschs Debütstück „Betonklotz 2000“, welches für den Hans-Gratzer-Preis nominiert war, kam 2024 in Hannover zur Uraufführung und beschäftigt sich mit dem Leben und Wohnen in so einem Plattenbauareal, dem „Genickschutzviertel“, wie es an einer Stelle im Stück voller Ironie heißt. Aus der Sicht von vier jungen Leuten, die dort ihre Kindheit und Jugend verbringen, erzählt sie Geschichten, die sich nicht nur entlang der bekannten Themen wie Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum, Migration und Kriminalität bewegen, sondern auch erzählen von Geborgenheit, Sehnsüchten und Wünschen, von einem Alltag zwischen Aufstiegshoffnung und Abstiegsangst, von Fluchtgedanken und heimatlicher Verbundenheit.
Das Dortmunder Jugendclub-Ensemble hat das Personal des Originals um einige Spieler:innen aufgestockt. Diese Vielstimmigkeit kommt der Darstellung zugute, denn so gelingt ein differenzierter, abgewogener Einblick in Lebenswirklichkeit jenseits gängiger Vorurteile.
Die Inszenierung verortet die Geschichte sinnvollerweise in der eigenen Stadt. Der Betonklotz auf der der Bühne erinnert unmissverständlich an den „Hannibal“ in der Dortmunder Nordstadt, die seit Jahren als sogenanntes Problemviertel gilt – zu Unrecht sagen viele. Denn dieser Betonklotz ist nicht nur kalter Stein für die jugendlichen Bewohner. Er atmet und sie nehmen seinen Rhythmus auf, er erzählt und sie können ihn verstehen, er hört auch zu, er verzeiht und er erzieht, wie es an einer Stelle so schön heißt, „nach dem Laisser-faire-Prinzip“ und lässt sie im Klotz möglicherweise eine Freiheit verspüren, die sie in der Welt draußen nicht haben, weil die ihnen stattdessen oft den Prekariatsstempel aufdrückt und sie die Ungerechtigkeit der sozialen Schere fühlen lässt. Dieser mißtrauischen Welt der Betonköpfe setzen die jungen „Problemkinder“ ihr solidarisches Miteinander entgegen und nehmen sich das Recht von konkreten Utopien zu träumen.
Besonders gelungen wird dieser Gedanke umgesetzt in einer Choreographie, die das Ensemble erarbeitet hat, die fast beginnt wie ein höfischer Tanz, dann aber mündet in ein befreites Tanzen, Momente, in denen man eintaucht in eine Sehnsuchtswelt, die allzu oft umzingelt ist von vielerlei Nöten und Ängsten. Überhaupt ist die Gemeinsamkeit des Zusammenspiels eine große Stärke des Abends.
Auch ganz persönliche Geschichten werden gestreift, vom Mädchen, die als einzige die Zulassung zum Gymnasium bekommt und argwöhnisch begutachtet wird, die es aber trotzdem schafft ein Einser-Abitur zu machen, um dann als Studentin auf der Uni mit durchaus gemischten Gefühlen zu bemerken, dass der Klotz noch in ihr steckt.
Von der Frau, die hoffnungsvoll eine Beziehung eingeht zu einem Mathematiker und Philosophen, der als Fremdkörper in der sozialen Architektur des Klotzes aber so seine Probleme bekommt. Vom Jungen, der noch nie in Wien war, dorthin aber den Ort seiner Sehnsucht projiziert. Oder vom Jungen mit dem „Borderline-Dingsda“.
Mit all diesen Lebensblitzlichtern leuchtet die Inszenierung die Spanne aus zwischen Abgrund und Sehnsucht, zwischen Hass und Liebe.
„Ich habe dich vermisst“, sagt eine irgendwann zum Klotz. Und das klingt wie ein Signal, eine Aufforderung, fast sogar ein Aufbruch. Am Ende legen sie die Maskerade ab, die bunten Klamotten, die was hermachen sollen, was sie nicht sein wollen im schillernden Outfit, mit denen sie sich getarnt haben. Unter den gefakten Markenartikeln tragen alle die gleichen T-Shirts. Jetzt kommt der graue gewöhnliche Mensch zum Vorschein in all seiner mutigen Ehrlichkeit, sie raufen sich zusammen, schmiegen sich aneinander, blicken nach vorn, demonstrieren ihr Miteinander und stellen sich solidarisch der Zukunft.
Mit diesem eher hoffnungsvollen, gelungenen Schlusspunkt endet die Inszenierung, die die neun Schauspieler vom Jugendclub mit viel Engagement und Leidenschaft auf die Bühne gebracht haben.