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Das Vieh ist noch Natur – Woyzeck zum Spielzeitauftakt

Bunt, reduziert und mit SM-Anleihen – die Inszenierung von Georg Büchners „Woyzeck“ durch Jessica Weisskirchen setzt auf skurrile Einfälle und schräge Kostüme. Die Regisseurin rückt Nebenfiguren wie den Hauptmann und den Doktor stärker in den Mittelpunkt. Die Premiere war am 09. September 2022 im Studio des Schauspielhauses.

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Der Platz – Der Aufstieg führt zur Sprachlosigkeit

Am 30. Oktober 2021 feierte das Theaterstück „Der Platz“ seine Premiere im Schauspielhaus. Die Regisseurin und Intendantin Julia Wissert inszenierte den Roman von Annie Ernaux als Monologstück, das von sechs Schauspieler*innen getragen wurde.

Die Geschichte der Familie von Ernaux ist beinahe typisch und kam so ähnlich auch in meiner Familie vor. Mein Urgroßvater kam aus einer ländlichen Gegend in der Nähe von Posen und landete 1900 in Dortmund. Mein Großvater und Vater waren beide Bergleute, also Arbeiter, während ich den „Aufstieg“ Dank meines Studiums „geschafft“ habe. Bei Ernaux ging es ähnlich vonstatten, arbeitete der Großvater noch auf dem Land, begann ihr Vater in der Fabrik, um sich später eine Gaststätte samt Laden zuzulegen. Das war ein Aufstieg in die Mittelschicht.

Antje Prust, Linda Elsner, Raphael Westermeier, Lola Fuchs, Marlena Keil und Mervan Ürkmez (Foto: © Birgit Hupfeld)
Antje Prust, Linda Elsner, Raphael Westermeier, Lola Fuchs, Marlena Keil und Mervan Ürkmez (Foto: © Birgit Hupfeld)

Dennoch schien ihr Vater immer zwischen den beiden Klassen zu wandern. Einerseits fand er die Sprache der einfachen Leute negativ. „Für meinen Vater war das Patois etwas Altes, Hässliches, ein Zeichen gesellschaftlicher Unterlegenheit. Er war stolz darauf, es abgelegt zu haben.“

Seine Tochter, die Erzählerin schafft den Einstieg in das Bürgertum, in der andere Werte zählten. Damit hatte sie zunächst Schwierigkeiten. „Ebenso brauchte ich Jahre, bis ich die übertriebene Freundlichkeit ‚verstand‘, mit der gebildete Menschen etwas so Simples wie „guten Tag“ sagten.“

Doch je mehr sich die Tochter von ihren Eltern entfremdet, desto deutlicher wird der soziale Unterschied, zumal sie einen Mann aus dem Bildungsbürgertum geheiratet hatte „Wie sollte ein Mann, der ins Bildungsbürgertum hineingeboren worden war, mit einer ironischen Grundhaltung, sich in der Gesellschaft rechtschaffener Leute wohlfühlen, deren Liebenswürdigkeit, die er durchaus sah, in seinen Augen niemals das entscheidende Defizit wettmachen können, die Unfähigkeit, ein geistreiches Gespräch zu führen.“

Die Bühne war stark reduziert. Ein Gartenhäuschen als Reminiszenz an den Vater, der gerne im Garten gewerkelt hatte. Dazu viele Gartenutensilien aus Plastik. Am linken Rand stand ein Pult, auf dem die Musikerin houaïda passende Musik und Gesang beisteuerte. Auch wenn Antje Prust, Linda Elsner, Lola Fuchs, Marlena Keil, Mervan Ürkmez und Raphael Westermeier in ihren bunten Kostümen einen guten Job machten, eigentlich ist „Der Platz“ in dieser Form ein Monodrama, ein Einpersonenstück. Denn es berichtet eigentlich nur die Erzählerin und andere Figuren tauchen nicht auf. Das wäre sicherlich noch intensiver geworden und beispielsweise Marlena Keil hat dies bei „Die Erzählung der Magd Zerline“ von Hermann Broch bereits unter Beweis gestellt, das so etwas sehr gut funktioniert.

Mehr Informationen unter www.theaterdo.de

Im Strom der Gedanken – Das Mrs. Dalloway Prinzip / 4:48 Psychose

Mit „Das Mrs. Dalloway Prinzip“ von Virginia Woolf und „4:48 Psychose“ von Sarah Kane präsentierte das Schauspielhaus Dortmund am 25. September 2021 eine doppelte Premiere. Beide Stücke, die durch eine Pause getrennt waren, verband eine gemeinsame Ästhetik. Ein Premierenbericht …

Auch wenn beide Stücke zeitlich weit auseinanderliegen, Woolf schrieb „Mrs. Dalloway“ 1925 und „4:48 Psychose“ 1998/99 gibt es einiges, was beide verbindet. Beide Stücke sind von einer Frau geschrieben, beide Autorinnen kämpften gegen ihre psychischen Krankheiten und stellen eine Frau in den Mittelpunkt, auch wenn es bei „4:48 Psychose“ nicht explizit erwähnt wird, so ist der Text von Kane wohl aus eigenem Erleben geschrieben. In beiden Texten geht es auch um das gescheiterte Verhältnis zwischen Psychiater und Patienten, bei Sarah Kane steht das im Mittelpunkt des Stücks. Hinzu kommt noch, dass beide Texte dem Genre des „Stream of consciouness“ (Gedankenstroms) zuzuordnen sind. Bei dieser Literatur werden die Gedanken und Gefühle der handelnden Person beschrieben, wie sie aus ihnen hinauszufließen scheinen.

Szene aus "Das Mrs. Dalloway Prinzip": (v.l.n.r.) Raphael Westermeier, Linda Elsner, Bettina Engelhardt, Nika Mišković und Adi Hrustemović. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Szene aus „Das Mrs. Dalloway Prinzip“: (v.l.n.r.) Raphael Westermeier, Linda Elsner, Bettina Engelhardt, Nika Mišković und Adi Hrustemović. (Foto: © Birgit Hupfeld)

„Mrs. Dalloway“ spielt im England nach dem Ersten Weltkrieg und beschriebt zum einen eine Gruppe von Menschen aus der Oberschicht, die sich in eine neue Zeit zurechtfinden muss, sowie von Personen, die den Krieg zwar physisch, aber nicht psychisch überlebt haben. IM Mittelpunkt steht die Titelgeberin Clarissa Dalloway, die standesgemäß verheiratet war, aber immer noch Gefühle für den wiederkehrenden Peter Walsh zu haben scheint, der sich vor langer Zeit nicht getraut hatte, sie damals zu fragen. Clarissa erinnert sich zudem auch an eine kurze lesbische Episode. Der zweite Erzählstrang handelt von Septimus Warren Smith, der durch den Krieg schwer psychisch geschädigt wurde und sich letztlich umbringt, trotz der vergeblichen Bemühungen seiner behandelnden Ärzte.

Selen Kara legte den ersten Teil wie eine Art Schachpartie an. Die Erzählerin (Linda Elsner) bewegt die Figuren auf ihre jeweiligen Positionen und lässt die dann agieren. Dazu ist die Bühne (Lydia Merkel) samt Kostüme (Anna Maria Schorles) in schwarz-weiß gehalten, alles ist reduziert, nur ein Baum mit Schreibmaschinenseiten als Element. So ist der Fokus der Zuschauenden unweigerlich auf die Schauspielerinnen und Schauspieler gerichtet.

Für den zweiten Teil hat sich Kara einen weiteren Kniff ausgedacht. Kann man „4:48 Psychose“ auch als Monolog aufführen, so splittete die Regisseurin den Text über die sieben Akteurinnen und Akteure. Der Text ist sehr eindringlich und erzählt, dass die Autorin nur um 4:48 „wach“ ist, das heißt, wenn die Medikamente keine Wirkung mehr haben. Dann wird der Geist klar, aber auch der Wahnsinn hält Einzug. Der Text liest sich stellenweise wie eine Anklage gegen eine Psychiatrie, die versucht hat, den Patienten nur mittels chemischen Keulen unter Kontrolle zu bekommen und weniger den Menschen hinter der Krankheit zu sehen. Somit ist das Schicksal der Erzählerin aus „4:48 Psychose“ ähnlich wie dem von Septimus aus dem ersten Teil. „Sie haben eine glänzende Karriere vor sich“, sagt Dr. Bradshow am Ende zu Septimus, anscheinend ohne zu ahnen wie sich sein Patient fühlt. Und der Psychiater fragt bei Sarah Kane: „Sie haben sehr viele Freunde. Was geben Sie Ihren Freunden, dass sie so hilfsbereit sind?“

Auch wenn zwischen den beiden Stücken über 70 Jahre liegen, es gibt doch erstaunliche Gemeinsamkeiten, die Regisseurin Selen Kara sauber herausarbeitet. Dabei hilft ihr das Ensemble, bestehend aus Linda Elsner, Bettina Engelhardt, Christopher Heisler, Adi Hrustemović, Nika Mišković, Antje Prust und Raphael Westermeier. Ein sehr intensiver Theaterabend, der sich auf alle Fälle lohnt.

Weitere Termine unter www.theaterdo.de

Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit

Happy, we lived on a planet – Die erste Premiere der Saison

Ausgangspunkt des neu entwickelten Stücks ist Tag X: Vor ca. 65 Millionen Jahren sind die Dinosaurier, die fast 200 Millionen Jahre die dominierende Spezies auf dem Planeten waren, in kürzester Zeit ausgestorben.

Das eigene Ableben wird gerne verdrängt. Zu sehr stört das Denken daran unser Streben nach Gesundheit und Lebensfreude. Wir wissen zwar, dass wir sterben. Aber das passiert irgendwann in der Zukunft, sind wir uns voll im prallen Leben Stehenden sicher. In früheren Zeiten ohne unsere medizinischen Fortschritte war der Tod, das Sterben ein bewusster Teil unseres Lebens und Denken.

Das Ensemble von "Happy, we lived on a planet" Foto: © Hans Jürgen Landes
Das Ensemble von „Happy, we lived on a planet“ Foto: © Hans Jürgen Landes

Egal, ob das Dahinscheiden heute noch kommt oder erst im hohen Alter, mit seiner ersten Regiearbeit möchte Mervan Ürkmez uns vorbereiten auf das Unausweichliche. Sinnlich-poetisch sucht das junge Mitglied des Dortmunder Schauspielensembles in seinem Stück, einem dramatischen Requiem, nach der Kraft, die uns die Begegnung mit dem Exitus, unserem, geben kann.

„Ich stelle mir vor, ich bin ein Dinosaurier“, beginnt Oskar Westermeier. „Ich und alle meine Artgenossen sind, nachdem wir 200 Millionen Jahre lang die dominierende Spezies auf dem Planeten waren, innerhalb eines Nachmittags ausgestorben. Einfach so. Zufällig steuert ein Komet auf die Erde zu und zufällig schlägt er ein. Zufällig passiert das im heutigen Yucatán, Mexiko, zufällig ist es zwölf Uhr mittags und ich, viele tausende Kilometer entfernt, sagen wir hier, in Dortmund, bekomme nichts davon mit. Eigentlich hat es nichts mit mir zu tun. Kurz darauf bebt die Erde, der Himmel verdunkelt sich, Glaskugeln fallen herab und eine riesige Flutwelle reißt mich weg. Einfach so. Wir können nicht wissen, ob es wirklich genau so passiert ist.“

Von jetzt an könnte richtig dystopisch werden … zumindest suggeriert uns dies der Monolog von Westermeier auf der schwarzen Bühne.

Fünf Menschen unterschiedlichen Alters, personifiziert durch Ekkehard Freye, Nika Mišković, Raphael Westermeier, Renate Henze und im Wechsel Anton oder Oskar Westermeier, setzen sich mit der Vergänglichkeit auseinander.

Ein Komet ist eingeschlagen und hat eine Reihe von Ereignissen ausgelöst, die zum Ende der Dinosaurier, ihrer Auslöschung geführt haben. Und doch sind sie allgegenwärtig: Hier sind ihre Fußspuren im Boden, ihre versteinerten Überreste, Knochen, Nester, Eier, dort ihre Abbilder auf Schultüten von Kindern.

Wir finden die Dinosaurier wieder in den Vögeln, die über uns fliegen und den Schildkröten, die zu unseren Füßen krabbeln. Wir finden sie in uns. Denn Dinos und Säugetiere haben einen gemeinsamen Vorfahren.

In „Happy, we lived on a Planet“ beobachten wir fünf Menschen bei der Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit. Als Metapher schwebt der Komet über ihnen, das Ende immer projizierend. Doch muss das nichts Trauriges sein. Die befürchtete Dystopie bleibt aus. Im Gegenteil. In den alltäglichen Situationen, Gesprächen, Briefen, Telefonaten ist das Leben. Ein Spiegel unseres alltäglichen Lebens. Otto Normalverbraucher, nicht der Held aus griechischen Dramen oder nordischen oder anderen Heldendramen.

Was bleibt also, wenn etwas oder jemand geht? Ist ein Mensch, der nicht mehr Teil unseres Lebens ist, wirklich weg, wie in aus den Augen aus dem Sinn? Sind die Momente, die verblassen, wirklich aus der Welt? Endet etwas oder transformiert es sich in etwas anderes?

Über Endlichkeit zu sprechen, über die Endlichkeit von Beziehungen, die Endlichkeit des eigenen Lebens, die Endlichkeit des Lebens geliebter Menschen, die Endlichkeit von Tieren oder Pflanzen und die Endlichkeit der Menschheit, löst in der modernen westlichen kommerzorientierten Welt meist Unwohlsein aus.

Die zu Beginn befürchtete Dystopie bleibt aus, weil das Stück versöhnlicher mit der Frage nach dem Ende umgeht und sich mehr auf das Leben als solches konzentriert.

Woher kommt aber die Angst vor dem Ende? Ensemblemitglied und Regisseur Mervan Ürkmez schafft mit dem künstlerischen Team von „Happy, we lived on a Planet“ einen Erfahrungsraum für eine sinnliche und vielschichtige Auseinandersetzung mit der Endlichkeit.

Für die Ausstattung ist Elizaweta Veprinskaja verantwortlich, für den Sound Andreas Niegl, Hannah Saar ist Dramaturgin der Produktion.

www.theaterdo.de und 0231/50-27222.

Die nächsten Termine sind: 7. Oktober (18 Uhr).