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Der Kirschgarten – Aus der Ordnung gefallen

Ein großes Ensemble-Stück im kleinen Studio. 10 Schauspieler und einen Musiker brachte Regisseur Sascha Hawemann in den „Kirschgarten“ von Anton Tschechov unter. Die Tragik-Komödie war die bitter-süße Kapitulation des Adels vor dem neu aufstrebenden Bürgertum. Ein Premierenbericht vom 29. Dezember 2017.

Wenig Platz fürs Publikum. Zwei Stuhlreihen vor Kopf, an der Seite nur eine. Selbst das Füße ausstrecken war nicht immer gefahrlos möglich, denn der kleine Gang wurde auch von den Schauspielern benutzt. Aber gerade diese Nähe machte die Inszenierung von Havemann zu einem emotionalen Erlebnis.

In „Der Kirschgarten“ von Tschechow geht es um das Gut und den Kirschgarten von Ljubow Andrejewka Ranjewskaja, die dort mit ihrem Bruder Gajew, ihrer Tochter Anja und ihrer Adoptivtochter Warja lebt. Gerade aus dem Ausland wiedergekommen, sind sie zwar völlig überschuldet, aber vor allem Ljubow Andrejewka ist noch dem aristokratischen Denken verfallen. Daher lehnt sie auch das Angebot vom Kaufmann Lopachin ab, den Kirschgarten zu parzellieren und zu verpachten. Am Ende verliert sie Gut und Garten.

Warja (Bettina Lieder) ist reifer als das müde "Seelchen" Anja (Merle Wasmuth) kann aber den Verkauf von Gut und Garten nicht verhindern. (Foto: © Brigit Hupfeld)
Warja (Bettina Lieder) ist reifer als das müde „Seelchen“ Anja (Merle Wasmuth) kann aber den Verkauf von Gut und Garten nicht verhindern. (Foto: © Brigit Hupfeld)

1861 wurde die Leibeigenschaft in Russland abgeschafft. Die alten traditionellen Werte lebten aber in den Köpfen weiter. Sehr gut zu sehen in den Figur von Ljubow Andrejewka. Friederike Tiefenbacher spielte die weibliche Hauptfigur als verletzliche Frau, die zwar immer wieder versucht ihren Stolz zu bewahren, aber am Ende vor den Trümmern ihrer Existenz steht. Ljubow Andrejewka hatte es nie verstanden, dass die Macht vom Adel zum Geldadel wechselte. Vom gleichen Schlag ist ihr Bruder Gajew (Ekkehard Freye). Er scheitert in seinen Versuchen, Geld aufzutreiben, um das Gut zu retten.

Die andere Figur, die den Zeitenwandel versucht zu negieren, ist der alte Diener Firs (Uwe Schmieder). Für Firs ist die neue Ordnung nichts. „Hie Bauern, hie Herren – man wusste, woran man war. Jetzt läuft alles durcheinander, kein Mensch kennt sich mehr aus.“ Am Ende des Stückes bleibt er einsam und vergessen im verlassenen Gutshaus.

Die neue Zeit repräsentiert niemand so gut wie der Kaufmann Lopachin. Eine Paraderolle für Frank Genser, der dem Stück eindeutig seinen Stempel aufdrückte. „Dasselbe Gut hab‘ ich gekauft, auf dem mein Vater und Großvater leibeigene Knechte waren, die nicht mal die herrschaftliche Küche betreten durften“, sagt er als Lopachin. Eines der zentralen Sätze im Stück. Doch Lopachin fehlt etwas, die Liebe. Er liebt Warja (Bettina Lieder), doch er ist vor lauter Geld verdienen unfähig, seine Gefühle auszudrücken. Warja ist zwar die realistischere der beiden Töchter und wurde von Lieder auch mit einer gehörigen Portion Energie und Entschlossenheit gespielt.

Auch dem nächsten Liebespaar ist kein glückliches Ende beschieden. Anja (bezaubernd Merle Wasmuth) ist ein sensibles Mädchen, das den ewigen Studenten Trofimov liebt. Trofimov, gespielt von Björn Gabriel im Rudi-Dutschke-Look), kann sehr gute Reden halten, ist aber unfähig zu lieben. Von daher trennen sich ihre Wege am Schluss.

Das Stück ist in den Nebenrollen sehr gut besetzt. Carline Hanke als überdrehte Gouvernante Charlotta und Marlena Keil als Dunjascha. Dunjascha teilt das Schicksal von Anja und Warja, denn auch aus ihrer Liebe wird nichts. Jascha (schön geckenhaft gespielt von Raafat Daboul) verschmäht sie, und den Pechvogel Semjon (auch Uwe Schmieder) will sie nicht.

Eine wichtige Rolle spielte Alexander Xell Dafov als Musiker, der die Inszenierung klanglich begleitete. Von Russen-Pop über russischer Sakralmusik und 80er Jahre Reminiszenzen „The final Countdown“ bis hin zu elektronischer Partymusik reichte das Repertoire.

Nach „Eine Familie“ im großen Haus und „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ im Megastore war es die erste Arbeit Hawemanns im Studio. Bühnenbildner Wolf Gutjahr nutzte den verfügbaren Raum optimal aus. Durch die Nähe zum Publikum war die Inszenierung sehr intensiv, vor allem im zweiten Teil, als die Komödie sich in eine Tragödie wandelte. Emotion pur – Dank eines engagierten und spielfreudigen Ensembles mit Frank Genser als Kirsche auf der Sahne.

 

Infos und Karten unter www.theaterdo.de

 

Im Teufelskreis der Brandstifter

Nach fast zwei Jahren konnte das Schauspiel Dortmund endlich die Spielzeit 2017/2018 mit der Premiere von „Biedermann und die Brandstifter / Fahrenheit 451“ wieder an alter Wirkungsstätte am Hiltropwall eröffnen. Aber nicht traditionell unter der Regie des Intendanten Kay Voges, sondern dieser „Doppelpack“ wurde mit einer modernen Inszenierung von Gordon Kämmerer geschnürt.

Drei Personen aus der „Fahrenheit 451“ ( von Ray Bradbury) stehen auf der Bühne. Clarisse McClellan (Bettina Lieder), Mildred Montag (Merle Wasmuth) und Feuerwehrmann Guy Montag (Uwe Schmieder). Sie werden mit der Hebebühne nach oben transportiert. Eine erste Verbindung zu dem folgenen Drama „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch.

Familie Biedermann beim gemeinsamen fröhlichen Essen (v.l.n.r.) Ekkehard Freye, Frauke Becker und Alexandra Sinelnikova. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Familie Biedermann beim gemeinsamen fröhlichen Essen (v.l.n.r.) Ekkehard Freye, Frauke Becker und
Alexandra Sinelnikova. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Diese Aussage begründete Karl Popper in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Max Frisch exerziert dies in „Biedermann und die Brandstifter“ durch. Bühnenbildner Matthias Koch präsentiert eine mintfarbene, sterile Behausung der Familie von Gottlieb Biedermann (Ekkehard Freye). Das einzige „kuschelige“ Element ist ein riesiger Plüschbär, an dem sich die verstört wirkende Tochter Anna (Frauke Becker) vertrauen und Wärme suchend klammert, die sie in der „Keimzelle der Gesellschaft“, ihrer Familie, nicht findet. Seine Frau Babette (Alexandra Sinelnikova) ist scheinbar lebensmüde.

Der Regisseur benutzt ähnlich wie Kay Voges beim „Goldenen Zeitalter“ das Stilmittel ständiger Wiederholungen (Loops) immer alltäglichen Leben. Roboterhaft mechanisch bewegen sich die drei Schauspieler ohne zu sprechen. In das Geschehen platzt der angeblich Obdachlose – in schwarz gekleidete Ringer – Josef Schmitz (Björn Gabriel) und später sein Freund Wilhelm Maria Eisenring (Max Thommes). Familie Biedermann bietet ihnen trotz unguter Gefühle eine Unterkunft auf dem Dachboden. Trotz anfänglich markiger Worte wird Gottlieb immer mehr zu einem „Versteher“ und lässt noch jede fadenscheinige Ausrede gelten. Denn „die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt niemand,“ so Schmitz. Obwohl genügend Warnungen (Sprechchor) herausgegeben werden.

Am Ende siegt die Intoleranz und Biedermann bezahlt seine native Toleranz und verschwindet in der Versenkung.

Der Abend geht fließend und konsequent zu „Fahrenheit 451“ über. In Bradburys dystopischer Geschichte wurde die Intoleranz institutionalisiert. Um zu verhindern, dass irgendwelche Bücher Menschen verletzen oder auf dumme Ideen bringen könnten, hat man sie gleich verboten. Um sicher zugehen, verbrennt man sie, wenn man ihrer habhaft werden kann. Dies macht die Feuerwehr. Im Original heißen sie „fire-men“, was man auch als Brandstifter übersetzen kann und so besteht die Verbindung zum ersten Stück.

Clarissa McClellan (Bettina Lieder) zeigt Guy Montag (Uwe Schmieder) die Poesie der Natur. (Foto. © Birgit Hupfeld)
Clarissa McClellan (Bettina Lieder) zeigt Guy Montag (Uwe Schmieder) die Poesie der Natur. (Foto. © Birgit Hupfeld)

In „Fahrenheit 451“ trifft der Feuerwehrmann Guy Montag auf die junge Nachbarin Clarisse McClellan. Clarisse will Guy von der Schönheit der Natur und der Bedeutung von Worten überzeugen. Diese Welt wird im Nieselregen berührend von Bettina Lieder und Uwe Schmieder dargestellt. Montags Frau Mildred (Merle Wasmuth) dagegen ist ein typisches Exemplar dieser Gesellschaft. Als kleiner Gag bringt Kämmerer die „Biedermanns“ als Soap auf die Riesenleinwand. Der dramatische Höhe – und Wendepunkt ist mit beeindruckendem Videohintergrund ist die Stelle, als Guy bei einem Einsatz erleben muss, dass Alice Hudson (Alexandra Sinelnikova) mit ihren Büchern zusammen verbrannt wird. Er kann so nicht weiter machen. Sein Vorgesetzter Captain Beatty, wohl nicht zufällig gespielt von Björn Gabriel, dem Brandstifter aus dem „Biedermann“, versucht ihn zu beschwichtigen. Die Verbindung beider Stücke wird offensichtlich. Eine Gruppe von Dissidenten konnte fliehen und versucht, die Gedanken der verbrannten Bücher großer Denker im Kopf zu behalten. Sie werden auf der Bühne von den einzelnen Mitgliedern des Sprechchors verkörpert. Der Dortmunder Sprechchor hat wieder eine wichtige Funktion als mahnende stimme des Gewissens. Nach der Zerstörung ihrer ehemaligen Heimatstadt wollen etwas Neues aus der „alten Asche“ aufbauen. Muss es immer so weit kommen?

Ein großer Dank geht an alle Schauspieler, aber vor allem an Uwe Schmieder, der Guy Montag in einer beeindruckenden Weise spielt und dabei die Würde und Verletzlichkeit des Menschen gekonnt darstellt.

Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit gibt es nicht geschenkt. Man muss sie sich täglich erkämpfen. Allzu blinde Toleranz ist hier ebenso Fehl am Platz wie bedingungsloser Konsumfetischismus und Berieselung durch Fernsehen oder Smartphone. Ein Theaterabend, der dem Publikum viel zum Nachdenken mit nach Hause gibt.

Informationen zu weiteren Aufführungsterminen erhalten sie wie immer unter: www.theaterdo.de

Digitale Drecksarbeit für Cleanliness

[fruitful_alert type=“alert-success“]So sehr sich Maggy (Marle Wasmuth) auch vor dem digitalen Schmutz schützen möchte, die Facebook-Gärtner (Dortmunder Sprechchor) sind unerbittlich. (Foto: © Birgit Hupfeld)[/fruitful_alert]

Im Megastore hatte am Samstag, den 03.06.2017 „Nach Manila“ von der Gruppe Laokoon unter der Regie von Moritz Riesewieck seine Uraufführung. Die Gruppe hat sich in den letzten Jahren intensiv mit den sogenannten „Clickarbeitern“ in der 20 Millionen Metropole Manila (Philippinen) beschäftigt und sie auch besuchte.

Sie arbeiten Stunden von Manilas Zentrum entfernt in sauberen, abgeschirmten Großraumbüros in Computerarbeits-Boxen für Outsourcingfirmen im Auftrag eines großen Konzern im Bereich soziale Medien (Facebook). Manila heißt übrigens „Hier gibt es Nilad. Nilad ist eine weißblütige Mangrovenpflanze. Durch die Urbanisierung von Manila ist sie aber im Stadtgebiet verschwunden.

Ähnlich wie die Mangrovenpflanze muss auch der Schmutz aus den sozialen Medien verschwinden. Dafür sind die „Clickarbeiter“ da. Ihr Auftrag ist es, die sozialen Netzwerke wie Instagram, YouTube und andere von brutalen Fotos oder Videos nach einem Kriterienkatalog Inhalten wie Terror, ,Kinderpornografie, Snuff-Videos und anderes als „Content Moderators“ zu reinigen (cleanen). Das streng katholisch ausgerichtete Land bieten scheinbar gute Voraussetzungen für diese Tätigkeit. Präsident Duterte geht gerade in letzter Zeit mit äußerster Härte auch gegen kleine Dealer und ihre Klientel vor. Er schreckt auch nicht davor zurück, sie lynchen zu lassen. Das Motto in den Philippinen lautet: „Cleanliness is next to Godliness“. Die zumeist sehr jungen Menschen müssen nach kurzem Training in wenigen Sekunden entscheiden, „Delete“ oder „Ignore“ für die gezeigten Videos und Fotos.

Riesewieck stellt eine fiktive Autorin , gespielt von Caroline Hanke, mitten in einen auf der Bühne platzierten, recht opulenten Pflanzenwelt. Der „wilde Garten“ symbolisiert Facebook, dass wirkt, als wäre er sich selbst überlassen. Man sieht die Mauer darum nicht und wer im Hintergrund der Bestimmende ist. Der Sprechchor des Dortmunder Schauspiels durchquerten den „Garten“ als gleich gekleidete ordnende Gärtner. Die jungen weiblichen Theaterpartisanen verkörperten mit ihren weißen Kleidern Unschuld und Reinheit.

An den Wänden waren vier große Projektionsleinwände aufgestellt. Das Publikum nimmt mitten auf der Bühne auf Palettenkisten oder Seitenbänken platz. Mitten drin statt nur dabei. Auf der Bühne sind unter anderem auch die blauen Computerarbeits-Boxen mit den Bildschirmen zu sehen. Drei Schauspieler schlüpfen als Erzähler in eine Rolle von unterschiedlichen Typen von „Clickarbeitern“. Sie wurden beim erzählen mit der Kamera begleitet.

Da ist Maggy, deren Geschichte erzählt und extensiv dargestellt von Merle Wasmuth wird. Ihr starker religiöser Hintergrund dient ihr als Hilfe oder Krücke im Umgang mit ihrer traumatisierenden Arbeit. Die dramatischen Folgen dieser Arbeit wird ohne das Publikum mit schlimmsten Gewaltbildern zu schocken, durch die Erzählungen und Darstellungen der Schauspieler eindringlich auf die Bühne gebracht. Maggy zum Beispiel leidet unter schlimmsten Waschzwang und verbraucht Unmengen an Parfüm, um den ekeligen Gestank ihrer Arbeit los zu werden. Sie nimmt nach ihrer Auffassung die „Sünden der Welt“ für alle anderen auf sich, ohne das das gesehen wird. Ein acht bis zwölfstündiger Arbeitstag, wenig Pause, knorpeliges Fleisch in Schaumstoff-Take-Away-Verpackung und Plastikbesteck. Trotz aller Bemühungen hat sie letztendlich keine Chance gegen die Schnecken, die

Nasrim, erzählt und gespielt von Björn Gabriel, ein ein Syrien stammender Clickarbeiter, hoffte auf gut Arbeitschancen und bessere Aussichten als in Europa. Wegen seiner arabischen Sprachkenntnisse hatte er gute Chancen auf den Job. In einer Mischung aus Entsetzten und schützenden Zynismus erzählt er davon, wie ihn die Bilder der Folgen explodierender Bomben eines Selbstmord-Attentätern ihn sexuell erregen und was diese kranke Lust für Folgen für seine Beziehung zu seiner Freundin hat. Er flüchtet sich in Zynismus.

Der dritte Clickarbeiter Dodong (Raafat Daboul), versucht verbissen und hartnäckig, den australischen Pornoring-Chef „Scully“ ausfindig zu machen. „Scully“ steht dabei einerseits für die reale Person Peter Scully, ein Australier, der seit 2015 auf den Philippinen verhaftet wurde, weil er mehrere Kinder missbraucht und die Taten gefilmt hat. Auch ein Mord wird ihm vorgeworfen. Mittlerweile droht im die Todesstrafe.

Aber „Scully“ kann auch für die anderen Personen stehen, die irgendwo auf der Welt Vergewaltigung und Mord filmen und ins Netz stellen. „Irgendwo ist irgendwann immer Nacht“, sagt die Autorin verzweifelt.

Facebook ist in der Diskussion. Beispielsweise soll „Hate Speech“ (Hassreden) stärker bekämpft werden. Doch das sind immer zwei Seiten der Medaillen. Ist es wirklich gut, alles „Schlechte“ fern zu halten anstatt sich mit den (wahren) Ursachen dieses „Bösen“ in und außerhalb von uns auseinander zu setzten. Und wer setzt welche Kriterien?

Im Herbst 2017 erscheint übrigens im dtv Verlag das Buch „Digitale Drecksarbeit. Wie uns Facebook und Co. Von dem Bösen erlösen“. Verfasser: Moritz Riesewieck.

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Die Unmöglichkeit trotz unbegrenzter Möglichkeiten

[fruitful_alert type=“alert-success“]Von diesem Tisch gehen die meisten Episoden aus. (Foto: © Birgit Hupfeld)[/fruitful_alert]

Was ist die Liebe in Zeiten von „alles kann – nichts muss“? Joël Pommerat zeigt uns in „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ die Schwierigkeiten von Menschen, sich aufeinander einzulassen, ihre Lebensentwürfe in Einklang zu bringen und ehrlich zu anderen zu sein. Die Premiere des Stückes unter der Regie von Paolo Magelli war am 08. April 2017 im Megastore.

er die Liebe. Doch keine Angst, der französische Autor hat keinen großen Eimer Zuckerguss parat, um ihn über das Publikum zu gießen. Kein triefender Kitsch á la „Tatsächlich… Liebe“, bei Pommerat geht es ums Eingemachte in den Beziehungen. Und die können durchaus komisch sein, wie bei einer geplanten Hochzeit, der bei die Braut kurz vorher feststellt, dass ihr Bräutigam doch auch ein Techtelmechtel mit jeder ihrer Schwestern hatte. Mehr ins Genre Horror/Psychodrama geht die Episode einer Babysitterin, die auf die nichtexistierenden Kinder eines Paares aufpassen muss. Natürlich machen sie die Babysitterin für das vermeintliche Verschwinden ihrer Kinder verantwortlich und dem Zuschauer ist es nicht deutlich: Ist das ein perfides Spiel, was die beiden treiben oder nicht.

Die Liebe hat bei Pommerat auch schmerzhafte Facetten: Einer Patientin einer Psychiatrie-Einrichtung soll überzeugt werden, ihr Kind abzutreiben, das sie mit einem anderen Patienten gezeugt hat und die Liebe eines Priesters zu einer Prostituierten steht unter einer harten Belastungsprobe.

In dem Stück stehen die Schauspieler im Mittelpunkt: Besonders wenn alle mehrere Rollen spielen. Die Premiere war auch die Premiere für Christian Freund, der ab der Spielzeit 2017/18 dem Ensemble angehören wird. Zusammen mit Ekkehard Freye, Frank Genser, Caroline Hanke, Marlena Keil, Sebastian Kuschmann, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth fügte sich Freund in das gut funktionierende Team ein, das neben Tempokomödie auch die leisen romantischen Töne traf.

Ein großes Lob gebührt dem Bühnenbildner Christoph Ernst. Der Anfang und das Ende war eine Reminiszenz an da Vincis Gemälde „Das letzte Abendmahl“ und der Tisch war ein zentraler Punkt in dem Stück. Rechts und links waren Treppen zu einer Balustrade und ein vergittertes „Dachgeschoss“ zu sehen. Styroporplatten mit sichtbaren Leimspuren und Plastikflaschen als Baluste erzeugten die Anmutung eines Rohbaus. Vielleicht ein Symbol für die Liebe, die immer Veränderungen unterworfen ist. Vielleicht ist es auch unmöglich, der Liebe eine bestimmte, dauerhafte Gestalt zu geben, ebenso unmöglich wie die Wiedervereinigung der beiden Koreas.

Weitere Termine und Karten unter www.theaterdo.de

 

Reflexion über Vergänglichkeit und die Schönheit des Moments

Hier trägt der Engel Schwarz: (v.l.n.r.) Frank Genser, Marcel Schaar (Fotograf), Uwe Schmieder, Julia Schubert, Ensemble- (Foto: ©Birgit Hupfeld)

Kann man einen Augenblick für die Ewigkeit festhalten? Diese Frage spielt nicht nur in Goethes Faust beim Packt mit dem Teufel (Mephisto) eine große Rolle. Die Fotografie versucht schon länger, besondere Momente des Lebens für die Zukunft einzufangen. Einerseits kann der Betrachter sich so vergangene Augenblicke wieder in das Gedächtnis rufen, führen uns aber auch die Vergänglichkeit unseres Lebens und die Relativität von Raum und Zeit vor Augen.

Schauspielintendant Kay Voges, drei Dramaturgen und sein gesamtes Ensemble haben zusammen mit dem Kunstfotografen Marcel Schaar versucht, sich der Thematik durch die Verbindung von Fotografie und Theater zu nähern. Am Samstag, den 11.02.02017 hatte im Megastore das Theater-Abenteuer „hell / ein Augenblick“ Premiere.

Wohl einmalig in der Theatergeschichte lichtet ein Fotograf während der Vorstellung live auf der dunklen Bühne ein Motiv ab, das dann direkt in den Zuschauerraum projiziert wird. Helligkeit und Dunkelheit tauschen ihre Plätze. Die Bühne wird zu einer Dunkelkammer, die nur ab und zu durch das Blitzlicht des Fotografen für eine 1/50 Sekunden durchzuckt. Insgesamt etwa 100 mal am Abend.

Zur Erläuterung: Auf der Bühne stehen an den Seiten zwei große Leinwände und zwei Minni-Flutlichtanlagen. In der Mitte befindet sich im Hintergrund eine Art weiße „Magic-Box“ ,wo der Fotograf als „Meister des Augenblicks“ Schauspieler in speziellen Momenten ablichtet. Diese werden als schwarz-weiß Bilder auf die großen Leinwände projiziert. Diese Reduktion verlangt von den Schauspieler/innen viel Mut, denn sie sind es normalerweise gewohnt, ihre Körper deutlich sichtbar dem Publikum zu präsentieren. Die entstehenden Bilder sind berührend ehrlich und zeigen die kleinste Poren im Gesicht und Körper.

Alles fließt, alles steuert der Blitz“ ,sagt Heraklit. So beginnt der Abend mit einer philosophische Abhandlung aus dem „Baum des Lebens“ (Rabbi Isaak, Luria, um 1590) erzählt von Friederike Tiefenbacher.. Es geht darin um die Themen Leben und Licht, Raum und Zeit. Die Schauspieler/innen befinden sich sowohl auf der Bühne und in der „Magic- Box“, wo sie abgelichtet werden. Die Bilder auf der Großleinwand werden von den Schauspielern mit passenden philosophische Texte von Arthur Schopenhauer, Nietzsche, Bertand Russel, Charles Bukowski, Rainald Götz und andere begleitet. Das verstärkte die Wirkung der Bilder.

Als typisch für das, was viele Menschen empfinden, wenn sie fotografiert wurden denken, steht Uwe Schmieder, abgelichtet mit einem Schild „You see me“. Erschrocken ruft er in die Dunkelheit: „Das bin ich nicht, das bin doch nicht ich!“ Andere hingegen finden sich fotogener und rufen: „Das bin ich. So sehe ich aus.“

Es entstehen schöne Bilder von Zuneigung und Liebe, aber auch viele ernste, nachdenklich machende eindrucksvolle Bilder von Vergänglichkeit.

Für das sinnliche Erleben war der sensible begleitende Soundtrack von Tommy Finke und die Musik von Mahler bis Brian Molko/Placebo von großer Bedeutung.

Es war ein meditativer,archaischer Abend mit Nachwirkung. Wenn es um sich nicht erinnern können, Tod und Vergänglichkeit geht, ist das keine leichte komödiantische Kost. Das der Tod nicht gerne gesehen ist, zeigen die Text von Christoph Schlingsensief oder Robert Gernhardt aus dem Jahr 1997. Gernhardts Gedicht „So“ besagt, dass der Mensch in keinem Monat gerne sterben will. Er will immer wieder neue Moment generieren, um sie fest zu halten.

Zwischen Show und Realität

Noch zeigt Katja (Merle Wasmuth) dem Journalisten Pierre (Carlos Lobo) die kalte Schulter. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Noch zeigt Katja (Merle Wasmuth) dem Journalisten Pierre (Carlos Lobo) die kalte Schulter. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Am 21.10.2016 hatte der junge Regisseur Maximilian Lindemann sein Debüt mit dem Stück „Das Interview“ von Theodor Holman nach dem gleichnamigen Film (2003) von Theo van Gogh im Dortmunder Megastore.

Fans des „Studios“ können sich freuen. „Das Interview“ bringt die besondere Atmosphäre der Bühne in den Megastore. Das spannende Kammerspiel zwischen dem 26-jährigen Soap-Star Katja, gespielt von Merle Wasmuth und dem Politik-Journalisten Pierre Petersen (45 Jahre), gespielt von Calos Lobo, findet vor ein kargen Bühne mit zwei geräumigen Ledersesseln und einer langen Ledercouch statt und die übrige Wohnung wird von einem glitzer-behangenem, durchgängigen Vorhang verborgen.

Der Reiz dieses Stoffes liegt vor allem an dem Zusammenprall dieser beiden unterschiedlichen Charaktere. Beide sind dabei absolute Medienprofis. Es geht immer um die Frage, wie komme ich hinter der Oberfläche? Das Stück wirkt wie eine Art Boxkampf mit Worten. Jeder versucht den anderen aus seiner Deckung zu locken, und wie es beim Boxkampf häufig vorkommt, tragen beide am Ende Narben davon.

Katja ist der von einem Millionen-Publikum bewunderte, junge und schöne Star im Showbusiness. Ihr ist klar, dass ihre äußere Hülle das besondere Kapital für ihre Karriere ist. Um ihr Gesicht nicht zu verlieren, setzt sie wie der Journalist immer wieder neue Masken auf. Sie kokettiert dabei geschickt mit Rollenerwartungen und Klischees, so zum Beispiel Drogen, Silikonbrüste oder ständiges Handygebimmel. Sie kann jeden Mann haben, den sie will.

Ihr unterschwelliger Wunsch nach Respekt und Wahrnehmung ihrer Persönlichkeit blitzt dazwischen immer wieder durch.

Pierre ist ein angesehener investigativer Politik-Journalist mit Erfahrung im Balkan-Krieg. Den Unfalltod seiner damals neunjährigen Tochter hat ihn tief getroffen. Nur durch Zufall und Ersatz für einen Kollegen nimmt er eher mit Widerwillen an. Ist dieses Interview nicht unter seiner Würde?

Schon bei ihrer ersten Begegnung sehen sich die beiden Protagonisten sehr lange abschätzend an.

Die (anfängliche) Ignoranz des Journalisten, der den Soap-Star kaum kennt, weiß Katja schlagfertig zu kontern. Es entwickelt sich ein witzig-bissiger Schlagabtausch zwischen den beiden Personen. Wahrheit und Lüge sind da bald nicht mehr zu unterscheiden. Langsam kommt es auch zu einer vorsichtigen Annäherungen zwischen diesen unterschiedlichen Menschen.

Nicht nur ihre Einsamkeit, sondern auch ihre dunklen Geheimnisse kommen am Ende ans Tageslicht.

Merle Wasmuth spielt die schlagfertige Schauspielerin mit Sexappeal in all ihren Facetten glaubwürdig. Das gilt für die witzig-ironischen Momente genau so wie in ihrer Traurigkeit.

Carlos Lobo im edlen Zwirn überzeugt als Politik-Journalist, der hin und her gerissen ist zwischen seinen anfänglichen Ignoranz dem wachsenden Interesse an der Person Katja.

Es ist schon eine schwierige und beachtliche Leistung über anderthalb Stunden das Publikum zu unterhalten und bei der Stange zu halten.

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Gefangen im Schubladendenken

Hinter der liberalen Fassade brodelt der Nahost-Konflikt. (v.r.n.l.) Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder) und Isaac (Frank Genser). Foto: © Birgit Hupfeld.
Hinter der liberalen Fassade brodelt der Nahost-Konflikt. (v.r.n.l.) Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder) und Isaac (Frank Genser). Foto: © Birgit Hupfeld.

Kann sich ein Mensch von seiner Religion lösen? Oder sehen ihn die Mitmenschen immer noch als Muslim, Christ, Hindu, Jude? Ist er immer noch verantwortlich für das, was seine Ex-Religion tut oder nicht tut? In dem intensiven Kammerstück „Geächtet“ von Ayad Akhtar in der Inszenierung von Kay Voges dreht sich alles um die Frage, wie schwer es ist, aus dem Schubladendenken zu entkommen. Die zweite Premiere im Megastore schafft es, ein punktgenaues Kammerspiel in der großen Halle zu kreieren.

Das Stück von Akthar handelt vom erfolgreichen Anwalt Amir und dessen Ehefrau und Künstlerin Emily. Zum gemeinsamen Abendessen haben sich das befreundete Ehepaar Isaac und dessen Frau Jory eingefunden. Jory arbeitet in der gleichen Kanzlei wie Amir. Eine kleine Rolle spielt Abe (Merlin Sandmeyer), der Neffe Amirs. Wer jetzt an „Der Gott des Gemetzels“ von Yasemine Reza denkt, der liegt nicht ganz falsch. Auch wenn „Geächtet“ über mehrere Monate spielt, ist doch das gemeinsame Essen der dramaturgische Höhepunkt.

Amir (Carlos Lobo) hat es geschafft. Der Sohn pakistanischer Eltern hat es als Einwanderungskind zum Anwalt in einer guten Anwaltskanzlei geschafft. Seine Religion hat er ad acta gelegt und fühlt sich eher der USA verpflichtet als seinem Heimatland, das er sogar verleugnet. „Mein Vater ist in Indien geboren, nicht in Pakistan. Pakistan gab es 1946 noch nicht“. Im Gegensatz zu Amir ist seine Frau Emily (Bettina Lieder) seit einiger Zeit in einen Islam vernarrt und zwar aus ästhetizistischen Gründen. Die politische und soziale Komponente des Islams versucht sie zu negieren oder zu verharmlosen. So entstehen schon einige Konflikte mit Amir, der auch die dunklen Seiten des Islams von seinem Elternhaus kennt.

Das zweite Ehepaar Isaac (Frank Genser) und Jory (Merle Wasmuth) wirkt im Vergleich ein wenig blass und konstruiert. Isaac, der Kurator, ist Jude und offensichtlich eher in Emily verknallt, als in ihre Bilder, was auch letztendlich das Fass zum Überlaufen bringt. Jory ist extrem opportunistisch, denn anstatt sich mit Amir solidarisch zu erklären, sie kommt als Schwarze ebenfalls aus schwierigen Verhältnissen, setzt sie ihre Karriere in der Kanzlei auf Amirs Kosten fort.

Schweinefleisch und Wein? Angepasst im „american dream“ bis ins kleinste Detail? Amir bekommt keine Chance. Man steckt einfach Menschen in Schubladen. Schublade „Muslim“ auf und Amir rein. Amir hat sich von seiner Religion losgesagt? „Du hast einen Selbsthass auf den Islam“. Amir möchte weiter Karriere machen in einer jüdischen Anwaltskanzlei? Ob man jemand vertrauen kann, der seiner Frau zuliebe einem Imam im Gefängnis unterstützt hat?

Letztendlich wird Amir das Stigma „Moslem“ nicht los, weil weder Emily noch Isaac oder Jory in ihm einen Menschen sehen, sondern nur eine Projektionsfläche für ihre Bedürfnisse. Die Abschlussszene ist eine Art Tribunal. Hier wird Amir vor allem von seinem Neffen Abe mit den Trümmern seines Lebens konfrontiert. Durch das Scheitern von Amir wird Abe radikalisiert. „Wenn schon du keine Chence bekommt, was soll ich dann tun…“

Kay Voges‘ Inszenierung beginnt mit einem Kniff. Alle Darsteller sind als Albinos mit weißer Haut und roten Augen geschminkt. Das verhindert nicht nur die Problematik mit einem eventuellen Blackfacing von Jory, sondern macht auch deutlich, dass trotz optischer Gleichheit tief im Inneren Vorurteile lauern. Dass das Stück von der ersten Sekunde fesselt, liegt am feinen Zusammenspiel von Lobo, Lieder, Genser, Wasmuth und Sandmeyer. Komplettiert wird das Ganze von einer feinen Videoarbeit von Mario Simon und der Musik von Tommy Finke.

Das Stück hat nicht nur wegen den Diskussionen um die Flüchtlingspolitik eine große Aktualität, es beschäftigt sich auch mit der Frage: Sind wir bereit den Menschen zu akzeptieren wie er ist ohne ihn in Schubladen zu stecken? Unbedingt ansehen!

Mehr Infos unter www.theaterdo.de

Über die Farce eines Prozesses

Bettina Lieder (im Vordergrund) erzählte gegen Ende des Stück noch etwas über das Dortmudner Opfer Mehmet Kubasik. (Foto: Birgit Hupfeld)
Bettina Lieder (im Vordergrund) erzählte gegen Ende des Stück noch etwas über das Dortmunder Opfer Mehmet Kubaşık. (Foto: Birgit Hupfeld)

Welche Rolle spielte Beate Zschäpe bei der NSU? Nachdem sie vor Gericht jahrelang geschwiegen hatte, ließ sie vor einigen Tagen ihre Rechtsanwälte eine lange Erklärung vorlesen. Müsste die Premiere am 11. Dezember 2015 von „Das schweigende Mädchen“ nach dem Text von Elfriede Jelinek jetzt abgesagt werden, weil sie ja nicht mehr schweigt? Keine Sorge, etwas vorlesen zu lassen, ist noch nicht „sprechen“ und Jelinek hat frisch für die Premiere noch etwas Text hinzugefügt. So konnte die neue Zwischenspielstätte im ehemaligen BVB-Megastore gebührend eingeweiht werden.

Regisseur Michael Simon hat die über 300 Seiten der Vorlage selbstverständlich nicht 1:1 umgesetzt, sondern hat den Text sehr stark eingedampft, beziehungsweise sich auf den Anfang konzentriert. Positiv ist auch, dass Simon sich nicht auf das „schweigende Mädchen“, sprich Zschäpe, einschießt, denn diese Popularisierung hat sie nicht verdient. Im Mittelpunkt steht für Simon, die Beziehung der Deutschen zu der Mordserie, die ja durch die Bezeichnung „Dönermorde“ ins Lächerliche gezogen wurde. Darüber hinaus wurde sehr stark auf die Rolle des Verfassungsschutzes hingewiesen, der einerseits nichts wusste, aber andererseits mit Geld die militante Neonazi-Szene unterstützt.

Die Entscheidung, die erste Premiere in den neuen Räumen mit dem „schweigende Mädchen“ zu beginnen, ist eine sehr gute. Denn die Inszenierung nimmt den Raum, die große Halle, bewusst auf uns spielt optimal mit ihren Möglichkeiten. Zu Beginn sind die sechs Schauspieler an verschiedenen Orten und sprechen wie auf ein geheimes Kommando alle zugleich. Da sich der Text wiederholt, kann der Zuschauer verschiedenen „Engeln“ zuhören.

Im Raum ist ein zerstörtes Polizeiauto zu sehen, in Anlehnung an den Fall Kiesewetter, die die NSU ermordete, aber auch eine Silhouette des Wohnwagen, in dem sich Mundlos und Böhnhardt umgebracht haben. Auf einer Seite sind die Namen der Opfer samt Todesdatum eingetragen. Mitten im Stück wird von den Schauspielern auch das Bild „Die Kreuzigung Christi“ von Matthias Grünewald nachgestellt. Später dürfen die Zuschauer auch auf einer kleinen Tribüne Platz nehmen.

Das Stück hat den Charakter einer typischen Stückentwicklung, bei der verschiedene Texte zu einem Werk verschmelzen. Unter der Regie von Simon gibt es klar definierte Teile wie beispielsweise die grosteke Gerichtsverhandlung, bei der Uwe Schmieder den Richter gibt. Hier werden neue Texte benutzt, die Jelinek extra geschrieben hatte. Hier tauchen albtraumartige Geschöpfe auf, die den Richter quälen.

„Das schweigende Mädchen“ ist ein sehr emotionales Stück, weil Simon hauptsächlich auf die Rolle des Verfassungsschutzes und die Frage, wie die Mehrheitsgesellschaft mit den Taten umgegangen ist und noch umgeht. Nach all den Jahren bleibt immer noch Fassungslosigkeit über die Morde und deren Aufarbeitung samt jahrelangen Prozess. Es ist gut, dass Zschäpe nicht in den Mittelpunkt rückt.

Neben den Schauspielern Frank Genser, Marlena Keil, Bettina Lieder, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth spielte der Dortmunder Sprechchor eine beeindruckende Rolle in dem Stück. Wer die neue Örtlichkeit des Dortmunder Schauspiel kennenlernen möchte, kann die neuen Möglichkeiten in „Das schweigende Mädchen“ erleben.

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Familiäre Kernspaltung

Wer den Tod vor Augen hat wie Violet, kann auch mal Tacheles reden! (v.l.n.r.) Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Carlos Lobo, Bettina Lieder, Merle Wasmuth, Janine Kreß und Friederike Tiefenbacher. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Wer den Tod vor Augen hat wie Violet, kann auch mal Tacheles reden! (v.l.n.r.) Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Carlos Lobo, Bettina Lieder, Merle Wasmuth, Janine Kreß und Friederike Tiefenbacher. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Die Familie ist der Kern der Gesellschaft, so heißt es. Und wenn es zur Kernspaltung kommt, dann entsteht auch zerstörerische Energie, die wehtut und Narben hinterlässt. Wenn dann noch ein gut gehütetes Geheimnis wie eine Bombe in die Familie platzt, sind wir bei „Eine Familie“ von Tracy Letts in der Inszenierung von Sascha Hawemann. Ein Premierenbericht.

„Eine Familie“ ähnelt ein wenig dem Stück „Das Fest“, das von Kay Voges vor einigen Spielzeiten inszeniert wurde. In beiden Stücken geht es um den Zerfall einer Familie, wobei beim „Fest“ ein dunkles Geheimnis des Familienpatriarchen im Mittelpunkt stand, während bei der „Familie“ die Matriarchin und ihre Töchter ein bitteres Resümee ihres Lebens ziehen müssen.

Kurz zur Geschichte: Nachdem der alkoholkranke Beverly eine Pflegekraft für seine krebskranke und tablettensüchtige Frau Violet gefunden hat, verschwindet er. Violet ruft ihre Schwester sowie ihre drei Töchter zu sich, später kommt die Nachricht über Beverlys Selbstmord. Auf der Trauerfeier eskaliert die Situation.

Schmutzige Wäsche waschen ist ein viel zu harmloser Begriff, was in den mehr als drei Stunden auf der Bühne von Sascha Hawemann passiert, es ist eine knallharte Abrechnung der Matriarchin Violet (Friederike Tiefenbacher), die erkennt, dass ihr Matriarchin-Gen in ihren Töchtern nicht weiterlebt. Barbara (Merle Wasmuth) wird von ihrem Mann Bill (Carlos Lobo) verlassen und ihre 14-jährige Tochter Jean (Marlena Keil) entgleitet ihr. Karen (Bettina Lieder), der Typ Karrierefrau, hat mit ihrer neuen Eroberung zur Verwirklichung ihrer Kleinmädchenträume auch keinen Glückstreffer gelandet, denn Steve (Frank Genser) macht sich an Jean ran. Ivy (Julia Schubert) ist die tragische Gestalt des Stückes, denn die jüngste Tochter, die noch in der Nähe ihrer Mutter wohnt und von ihr nicht ernst genommen wird, erlebt bei ihrem Emanzipationsversuch – sie will mit ihrem Cousin Little Steve (Peer Oscar Musinowski) nach New York – eine persönliche Katastrophe. Dazu bekommt auch Violets Schwester Mattie Fae (Janine Kreß) mit ihrem Mann Charlie (Andreas Beck) ordentlich ihr Fett weg.

Jeder der Charaktere in dem Stück ist nicht ohne Fehler, und solche aufzudecken ist die Spezialität von Violet, die mit ihrem Mundhölenkrebs die „passende“ Krankheit hat, denn aus ihrem Mund kommen fast nur Gehässigkeiten.

Während die Elterngeneration noch Werte und Ideale der 68er Generation hochhält, nicht umsetzt erscheinen auf der Drehbühne Begriffe aus dem Gedicht „The hollow men“ von T.S. Eliot, in dem es um den moralischen Verfall der Gesellschaft geht, die letztlich daran zugrunde geht. Die Warnerin vor diesem Verfall ist Violet. Ihre Töchter sind alles Produkte einer narzisstischen Gesellschaft, die letztlich aber scheitern. Oft hält Violet ihren Töchtern das Alter vor. „Du kannst mit einer jüngeren Frau nicht mithalten“, wirft sie Barbara an den Kopf.

Hawemann nutzt in seiner Inszenierung exzessiv die Drehbühne und fordert von seinen Schauspielern höchsten Einsatz. Besonders beeindruckend war das Konterfei von Beverly (ebenfalls gespielt von Andreas Beck) während der Trauerfeier. Als schwebte sein Geist noch über der Familie.

Eine kleine, aber wichtige Rolle spielte Alexander Xell Dafov als unterstützende Pflegekraft Johnna, der auch noch live die Musik auf der Gitarre und dem Akkordeon spielte.

Ein monumentales Stück, das vor allem nach der Pause an Schwung und Dramatik gewinnt. Hier stehen nicht nur die Frauen im Mittelpunkt, sondern auch der Wertewandel von Generation zu Generation. Von einer Familie zu einer Gemeinschaft, mit der man nur zufällig genetisch miteinander verbunden sei, wie zu Ivy ihren Schwestern sagt. Nicht mehr von „Blut ist dicker als Wasser“. Hier werden Familienbande nicht nur gelöst, sondern auch radikal gekappt.

Auch die Frage „Was machen wir mit Mutter?“ steht im Raum. In Hawemanns Inszenierung bleibt letztendlich Barbara bei ihr, da sich ihr Familienglück komplett aufgelöst hat, während Ivy und Karen das Weite suchen.

Selbstreflexion und Selbstmitleid

Krapp (Ekkehard Freye) hält Zwiesprache mit seinem jüngeren Ich. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Krapp (Ekkehard Freye) hält Zwiesprache mit seinem jüngeren Ich. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Zwei Menschen halten am Ende ihres Lebens Rückschau. Eine Frau und Ein Mann. Marcus Lobbes inszeniert im Studio Samuel Becketts „Glückliche Tage“ und „Das letzte Band“ als intensives Kammerspiel und vergisst dabei nicht den Humor, der den Stücken von Becketts innewohnen. Ein Premierenbericht vom 05. September.

Die letzte Reise. In Lobbes Inszenierung überquert Winnie (Merle Wasmuth) in einer Mischung zwischen Boot und Sarg den Fluss Styx, der in der griechischen Mythologie die Lebenden von den Toten trennt. Bleich geschminkt auf ihrer Reise spricht Winnie meist mit sich selbst, denn sie ist ist in der Beziehung mit Willie der aktive Teil, Willie (gespielt von Ekkehard Freye) der deutlich passive. Nur spärlich und beinahe widerwillig kommentiert er Winnies Monologe. Trotz dieser Entfremdung ist immer eine Art Band zwischen den beiden zu spüren, selbst wenn Lobbes das Ehepaar durch eine Glaswand trennt. Willie sitzt im Zuschauerraum und kann trotz zweier Versuche nicht zu Winnie gelangen, die in ihrem Boot langsam Richtung Toteninsel gezogen wird. Man merkt es Winnie an, dass sie sich freut, wenn Willie reagiert. „Ich weiß, welche Mühe es dich kostet“, sagt sie einmal.

Winnie freut sich an den vergangenen Dingen, an den Gewohnheiten, die sie „der alte Stil“ nennt. Dennoch ist ihr die Vergänglichkeit deutlich bewusst. „Früher dachte ich, dass all die Sachen, zu früh in den schwarzen Sack gesteckt, wieder heraus geholt werden könnten“, erinnert sie sich. Jetzt weiß sie, dass dies nicht passiert. Aus und vorbei.

Krapp hingegen sieht die Rückschau auf sein Leben weniger gelassen. „Welkom op het feest van de gemiste kansen, jongen!“ (Willkomen auf dem Fest der verpassten Chancen, Junge!) sang die niederländische Band „Tröckener Kecks“, doch für Krapp ist es kein Fest. Schon gar kein fröhliches. Die Fragen „Was wäre, wenn…“ und „Wie konnte ich nur so blöd sein.“ Freye, diesmal mit Perücke und Brille, zeigt dabei die Karikatur eines älteren Intellektuellen. Auf der Leinwand erscheint sein jüngeres Ich mit 38-jahren, das selbstgefällig und überheblich über die Ereignisse des vergangenen Jahres berichtet. Anfänglich noch mit lustigen Kommentaren bedacht, werden diese Anmerkungen immer bitterer. Die angestrebte Karriere als Schriftsteller ist als Seifenblase zerplatzt und die Liebesbeziehung aus Überheblichkeit zerbrochen oder gar nicht erst entstanden. So bleibt Krapp im Alter nur noch das letzte Band als bittere Erinnerung, bei dessen Betrachtung er in Selbstmitleid zerfließt.

Winnie und Krapp. Zwei Menschen, deren Rückblick auf ihr Leben nicht unterschiedlicher sein kann. Winnie ist ein klein wenig sentimental, aber zufrieden mit den kleinen Dingen. Krapp hingegen versinkt in Selbstmitleid, nachdem seine selbstgefällige Maske heruntergerissen wurde.

Lobbes inszeniert das Beckett-Doppel nicht ohne Humor, vor allem Krapp bietet durch sein Selbstmitleid ein Quell an Humor, die Freye durch sein Spiel auch wunderbar aus-reizt.

Wasmuth zeigt als Winnie eine fast klaglose Sanftmut auf ihrem letzten Weg.

Ein intensiver Abend, ohne Musik, aber mit zwei sehr präsenten Schauspielern. Für die Vorstellung am 11. September gibt es noch Restkarten. Weitere Termine in diesem Jahr sind 23. September, 01. Oktober, 25. Oktober und 28. Oktober.