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Wenn Politik das Private durchdringt

Auf dem Amt: SA-Mann (Frank Genser, 2.v.l.) will den arbeitslosen Bruder (Carlos Lobo 1.v.l.) der Köchin (Uwe Schmider, 4.v.l.) reinlegen. Noch im Bild sind: Bettina Lieder und Alexander Xell Dafov. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Nach dem großen Ensemblestück „Eine Familie (August: Osage County)“ hat Regisseur Sascha Hawemann in dieser Spielzeit Bertholt Brechts Szenencollage „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ (Zeitraum 1933 – 1938) im Megastore auf die Bühne gebracht. Hawemann sind dabei aktuelle Bezüge zu unserer Problemen mit zunehmen den Einfluss rechtspopulistischer und fundamental islamistischen Gruppierungen im In-und Ausland von großer Bedeutung. Das zeigt sich nicht nur die Beteiligung des 2015 aus Syrien geflohenen Schauspielers Raafat Daboul. Er steht für die vielen, vor der Gewalt in Syrien geflohenen Menschen. Ars Tremonia war am 05.012.2017 bei einer Aufführung anwesend.

Das Publikum wurde durch einen Graben voll Koffer und losen Textblättern von den Schauspielern räumlich weit getrennt. Dieser Graben stand symbolisch für alle Menschen, die als Juden und aus politischen oder anderen Gründen auf „gepackten Koffern“ saßen und und versuchten (so sie konnten) rechtzeitig zu fliehen.

Friederike Tiefenbacher spielt als jüdische Gattin eines deutschen Arztes (Andreas Beck) ein berührendes Beispiel für diese Flüchtlinge. Sie und ihr Mann versuchen verzweifelt, ihren Fluchtversuch als „kurze Reise nach Amsterdam“ zu erklären. Dem Paar und seine Freunden ist die bittere Wahrheit jedoch schon längst klar.

Durch die elf ausgewählten Szenen führte Uwe Schmieder als Bertolt Brecht engagiert. Neben Videobildern von im Hintergrund erfuhr das Publikums von Brechts „Epischen Theater“ und dem V-Effekt (Verfremdung). Er ist der Überzeugung, dass die Menschen sich aktiv für eine gerechtere, angst freie Gesellschaft einsetzen und kämpfen müssen und können. Brecht hat seine Szenen kaleidoskopisch angelegt, Hawemann versucht ein Band zwischen den Szenen zu finden, indem er Figuren öfter auftreten lässt wie beispielsweise das Dienstmädchen Marie. Dazu lässt er Figuren auftreten wie einen an Gustav Gründgens erinnernden „Mesphisto“ auftreten.

Die Auswirkung des Politischen auf das Privatleben sind allen Szenen gemeinsam. Nur ein paar Beispiele dafür: Frank Genser als brutal-zynischer SA-Mann Theo, der seine Lebensgefährtin Marie, gespielt von Bettina Lieder, jeden kleinsten Widerspruch austreibt. Er provoziert zudem seinen seinen arbeitslosen Nachbarn, gespielt von Carlos Lobo, im Spiel um ihn aufs Glatteis zu führen und zu denunzieren. Das Elternpaar (Merle Wasmuth und Carlos Lobo), das sich ausmalt, wie ihr für kurze Zeit verschwundener Sohn (Raafat Daboul) etwas System kritisches gehört haben könnte und sie eventuell denunziert. Andreas Beck spielt einen Amtsrichter, der zu jeder Rechtsbeugung bereit ist, um sich vor unliebsamen Konsequenzen für sich selber zu schützen. Das stellt sich als gar nicht so einfach da.

Die Szenen wurden zwischendurch musikalisch sensibel live und mit verschiedenen Instrumenten von Alexander Xell Dafov untermalt.

Sprachlos und nachdenklich machten gegen Ende das Paar Marie (Bettina Lieder) die Dienstmädchen und Theo (Frank Genser) der SA-Mann. Während ihrer in festlicher Kleidung zelebrierten Hochzeit erzählen die Beiden ohne jegliche Spur von Empathie in allen Einzelheiten von den grausamen Massenexekutionen in der Ukraine durch die deutsche Wehrmacht und ihren ukrainischen. Einen krasseren Gegensatz kann es nicht geben.

Ein Klima der Angst wird von interessierten Kreisen auch in der Gegenwart wieder geschürt. Wird gehen wir damit um?

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Heldenhafter Kampf gegen die Monotonie

Die Damen von der Telefonzentrale (Dortmunder Sprechchor) erzählten von Burnout und Depressionen. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Die Damen von der Telefonzentrale (Dortmunder Sprechchor) erzählten von Burnout und Depressionen. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Herzlich willkommen zum „Tag der offenen Tür“ in ihrem Finanzamt. Was wie eine komische Idee klingt, gab und gibt es aber in der Realität. Julia Schubert präsentiert – zum ersten Mal als Regisseurin – in den Kulissen der „Borderline Prozession“ eine irre Reise durch die Räume eine fiktiven Steuerbehörde. Merkwürdiges, Verzweifeltes, Komisches wechseln in jeder Runde ab. „Heimliche Helden“ könnte der skurrile Zwillingsbruder der „Borderline-Prozession“ sein. Auch bei den „Heimlichen Helden“ sieht der Zuschauer nicht alles, es sei denn, er kommt öfter wieder. Da wir von Ars tremonia zu Zweit unterwegs waren, konnten wir bei der Premiere am 21. Oktober 2016 einen Blick in alle Räume erhaschen.

Wie bereits geschrieben, das Stück findet in den Kulissen der „Borderline-Prozession“ statt, genauer gesagt, im vorderen Teil. Es gibt acht Räume und den Garten, aber nur sieben Runden, die jeweils um die 10 Minuten dauerten. Natürlich unterbrochen von der Mittagspause („Mahlzeit“) Jeder Zuschauer erhält eine Karte mit einer Nummer. Dort ist penibel (wir sind ja in einer deutschen Steuerbehörde) aufgezeichnet, welche Räume in welcher Runde man zu besuchen hat. Nicht, dass noch etwas durcheinander kommt.

Doch am Anfang erzählte uns Frank Genser im Wartebereich über die „heimlichen Helden“: Die Beamten in der Steuerbehörde, die treu gegen die Monotonie ihres Tagesablauf ankämpften. Ich halte es aber eher wie Schriftsteller Terry Pratchett, der in seinem Buch „Das Licht der Fantasie“ eine Figur folgendermaßen charakterisierte: „Er machte graue Durchschnittlichkeit zu einer erhabenen Kunst, und in seinem Bewusstsein herrschte die gleiche dunkle, gnadenlose Logik wie in einer Beamtenseele“.

Stichwort: Grau. Schauspieler und Mitglieder des Sprechchores trugen beinahe allesamt diese schöne unbunte Farbe.

Für mich begann der Zug durch die Büros bei Herrn Genser, der gekonnt die Möglichkeiten darbot, wie man sich die Zeit vertrieb, wenn man nichts zu arbeiten hatte. Gekonntes Kugelschreiber bewegen von rechts nach links und ein kleines Theaterstück mit Spielfiguren. Danach hatte ich gleich in zwei Räumen die Konfrontation mit dem negativen Auswirkungen der sich ständig wiederholenden Arbeiten. Depression bei den Damen vom Telefondienst und Marlena Keil präsentierte eine Mitarbeiterin mit persönlichen Problemen.

Hier noch ein kleiner Einschub: Innerhalb der Räume wechseln sich die Szenen auch noch ab, so dass kaum jemand den gleichen Abend erleben wird.

Eine besondere Rolle spielte Uwe Schmieder, alias Herr Krüger. In ziemlich mitgenommener Kleidung schlürfte er schon zu Beginn durch den Gang. In dem kleinsten grottenartigen Raum der „Büros“ konnten die Besucher erfahren, das er schon über 35 Jahre im Steuerbüro gearbeitet hat und nun in den Ruhestand geschickt wird. Sein Wellensittich im Einweckglas hat diese Zeit nicht überlebt. Tragisch-komisch dargestellt.

Neben „normalen“ Büros, gab es auch noch sehr besondere Räume: Im Garten wurde das Betriebsfest vorbereitet und die Zuschauer durften mit Hand anlegen. Käsewürfel zurecht machen, an einer Büroklammergirlande basteln oder Buchstaben ausschneiden. Der abgefahrenste Ort war sicherlich das Auto mit den Einschusslöchern der Borderline Prozession. Hier unterhielten Ekkehard Freye und Thorsten Bihegue die Besucher auf ihre spezielle Art.

Zum Abschluss des Tages der offenen Tür stieg dann noch das Betriebsfest, bei dem der altgediente Kollege Krüger verabschiedet wurde und der Alleinunterhalter Rene Carmen drei Lieder sang.

Julia Schubert schafft es, zusammen mit dem Ensemble und dem Sprechchor, ein warmherziges Stück auf die Bühne zu bringen. Ein liebevoller und humorvoller Blick auf Typen und Situationen von Menschen, die eben nicht 24 Stunden, sieben Tage die Woche kreativ arbeiten müssen, dafür aber nach 17 Uhr den Stift fallen lassen können. Welches Leben ist das bessere? Das muss jeder Besucher für sich selber entscheiden.

Wann ist wieder Tag der offenen Tür in der Finanzbehöre? Am 01. und am 27. November 2106 oder unter www.theaterdo.de nachschauen.

Liebe oder gesellschaftlicher Aufstieg?

Auch in der Liebe gilt: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. (v.l.n.r. Bettina Lieder,  Frank Genser, Julia Schubert, Christoph Jöde und Max Thommes) Foto: © Birgit Hupfeld.
Auch in der Liebe gilt: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. (v.l.n.r. Bettina Lieder,
Frank Genser, Julia Schubert, Christoph Jöde und Max Thommes) Foto: © Birgit Hupfeld.

Immerhin geht es trotz Krise den Friseuren anscheinend prima, zumindest in der Inszenierung von „Kasimir und Karoline“ in der Regie von Gordon Kämmerer, die am 18. September im Megastore Premiere hatte. Die Kostüme und Frisuren wirkten leicht skurril und hatten einen leichten Comic-Touch. Hinzu kamen choreografische Elemente, die aus dem tragikomischen Stück eine flotte Unterhaltungspartie machte. Eben wie auf dem Rummel, Glück und Elend liegen eng beieinander und manchmal ist der Partner auf dem Nachhauseweg ein anderer als auf dem Hinweg.

„Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth spielt in den Jahren der Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts. Aber das Stück kann problemlos in die Jetztzeit verlegt werden, denn Wirtschaftskrise ist immer noch aktuell. Passend zur Jahreszeit spielt das Stück auf dem Oktoberfest. Kämmerer verzichtete – anders als die Düsseldorfer beim Theatertreffen 2014 – auf eine Verortung in heimische Gefilde.

Kämmerer beginnt mit einer Szene aus einem anderen Stück von von Horváth nämlich „GlaubeLiebeHoffnung“, in der eine Frau ihren Körper an die Anatomie verkaufen möchte. Diese Idee ist nicht neu, denn Jette Steckel hat es 2015 im Thalia Theater ähnlich gemacht. Glücklicherweise geht Kämmerer direkt danach straff zum eigentlich Stück über: Kasimir (Ekkehard Freye) und Karoline (Julia Schubert) möchten einen Abend auf dem Oktoberfest verbringen. Die Stimmung ist getrübt, denn Kasimir hat vor einem Tag seinen Job verloren. Kasimirs depressive Stimmung vertreibt Karoline, die mit dem Zuschneider Schürzinger (Frank Genser) eine passende Begleitung kennenlernt. Kasimir hingegen trifft seinen kriminell gewordenen Freund Merkl Franz (Christoph Jöde) mit seiner Freundin Erna (Bettina Lieder). Doch auch das aufkeimende Glück von Karoline wird gestört, als zwei Herren der gehobenen Gesellschaft, Kommerzienrat Rauch (Carlos Lobo) und Landgerichtsdirektor Speer (Max Thommes) ein Auge auf Karoline werfen.

Trotz der leicht schrillen Inszenierung (Jugendlichen wird‘s vermutlich gefallen), strahlt dieses Stück eine melancholische Stimmung aus. Kasimir, auch wenn er am Schluss mit Erna möglicherweise sein Glück und seine Bestimmung findet, muss den Verlust seiner Liebe Karoline verwinden. Karoline ist in gewisser Weise berechnend, denn sie will auf gesellschaftlicher Ebene aufsteigen und schafft es mit Schürzinger. Denn auch Schürzinger tauscht Liebe für Karriere, er überlässt Karoline seinem Chef Rauch für eine Beförderung. So gesehen passen beide gut zusammen.

Kämmerer inszeniert sein Stück passend für einen Rummelplatz. Schrill, laut, rasant (die umgebauten Carts sind ein Hingucker) und strafft den Horváth. So lässt er beispielsweise die menschlichen Kuriositäten wegfallen. Zwar ist der Beginn aus „GlaubeLiebeHoffnung“ in meinen Augen etwas merkwürdig, der zweite eingebaute Text von Horváth, der kleine Monolog „Die Wiesenbraut“ über die Rolle von manchen Mädchen auf dem Oktoberfest, ist aber sehr passend.

Das Ensemble macht einen guten Job, es harmonisiert sehr und es macht Spaß, ihnen beim der Handlung durch das Festzelt mit den riesigen Weißwürsten zu folgen. Musik gibt es in zwei Varianten: Hauptsächlich durch den Elektronik-Musiker Max Thommes, der passende Rummelplatz-Musik einstreut und dem Fanfaren-Corps 1974 Dortmund-Wickede, der für die entsprechende Bierzelt-Atmosphäre sorgt.

Auf dem Rummelplatz sind alle gleich, sagt Kommerzienrat Rauch einmal. Auf den ersten Blick vielleicht, aber es macht schon einen Unterschied, ob man einmal die teure Achterbahn fahren kann oder öfters. Das Stück und die Inszenierung ist eine absolute Empfehlung, vor allem für junges Publikum.

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Gefangen im Schubladendenken

Hinter der liberalen Fassade brodelt der Nahost-Konflikt. (v.r.n.l.) Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder) und Isaac (Frank Genser). Foto: © Birgit Hupfeld.
Hinter der liberalen Fassade brodelt der Nahost-Konflikt. (v.r.n.l.) Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder) und Isaac (Frank Genser). Foto: © Birgit Hupfeld.

Kann sich ein Mensch von seiner Religion lösen? Oder sehen ihn die Mitmenschen immer noch als Muslim, Christ, Hindu, Jude? Ist er immer noch verantwortlich für das, was seine Ex-Religion tut oder nicht tut? In dem intensiven Kammerstück „Geächtet“ von Ayad Akhtar in der Inszenierung von Kay Voges dreht sich alles um die Frage, wie schwer es ist, aus dem Schubladendenken zu entkommen. Die zweite Premiere im Megastore schafft es, ein punktgenaues Kammerspiel in der großen Halle zu kreieren.

Das Stück von Akthar handelt vom erfolgreichen Anwalt Amir und dessen Ehefrau und Künstlerin Emily. Zum gemeinsamen Abendessen haben sich das befreundete Ehepaar Isaac und dessen Frau Jory eingefunden. Jory arbeitet in der gleichen Kanzlei wie Amir. Eine kleine Rolle spielt Abe (Merlin Sandmeyer), der Neffe Amirs. Wer jetzt an „Der Gott des Gemetzels“ von Yasemine Reza denkt, der liegt nicht ganz falsch. Auch wenn „Geächtet“ über mehrere Monate spielt, ist doch das gemeinsame Essen der dramaturgische Höhepunkt.

Amir (Carlos Lobo) hat es geschafft. Der Sohn pakistanischer Eltern hat es als Einwanderungskind zum Anwalt in einer guten Anwaltskanzlei geschafft. Seine Religion hat er ad acta gelegt und fühlt sich eher der USA verpflichtet als seinem Heimatland, das er sogar verleugnet. „Mein Vater ist in Indien geboren, nicht in Pakistan. Pakistan gab es 1946 noch nicht“. Im Gegensatz zu Amir ist seine Frau Emily (Bettina Lieder) seit einiger Zeit in einen Islam vernarrt und zwar aus ästhetizistischen Gründen. Die politische und soziale Komponente des Islams versucht sie zu negieren oder zu verharmlosen. So entstehen schon einige Konflikte mit Amir, der auch die dunklen Seiten des Islams von seinem Elternhaus kennt.

Das zweite Ehepaar Isaac (Frank Genser) und Jory (Merle Wasmuth) wirkt im Vergleich ein wenig blass und konstruiert. Isaac, der Kurator, ist Jude und offensichtlich eher in Emily verknallt, als in ihre Bilder, was auch letztendlich das Fass zum Überlaufen bringt. Jory ist extrem opportunistisch, denn anstatt sich mit Amir solidarisch zu erklären, sie kommt als Schwarze ebenfalls aus schwierigen Verhältnissen, setzt sie ihre Karriere in der Kanzlei auf Amirs Kosten fort.

Schweinefleisch und Wein? Angepasst im „american dream“ bis ins kleinste Detail? Amir bekommt keine Chance. Man steckt einfach Menschen in Schubladen. Schublade „Muslim“ auf und Amir rein. Amir hat sich von seiner Religion losgesagt? „Du hast einen Selbsthass auf den Islam“. Amir möchte weiter Karriere machen in einer jüdischen Anwaltskanzlei? Ob man jemand vertrauen kann, der seiner Frau zuliebe einem Imam im Gefängnis unterstützt hat?

Letztendlich wird Amir das Stigma „Moslem“ nicht los, weil weder Emily noch Isaac oder Jory in ihm einen Menschen sehen, sondern nur eine Projektionsfläche für ihre Bedürfnisse. Die Abschlussszene ist eine Art Tribunal. Hier wird Amir vor allem von seinem Neffen Abe mit den Trümmern seines Lebens konfrontiert. Durch das Scheitern von Amir wird Abe radikalisiert. „Wenn schon du keine Chence bekommt, was soll ich dann tun…“

Kay Voges‘ Inszenierung beginnt mit einem Kniff. Alle Darsteller sind als Albinos mit weißer Haut und roten Augen geschminkt. Das verhindert nicht nur die Problematik mit einem eventuellen Blackfacing von Jory, sondern macht auch deutlich, dass trotz optischer Gleichheit tief im Inneren Vorurteile lauern. Dass das Stück von der ersten Sekunde fesselt, liegt am feinen Zusammenspiel von Lobo, Lieder, Genser, Wasmuth und Sandmeyer. Komplettiert wird das Ganze von einer feinen Videoarbeit von Mario Simon und der Musik von Tommy Finke.

Das Stück hat nicht nur wegen den Diskussionen um die Flüchtlingspolitik eine große Aktualität, es beschäftigt sich auch mit der Frage: Sind wir bereit den Menschen zu akzeptieren wie er ist ohne ihn in Schubladen zu stecken? Unbedingt ansehen!

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Über die Farce eines Prozesses

Bettina Lieder (im Vordergrund) erzählte gegen Ende des Stück noch etwas über das Dortmudner Opfer Mehmet Kubasik. (Foto: Birgit Hupfeld)
Bettina Lieder (im Vordergrund) erzählte gegen Ende des Stück noch etwas über das Dortmunder Opfer Mehmet Kubaşık. (Foto: Birgit Hupfeld)

Welche Rolle spielte Beate Zschäpe bei der NSU? Nachdem sie vor Gericht jahrelang geschwiegen hatte, ließ sie vor einigen Tagen ihre Rechtsanwälte eine lange Erklärung vorlesen. Müsste die Premiere am 11. Dezember 2015 von „Das schweigende Mädchen“ nach dem Text von Elfriede Jelinek jetzt abgesagt werden, weil sie ja nicht mehr schweigt? Keine Sorge, etwas vorlesen zu lassen, ist noch nicht „sprechen“ und Jelinek hat frisch für die Premiere noch etwas Text hinzugefügt. So konnte die neue Zwischenspielstätte im ehemaligen BVB-Megastore gebührend eingeweiht werden.

Regisseur Michael Simon hat die über 300 Seiten der Vorlage selbstverständlich nicht 1:1 umgesetzt, sondern hat den Text sehr stark eingedampft, beziehungsweise sich auf den Anfang konzentriert. Positiv ist auch, dass Simon sich nicht auf das „schweigende Mädchen“, sprich Zschäpe, einschießt, denn diese Popularisierung hat sie nicht verdient. Im Mittelpunkt steht für Simon, die Beziehung der Deutschen zu der Mordserie, die ja durch die Bezeichnung „Dönermorde“ ins Lächerliche gezogen wurde. Darüber hinaus wurde sehr stark auf die Rolle des Verfassungsschutzes hingewiesen, der einerseits nichts wusste, aber andererseits mit Geld die militante Neonazi-Szene unterstützt.

Die Entscheidung, die erste Premiere in den neuen Räumen mit dem „schweigende Mädchen“ zu beginnen, ist eine sehr gute. Denn die Inszenierung nimmt den Raum, die große Halle, bewusst auf uns spielt optimal mit ihren Möglichkeiten. Zu Beginn sind die sechs Schauspieler an verschiedenen Orten und sprechen wie auf ein geheimes Kommando alle zugleich. Da sich der Text wiederholt, kann der Zuschauer verschiedenen „Engeln“ zuhören.

Im Raum ist ein zerstörtes Polizeiauto zu sehen, in Anlehnung an den Fall Kiesewetter, die die NSU ermordete, aber auch eine Silhouette des Wohnwagen, in dem sich Mundlos und Böhnhardt umgebracht haben. Auf einer Seite sind die Namen der Opfer samt Todesdatum eingetragen. Mitten im Stück wird von den Schauspielern auch das Bild „Die Kreuzigung Christi“ von Matthias Grünewald nachgestellt. Später dürfen die Zuschauer auch auf einer kleinen Tribüne Platz nehmen.

Das Stück hat den Charakter einer typischen Stückentwicklung, bei der verschiedene Texte zu einem Werk verschmelzen. Unter der Regie von Simon gibt es klar definierte Teile wie beispielsweise die grosteke Gerichtsverhandlung, bei der Uwe Schmieder den Richter gibt. Hier werden neue Texte benutzt, die Jelinek extra geschrieben hatte. Hier tauchen albtraumartige Geschöpfe auf, die den Richter quälen.

„Das schweigende Mädchen“ ist ein sehr emotionales Stück, weil Simon hauptsächlich auf die Rolle des Verfassungsschutzes und die Frage, wie die Mehrheitsgesellschaft mit den Taten umgegangen ist und noch umgeht. Nach all den Jahren bleibt immer noch Fassungslosigkeit über die Morde und deren Aufarbeitung samt jahrelangen Prozess. Es ist gut, dass Zschäpe nicht in den Mittelpunkt rückt.

Neben den Schauspielern Frank Genser, Marlena Keil, Bettina Lieder, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth spielte der Dortmunder Sprechchor eine beeindruckende Rolle in dem Stück. Wer die neue Örtlichkeit des Dortmunder Schauspiel kennenlernen möchte, kann die neuen Möglichkeiten in „Das schweigende Mädchen“ erleben.

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Familiäre Kernspaltung

Wer den Tod vor Augen hat wie Violet, kann auch mal Tacheles reden! (v.l.n.r.) Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Carlos Lobo, Bettina Lieder, Merle Wasmuth, Janine Kreß und Friederike Tiefenbacher. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Wer den Tod vor Augen hat wie Violet, kann auch mal Tacheles reden! (v.l.n.r.) Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Carlos Lobo, Bettina Lieder, Merle Wasmuth, Janine Kreß und Friederike Tiefenbacher. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Die Familie ist der Kern der Gesellschaft, so heißt es. Und wenn es zur Kernspaltung kommt, dann entsteht auch zerstörerische Energie, die wehtut und Narben hinterlässt. Wenn dann noch ein gut gehütetes Geheimnis wie eine Bombe in die Familie platzt, sind wir bei „Eine Familie“ von Tracy Letts in der Inszenierung von Sascha Hawemann. Ein Premierenbericht.

„Eine Familie“ ähnelt ein wenig dem Stück „Das Fest“, das von Kay Voges vor einigen Spielzeiten inszeniert wurde. In beiden Stücken geht es um den Zerfall einer Familie, wobei beim „Fest“ ein dunkles Geheimnis des Familienpatriarchen im Mittelpunkt stand, während bei der „Familie“ die Matriarchin und ihre Töchter ein bitteres Resümee ihres Lebens ziehen müssen.

Kurz zur Geschichte: Nachdem der alkoholkranke Beverly eine Pflegekraft für seine krebskranke und tablettensüchtige Frau Violet gefunden hat, verschwindet er. Violet ruft ihre Schwester sowie ihre drei Töchter zu sich, später kommt die Nachricht über Beverlys Selbstmord. Auf der Trauerfeier eskaliert die Situation.

Schmutzige Wäsche waschen ist ein viel zu harmloser Begriff, was in den mehr als drei Stunden auf der Bühne von Sascha Hawemann passiert, es ist eine knallharte Abrechnung der Matriarchin Violet (Friederike Tiefenbacher), die erkennt, dass ihr Matriarchin-Gen in ihren Töchtern nicht weiterlebt. Barbara (Merle Wasmuth) wird von ihrem Mann Bill (Carlos Lobo) verlassen und ihre 14-jährige Tochter Jean (Marlena Keil) entgleitet ihr. Karen (Bettina Lieder), der Typ Karrierefrau, hat mit ihrer neuen Eroberung zur Verwirklichung ihrer Kleinmädchenträume auch keinen Glückstreffer gelandet, denn Steve (Frank Genser) macht sich an Jean ran. Ivy (Julia Schubert) ist die tragische Gestalt des Stückes, denn die jüngste Tochter, die noch in der Nähe ihrer Mutter wohnt und von ihr nicht ernst genommen wird, erlebt bei ihrem Emanzipationsversuch – sie will mit ihrem Cousin Little Steve (Peer Oscar Musinowski) nach New York – eine persönliche Katastrophe. Dazu bekommt auch Violets Schwester Mattie Fae (Janine Kreß) mit ihrem Mann Charlie (Andreas Beck) ordentlich ihr Fett weg.

Jeder der Charaktere in dem Stück ist nicht ohne Fehler, und solche aufzudecken ist die Spezialität von Violet, die mit ihrem Mundhölenkrebs die „passende“ Krankheit hat, denn aus ihrem Mund kommen fast nur Gehässigkeiten.

Während die Elterngeneration noch Werte und Ideale der 68er Generation hochhält, nicht umsetzt erscheinen auf der Drehbühne Begriffe aus dem Gedicht „The hollow men“ von T.S. Eliot, in dem es um den moralischen Verfall der Gesellschaft geht, die letztlich daran zugrunde geht. Die Warnerin vor diesem Verfall ist Violet. Ihre Töchter sind alles Produkte einer narzisstischen Gesellschaft, die letztlich aber scheitern. Oft hält Violet ihren Töchtern das Alter vor. „Du kannst mit einer jüngeren Frau nicht mithalten“, wirft sie Barbara an den Kopf.

Hawemann nutzt in seiner Inszenierung exzessiv die Drehbühne und fordert von seinen Schauspielern höchsten Einsatz. Besonders beeindruckend war das Konterfei von Beverly (ebenfalls gespielt von Andreas Beck) während der Trauerfeier. Als schwebte sein Geist noch über der Familie.

Eine kleine, aber wichtige Rolle spielte Alexander Xell Dafov als unterstützende Pflegekraft Johnna, der auch noch live die Musik auf der Gitarre und dem Akkordeon spielte.

Ein monumentales Stück, das vor allem nach der Pause an Schwung und Dramatik gewinnt. Hier stehen nicht nur die Frauen im Mittelpunkt, sondern auch der Wertewandel von Generation zu Generation. Von einer Familie zu einer Gemeinschaft, mit der man nur zufällig genetisch miteinander verbunden sei, wie zu Ivy ihren Schwestern sagt. Nicht mehr von „Blut ist dicker als Wasser“. Hier werden Familienbande nicht nur gelöst, sondern auch radikal gekappt.

Auch die Frage „Was machen wir mit Mutter?“ steht im Raum. In Hawemanns Inszenierung bleibt letztendlich Barbara bei ihr, da sich ihr Familienglück komplett aufgelöst hat, während Ivy und Karen das Weite suchen.

Wetten, dass Ihnen das Lachen im Hals stecken bleibt

Bodo Aschenbach (Frank Genser) begrüßt den Kandidaten Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann). (Foto: © Birgit Hupfeld)
Bodo Aschenbach (Frank Genser) begrüßt den Kandidaten Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann). (Foto: © Birgit Hupfeld)

Ausgerechnet am Sonntag, den 23. August 2015 um 19:30 Uhr fand sie statt – die große Wiedergeburt der Samstagabendshow. Die Premiere der „Die Show“ (ja, englisch ausgesprochen!) zeigte, warum es sich lohnt ins Dortmunder Schauspiel zu gehen. Knapp drei Stunden witzige, gefühlvolle, musikalische, verrückte, technisch anspruchsvolle, zynische Unterhaltung. „Die Show“ ist einfach kultverdächtig.

Ok, 2.000 Bewerbungen, um als Kandidat in der nächsten Staffel der „Die Show“ mit zuspielen, wird das Theater Dortmund wohl nicht bekommen. Anders als das Vorbild „Die Millionenshow“ von Wolfgang Menge, die 1970 ausgestrahlt wurde. Dafür war die „Die Show“ doch ein bisschen zu deutlich als Mediensatire erkennbar.

Wie beim „Millionenspiel“ geht es bei der „Die Show“ darum, dass ein Kandidat mehrere Prüfungen zu überstehen hat, bis er eine Millionen Euro erhält. Dabei wird er von drei Leuten alias dem „Kommando“ verfolgt, die am sechsten Tag, der Live-Ausstrahlung der Sendung, sogar die Lizenz zum Töten haben. Lotz muss die ganze Zeit unbewaffnet bleiben.

Hinein also ins Schauspielhaus Dortmund, das sich für die „Die Show“ zum Fernsehstudio wandelt. Was gehört natürlich zu Beginn einer jeden Live-Show? Der Anheizer oder auch „Warm-Upper“ genannt. Carlos Lobo spielte ihn mit einer wahren Freude. Dabei halfen natürlich auch die Fußballergebnisse vom Nachmittag und mit dem BVB als Tabellenführer ging das Klatschen viel leichter.

Das Gewerke des Theaters hatten ganze Arbeit geleistet und zauberten eine beeindruckende Showtreppe im knallen Rot hin, während in der rechten Ecke die Sitzgelegenheiten und sehr aparte Tische (ein Hingucker!) für die Moderation und deren Gäste vorhanden war. Links war die Rezeption und darüber spielte die Band. Aber zur Musik kommen wir später.

Neben dem Kandidaten Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann) ist in einer Fernsehshow natürlich der Moderator das wichtigste Element. Es würde nicht verwundern, wenn für eine eventuelle Neuauflage von „Wetten, dass…“ Frank Genser ins Gespräch gebracht würde, denn seine Darstellung als Moderator Bodo Aschenbach war umwerfend. Ähnlich wie bei den großen Moderatorenvorbildern ist Aschenbach ein König der belanglosen Überleitungen, die von einer Sekunde zu anderen von einem tragischen Beitrag zu einem musikalischen Gast überleiten können. „Wer vor dem Fernseher sitzt, kann jedenfalls nicht gleichzeitig foltern“, kommentiert er eine Szene, in der Kandidat Lotz Schmerzen zugefügt werden. Kuschmann war als gepeinigter Gejagter ziemlich beeindruckend, vor allem gegen Ende, als er völlig verzweifelt war.

Aschenbach wurde Assistentin Ulla zur Seite gestellt, eine Mischung zwischen Sylvie van der Vaart und Michelle Hunzinger. Julia Schubert, mit roter Perücke und holländischem Akzent, spielte ebenfalls großartig. Immer zwischen geheuchelter Anteilnahme und trockenem Zynismus.

Im Mittelpunkt stand natürlich der Kandidat Bernhard Lotz. Dabei hatte Sebastian Kuschmann die meiste Arbeit bereits im Vorfeld hinter sich gebracht, denn die fünf Aufgaben, die Lotz in den Tagen davor absolviert hatte, wurden als Einspieler gezeigt. Erst gegen Ende der Show kam Lotz live auf die Bühne, um die letzte Aufgabe „Silver Bullet“ zu absolvieren, da er sich leider bewaffnet hatte, um gegen das „Kommando“ zu bestehen.

Zu einer Live-Show gehört auch Musik. Die stammt vom neuen musikalischen Leiter des Schauspielhauses, Tommy Finke, der mit seinen Mitstreitern nicht nur die Studioband „Tommy Love and the Smilers“ bildete, sondern auch die Musik für die Stargäste schrieb.

Zu den Stargästen gehörte die umjubelte „Baeby Bengg“, eine J-Pop-Sängerin im Mangastyle und die an Klaus Nomi erinnernde „Brit Bo“. Beide wurden von Eva Verena Müller gesungen. Ein großen Auftritt hatte auch Sebastian Graf als „Johannes Rust“, dem ehemalige DSDS-Sieger und jetzigen Musicalstar, der mit seinem Jesus-Musical Erfolg hat. Der kleine Seitenhieb geht an Alexander Klaws, der in Dortmund ja den Jesus in „Jesus Christ Superstar“ singt.
Bettina Lieder sang den Anastacia-Klon „Slyvia Saint-Nicolas“ ebenso gekonnt wie Julia Schubert einen Song der Assistentin Ulla. Zum Schluß brachte Schubert als Lotzes Freundin „Cindy“ auch eine schräge Sarah-Conner-mäßige Version der deutschen Nationalhymne.

Für diese Produktion haben sich alle im Schauspielhaus sehr ins Zeug gelegt. Das ganze Ensemble war zumindest in kleineren Rollen zu sehen. Köstlich war Ekkehard Freye als Dortmunder Oberbürgermeister, der vor dem Rathaus eine Rede zum Tod der BVB-Hoffnung „Ricardo Gomez de la Hoz“ hielt. De la Hoz (Peer Oscar Musinowski) war als Kollateralschaden vom „Kommando“ erschossen worden. Das Kommando bestand aus Andreas Beck, der den ehemaligen Hells-Angel Bruno Hübner spielte, Bettina Lieder als russische Killerin Natascha Linovskaya und Björn Gabriel, der den leicht irren Howie Bozinsky verkörperte. Sehr schräg war auch Uwe Schmieder als Elisabeth Lotz, die Mutter vom Kandidaten Bernhard.

Die „Die Show“ hat neben ihrer klaren Medienkritik an den Formaten wie „Dschungelcamp“, „Big Brother“ und andere auch eine aktuelle Komponente. Denn Flüchtlinge aus Syrien oder Afrika müssen auch mehrere „Prüfungen“ absolvieren, um letztendlich an ihr Ziel zu gelangen. „Endlich mal ein Flüchtling, zu dem man halten kann“ oder „Dem geht es doch nur ums Geld“ waren die (fiktiven) Zuschauerkommentare zur Situation von Lotz.
Aufs Korn genommen wurde auch die unsäglichen Charity-Aktionen von Prominenten und die deutsche Tierliebe. Als Lotz bei einem Spiel von Hunden gejagt wird und die Tiere verletzt, ist natürlich die Empörung groß. Wegen der Hunde, nicht wegen Lotz.
Kritiker der Sendung werden auch nicht einfach vom Saalschutz abgeführt. Das gibt es bei Moderator Aschenbach nicht, er lässt – wie damals Gottschalk – den Kritiker zu Wort kommen. Oder besser: er lullt ihn mit seinem Geschwafel ein, bis er geht.

Die drei Stunden vergingen fast wie im Flug. Das ist ein großes Verdienst aller Beteiligten und vor allem von Regisseur Kay Voges. Schließlich überzog „Wetten, dass“ auch regelmäßig. Um alle kleinen Feinheiten zu erkennen, sollte man öfter in die „die Show“ gehen. Es lohnt sich vor allem wegen den guten Schauspielern und der tollen Musik. Ein unterhaltsamer, aber auch nachdenklicher Abend. „Die Show“ hat die Messlatte für diese Saison schon ziemlich hoch gesetzt.

Die „Die Show“ ist wieder in Dortmund am 29. August, 13. und 30. September und 12. November 2015.

Houellebecq als Live-Animationsfilm

Isabelle und Daniel auf der großen Leinwand. Bettina Lieder, Andreas Beck, Frank Genser und Merle Wasmuth drum herum. (Foto: ©Birgit Hupfeld)
Isabelle und Daniel auf der großen Leinwand. Bettina Lieder, Andreas Beck, Frank Genser und Merle Wasmuth drum herum. (Foto: ©Birgit Hupfeld)

Dortmund überrascht. Dich. So lautet das neue Motto der Stadt. Was die Stadt kann, kann das Schauspielhaus schon lange. Allein in dieser Spielzeit gab es eine Punk-Operette, eine herrliche Umsetzung des Hollywoodfilms „Minority Report“, Nosferatu in Stummfilm-Optik und -mimik sowie ein „Moby Dick“ mit Puppen und Menschen. Die Premiere von „Die Möglichkeit einer Insel“ setzte noch mal einen drauf. Es wurde von den vier Schauspielern live ein Animationsfilm erstellt. Ein Premierenbericht vom 28. März 2015.

Als ratternd die starre Bühnenwand hoch gezogen wurde, hatte man zunächst das Gefühl auf einem Konzert der Gruppe Kraftwerk gelandet zu sein. Vier gleich gekleidete Menschen standen vor vier Tischen. Doch auf dem Tischen waren keine Synthesizer, sondern hier wurden die einzelnen Platten für den Animationsfilm aufgelegt. Doch auf der Bühne tat sich noch mehr. Es gab Kameraroboter, die Bilder für den Hintergrund lieferten, auch die Hintergrundbilder waren zu sehen.

Regisseur Nils Voges vom Künstlerkollektiv „sputnic“ erzählt den Roman vom Houellebecq mit Rückblenden und springt zwischen 2005 und 4005. In 4005 bilden die sogenannten Neo-Menschen eine neue hoch gezüchtete Form des Menschen. Sie werden geklont und bekommen das Bewusstsein ihres Vorgängers eingepflanzt. Im Stück erleben wir den Übergang von Daniel24 zu Daniel25. Im Laufe dieser Entwicklung wurden Lachen, Weinen und andere Emotionen herausgemendelt. Die Nachfolger müssen sich aber mit dem Leben ihres Urahns beschäftigen. Diese Aufzeichnungen sind als Rückblenden im Stück zu sehen. Daniel24/25 erfährt von einer Gruppe von Abtrünnigen, die auf Lanzarote leben soll und macht sich auf den Weg.

Vielleicht klingt die nüchterne Beschreibung ein wenig abstrakt, doch was die Schauspieler Andreas Beck, Frank Genser, Bettina Lieder und Merle Wasmuth zusammen mit der Technik auf die Bühne gebracht haben, war große Klasse. Denn sie mussten die jeweiligen Platten zum exakten Zeitpunkt auflegen und dabei den Animationsfilm vertonen. Wobei Animationsfilm nicht im Sinne von Disney oder den anderen Animationsfilmen zu verstehen ist, die Grafik erinnerte eher ein wenig an „Sin City“. Sie war dunkel, düster und reduziert.

In „Die Möglichkeit einer Insel“ geht es um die Suche nach dem Glück. Sind sie Menschen in der Zukunft glücklicher, nachdem sie versucht haben, die Emotionen durch Klonen auszumerzen? Dieses Vorgehen ähnelt ein wenig dem Buddhismus, bei dem Menschen durch Wiedergeburt versuchen, das nach ihrer Meinung leidhafte Dasein zu überwinden. Aber anstelle des spirituellen Weges wird mit dem Klonen ein wissenschaftlicher weg eingeschlagen.

Doch das Thema in der Jetzt-zeit ist das Altern, bzw. die Angst vor dem Altern. Houellebecq beschreibt den Urahn Daniel als egozentrisches, zynisches Arschloch. Die Liebe zur Chefredakteurin Isabelle gibt ihm Halt. Doch Isabelle kann sich mit ihrem Altern nicht abfinden und verlässt Daniel, nachdem ihre Ehe zu einer Einsamkeit zu zweit verkommen ist. Daniels Beziehung mit der über 20 Jahre jüngeren Schauspielerin Esther ging unromantisch per SMS in die Brüche.

Den ideologischen Überbau bei Houellebecq übernehmen die Elohimiten. Die Elohimiten haben tatsächlich eine Entsprechung in der realen Welt. Die Raëlianer vertreten eine Weltanschauung, die Wissenschaft mit biblischen Geschichten mischt. Nach ihrer Meinung sind die Götter Außerirdische. Zudem propagieren sie das Klonen. Zusammen mit dem Meditieren wollen sie dann ein höheres Bewusstsein erlangen.

Es ist unglaublich, was die drei Schauspieler mit ihren Folien zaubern (Andreas Beck steht am Soundpult), man starrt gebannt auf die große Leinwand und sieht in Echtzeit einen Animationsfilm entstehen. Zusammen mit der modernen Technik entsteht im Theater etwas überaus Faszinierendes. Puristen möglichen vielleicht einwenden: Im Theater wollen wir Schauspieler agieren sehen. Doch Nils Voges hat dieses Werk von Houellebecq in einer besonderen Weise umgesetzt.

Allen Beteiligten auf und hinter der Bühne und natürlich den Zeichnern der unzähligen Folien gehört ein großes Lob für ein überraschenden, berührenden und faszinierenden Theaterabend.

Weitere Termine: Sa, 04. April 2015, Do, 16. April 2015, So, 10. Mai 2015, Mi, 20. Mai 2015, Sa, 30. Mai 2015, Fr, 05. Juni 2015 und Fr, 19. Juni 2015.

[fruitful_dbox] Das schreiben die anderen:

WAZ

Westdeutsche Zeitung

WA

Literaturundfeuilleton[/fruitful_dbox]

Am Ende lauert der Faschismus

Caroline Hanke als desillusionierte Elektra im ländlichen Exil. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Caroline Hanke als desillusionierte Elektra im ländlichen Exil. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Elektra gegen Klytaimnestra. Revolte gegen Ordnung. Alexander Kerlin schuf aus dem Familiendrama „Elektra“ von Euripides ein wortgewaltiges Gesellschaftsdrama. Was passiert, wenn sich der ewige Kampf zwischen Revolution und unbedingten Machterhalt abnutzt? Dann entsteht aus dem Chaos etwas viel schlimmeres: Der absolute Vernichtungswillen. Etwas, das skrupellos genug ist, ohne mit der Wimper zu zucken, 100 Millionen Menschen umzubringen. Ein Premierenbericht vom 07. Februar 2015.

Die Geschichte bleibt im wesentlichen die alte: Elektra, zwangsweise mit einem Bauern verheiratet, sinnt auf Rache an ihrer Mutter Klytaimnestra. Diese hat ihren Mann und Elektras Vater Agamemnon umgebracht und ihren Liebhaber Aighist zum König ernennen lassen. Die Hoffnung auf Rache wächst, als Elektras totgeglaubter Bruder Orest auftaucht, im Schlepptau seinen Freund Pylades. Endlich kann es zum Showdown kommen, doch am Ende spielt Pylades seinen letzten Trumpf aus.

Im ersten Teil von Kerlins Neubearbeitung treffen zwei Systeme aufeinander. Das Prinzip „Machterhalt“ mit dem Motto „In unserem erfolgreichen Staat, der gut ist und ohne Alternative“ gegen die Revolte. „Ich lehne deinen Staat ab, Seine Freiheit ist die größte Heuchelei“ schreit Elektra ihrer Mutter vor ihrer geplanten Hinrichtung zu. „Lieber das Nichts als dieses Leben“.

Doch in der großen „Beschimpfungsszene“ wird deutlich, wie sich Mutter und Tochter doch ähneln. „Unsere Mittel gleichen sich und wer am Ende Recht hat weiß der Geier“, so Klytaimnestra zu Elektra.

Orest klingt am Anfang ebenfalls revolutionär, dabei ein wenig naiv. Er will „mit seinem letzten blutigen Schlag den Kreislauf des Tötens durchbrechen“. Für ein goldene Zeitalter, das gerechtere Menschen und eine bessere Ordnung der Dinge schafft. Auf zum letzten Gefecht. Doch sein Ziel Aighist zu töten, schafft er nicht, denn „Aighist ist überall. Er ist nirgendwo. Überall und nirgendwo“, verzweifelt Orest, der statt des Kopfes des Königs einen Schweinskopf mitgebracht hat.

Nachdem Elektra Klytaimnestra ermordet hat, scheint die Revolution doch geglückt, oder? Es ist Pylades, der Freund von Orest, der das Ruder an sich reißt. Aus dem schweigsamen Pylades wird der totalitäre Pylades. Nachdem er einen Ledermantel anzieht, der gewisse Ähnlichkeit mit einem Gestapo-Mantel hat, beginnt er seinen Monolog. Der erinnert in Teilen an rechte Ökos, die „um die Erde zu retten“, auch einen Großteil der Menschen vernichten würde. So redet auch Pylades. „14 Milliarden Füße. Der Erdball schreit um Hilfe.“ dagegen hilft nur „Erstmal bringen wir testweise 100 Millionen Menschen um. Und das einzige, was uns dann noch hilft, ist noch mal 100 Millionen umzubringen. Und so weiter.“

Alexander Kerlin präsentiert uns einen Kampf der Systeme, der nach dem Motto endet „wenn zwei sich streiten freut sich der Dritte“. Ruhig und gelassen wartet Pylades auf seine Chance, die kommen wird, wenn sich beide Systeme erschöpft haben. Eine ähnliche Situation wie in den 30er Jahren in Deutschland.

Sehr stark in dem Stück waren die beiden Frauenrollen der Elektra und der Klytaimnestra. Caroline Hanke war nach ihrer Zeit im Mutterschutz wieder voll aktiv, wie man sofort zu beginn sah, als sie sich mit gymnastischen Übungen auf eine Art von Einsatz vorzubereiten schien. Friederike Tiefenbacher spielte eine Klytaimnestra als „Diva der herrschenden Klasse“. Elegant, aber auch festkrallend an der Macht war sie eine ebenbürtige Gegnerin von Elektra.

Peer Oscar Musinowski zeigte einen Orest, der an seiner Aufgabe Aighist zu töten scheitert. „Die Tragödie ist aus“, verzweifelt er. „Da ist kein Feind mehr, der eure Freiheit unterdrückt“. Musinowski bringt diesen Zwiespalt zwischen den energischen Orest zu Beginn und dem desillusionierten Orest gegen Ende des Stückes gut auf die Bühne.

Carlos Lobo hat eine sehr spannende Rolle, denn er spielt den Pylades. Der sagt erst einmal gar nichts und steht wie ein Unbeteiligter im Hintergrund. Erst am Ende, als sich die Kräfte der Revolte und des Beharrens erschöpft haben, kommt er zu seinem großen Auftritt.

Der Bauer/Henker wurde von Frank Genser dargestellt. Der Henker, der eigentlich Elektra töten sollte, bekommt sie zur Frau und wird Bauer. Aus einem Werkzeug der Mächtigen entwickelt der Charakter eine Art „Stockholm-Syndrom“ und stellt sich auf die Seite Elektras. Doch sein Henkerhandwerk scheint noch nicht vergessen, er dient sich Pylades an. „Wo echte Not herrscht, wird mein Handwerk noch geschätzt.“

Mit viel Humor spielten auch die Chormitglieder Bettina Lieder und Merle Wasmuth ihre Rollen. Der Chor, der das Volk symbolisiert stellte sich je nach Situation immer auf die Seite derjenigen, die gerade obenauf war.

Regisseur Paolo Magelli stellte in „Elektra“ die Schauspieler in den Mittelpunkt seiner Inszenierung. Das Bühnenbild war reduziert. Das Feld des Bauern wurde mit Schottersteinen dargestellt, um die Kargheit des Bodens zu symbolisieren. Einfache Tische und Stühle.

Daneben gab es Videoeinblendungen mit Klytaimnestra und Elektra und Orest als Kindern. In dieser Art Rückblende versucht die Mutter ihren Kindern die „wahre“ Geschichte von Helena, Paris und Agamemnon zu erzählen. Ihre Kinder schreien aber „Du lügst, du lügst!“

Die Musik kam von einer Liveband mit dem musikalischen Leiter des Schauspiels Paul Wallfisch sowie Geoffrey Burton und Larry Mullins. Ihre Musik war avantgardistisch, manchmal laut, aber nicht schrill und passte sich dem Geschehen auf der Bühne an.

Elektra wurde entscheidend gegen den Strich gebürstet und mit vielen Anspielungen aus der Jetztzeit versehen. Das ist ein Verdienst der Textbearbeitung von Alexander Kerlin. Ein sehenswertes Stück.

Im Fegefeuer der Eitelkeiten

Der Moment der Wahrheit, als Johan erzählt, er habe eine Geliebte.  Friederike Tiefenbacher Carlos Lobo Bettina Lieder Uwe Schmieder Julia Schubert Frank Genser Merle Wasmuth. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Der Moment der Wahrheit, als Johan erzählt, er habe eine Geliebte. Friederike Tiefenbacher, Carlos Lobo, Bettina Lieder, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Frank Genser und Merle Wasmuth. (Foto: © Birgit Hupfeld)

„Love is a Battlefield“, sang Pat Benatar im Jahre 1983. Und in dieses Schlachtfeld geraten Johan und Marianne nach zehn Jahren Ehe. Urplötzlich und heftig. Claudia Bauer nahm sich „Szenen einer Ehe“ von Ingmar Bergman vor und verwandelte den Film in eine besondere Bühnenfassung mit multiplen Johanns und Mariannes. Ein Premierenbericht.

Johann und Marianne führen seit zehn Jahren eine mustergültige Ehe. Sie haben zwei Kinder, Erfolg im Beruf und sind der Ansicht, dass sie ihre Konflikte offen besprechen können. Doch plötzlich erklärt Johann, dass er sich in ein junge Frau namens Paula verliebt habe und verlässt sie. Für Marianne bricht eine Welt zusammen, doch nach einiger Zeit lernt sie, mit den Geschehnissen umzugehen. Dennoch bricht die aufgestaute Aggression am Ende durch.

Stecken in einem Menschen nicht mehr als eine Persönlichkeit? Mal muss man die devote oder die freundliche Gesicht zeigen. Manchmal präsentiert man auch hässliche Fratze. Aber man muss funktionieren, ob im Beruf oder in der Familie. Regisseurin Claudia Bauer lässt Marianne und Johan in vier Paare aufspalten, die völlig unterschiedlich mit der Katastrophe der Trennung umgehen (müssen). Vom Flehentlichen „Bitte bleib doch“, bis hin zum Wütend werden, all das zeigen die unterschiedlichen Mariannes in der Szene als Johan zu Paula geht.

Wie konnten Johan und Marianne es nur zehn Jahre aushalten und zwei Kinder bekommen? Durch Verstellung und durch Verleugnung der eigenen Wünsche. Besonders schön zu sehen in der ersten Szene: Katarina und Peter zwei Freunde von Johann und Marianne kommen zu Besuch. Alle tragen Masken, um ihre wahren Gefühle nicht gegenüber ihren Freunden zu zeigen. Die „wilde“ Art mit der Katarina und Peter ihre Ehe und Streitigkeiten austragen, irritiert Marianne und Joahnn.

Dass die unterdrückten Aggressionen bei Marianne und Johann brodeln, wurde in der nächsten Szene deutlich. Ihre Versuche aus dem täglichem Einerlei auszubrechen, sind zum Scheitern verurteilt. Brav bleiben sie hinter Schafsmasken versteckt, aber wollen den jeweiligen Partner mit dem Telefon eins überbraten.

Besonders komisch wurde es vor allem in der Szene. Als Johan, in dem Fall Carlos Lobo, bei einem Wiedersehen ein paar Jahren nach der Trennung erkennt, dass seine inzwischen starke Ex diese anscheinend besser verarbeitet hat als er selber. Der „weinerliche Johan“ lässt sich von allen Seiten trösten und klagt sein Leid über die „anstrengende“ Geliebte Paula.

Das ganze Stück hindurch wird auch musikalisch mit einem Soundtrack begleitet. Vom positiven „(You make me feel) Mighty Real“ von Jimmy Somerville zu Beginn über das verzweifelte „Jolene“ von Dolly Parton als Johan Marianne verlässt bis hin zum „Love Hurts“ von Roy Orbinson am Ende werden die Emotionen musikalisch verarbeitet. Teilweise singen die Schauspieler auch live.

Am Ende haben die beiden wieder ein gemeinsames Verhältnis gefunden. Als gute Freunde, die heimlich im Landhaus ihrer Leidenschaft frönen können, ohne gesellschaftliche Verpflichtungen oder irgendwelche Rollens spielen zu müssen.

Respekt an alle Schauspielerinnen und Schauspieler, die vier Mariannes und Johans gespielt haben. Dabei waren Frank Genser, Sebastian Kuschmann, Bettina Lieder, Carlos Lobo, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth.

Ein oft grotesk-komisches und sehr direktes Schauspiel.