Ars tremonia

Yoko Tawada – Vier Bücher, ein literarischer Kosmos

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Als jemand, der Japanisch lernt, bewundere ich die spielerische Präzision, mit der Yoko Tawada sich durch die deutsche Sprache bewegt. Was ich selbst im Japanischen nur mit Mühe erwerbe, verwandelt sie scheinbar mühelos in poetische Energie. Ihre Texte zeigen, wie sehr das Denken in einer anderen Sprache den Blick auf die eigene verändert – und wie überraschend, manchmal auch heiter irritierend, sprachliche Systeme sein können.

Ein kleines Beispiel aus meiner Lernpraxis: Im Japanischen zählt man kleine Tiere wie Katzen mit ippiki, nihiki und so weiter; große Tiere wie Elefanten dagegen mit ittō, nitō usw. Und Schafe? Sind sie groß oder klein? Solche Fragen mögen banal erscheinen, doch sie öffnen Fenster zu den vielen sprachlichen „Gemeinheiten“, über die Lernende stolpern – und zu dem Vergnügen, das in der Überwindung dieser Stolpersteine liegt. Doch zurück zu Yoko Tawada.

Wenn Tawada am 14. Dezember 2025 in Dortmund den Nelly-Sachs-Preis entgegennimmt, wird eine Autorin geehrt, deren Werk wie wenige andere die Grenzen von Sprache, Identität und Wahrnehmung spielerisch und zugleich subversiv auslotet. Tawada schreibt nicht nur über Sprache – sie schreibt in der Sprache, gegen die Sprache, durch sie hindurch. Das Schreiben wird bei ihr zu einem Labor, in dem Wörter wandern, Bedeutungen verrutschen und das vermeintlich Offensichtliche ins Staunen kippt.

Die vier Bücher, die hier gemeinsam betrachtet werden – „Eine Affäre ohne Menschen“, „Talisman“, „akzentfrei“ und „Abenteuer der deutschen Grammatik“ – beleuchten verschiedene Facetten ihres literarischen Universums. Gemeinsam bilden sie ein poetisches Gesamtporträt einer Autorin, die zwischen den Sprachwelten Japanisch und Deutsch lebt und gerade aus diesem Dazwischen ihre unverwechselbare Stimme gewinnt.

 

Zwischenräume als poetischer Ursprung

Der vielleicht prägendste Eindruck beim Lesen dieser Werke ist, dass Tawada dort zuhause ist, wo andere nur Übergänge vermuten: im Scharnier zwischen Sprachen, in den Rissen zwischen Kulturformen, in den Lücken zwischen Wahrnehmung und Beschreibung. Für sie sind Sprachen keine abgeschlossenen Systeme, sondern bewegliche, atmende Organismen. Indem sie sich zwischen dem Japanischen und dem Deutschen bewegt, entzieht sie sich der Vorstellung einer „Muttersprache“. Sie schreibt aus einer Position, die Bindungen nicht verweigert, sondern neu denkt – als etwas Durchlässiges, Vielstimmiges, stets Veränderbares.

 

Die Anatomie der Regeln: „Abenteuer der deutschen Grammatik“

Dieses Buch ist vielleicht das spielerischste der vier. Tawadas Gedichtband ist kein Lehrbuch, sondern eine poetische, philosophische und zutiefst humorvolle Erkundung der deutschen Sprache. Der Blick „von außen“ führt zu Verfremdungen, die Leserinnen und Leser zur Reflexion anregen und liebgewonnene Gewohnheiten in Frage stellen.

"Abenteuer der deutschen Grammatik" von Yoko Tawada.
„Abenteuer der deutschen Grammatik“ von Yoko Tawada.

Tawada nutzt die Grammatik als Bühne für kleine sprachliche Experimente, in denen sie gewohnte Regeln bricht und Alltägliches lebendig werden lässt. Wenn sie beispielsweise schreibt „er hemt. wenn ich bluse.“, verwandelt sie Nomen in Verben und öffnet damit ungewohnte poetische Bildräume. Auch die Wortstellung und die strenge Hierarchie des Deutschen nimmt sie ironisch in den Blick, sodass selbst die festen Strukturen der Sprache in Bewegung geraten und neue Bedeutungen hervorbringen.

Ihre vielleicht schärfste Formulierung lautet: „Sprachen bestehen aus Löchern.“ Und tatsächlich zeigt der Band, wie viel Poesie selbst in den vermeintlich trockenen Strukturen der Grammatik steckt.

 

Die Politik der Stimme: „akzentfrei“

Die Essays in „akzentfrei“ reflektieren Fragen von Sprache, Kultur und Zugehörigkeit. Tawada nimmt Begriffe wie „Akzent“, „Heimat“ oder alltägliche Begrüßungen unter die Lupe und legt die kulturellen und politischen Schichten frei, die in ihnen verborgen sind.

„akzentfrei“ von Yoko Tagawa

Zentral ist die Frage, wie Menschen wahrgenommen werden, die „anders sprechen“. Tawada zeigt, dass der Wunsch nach „akzentfreiem“ Sprechen nicht neutral ist, sondern eine gesellschaftliche Norm darstellt. Doch sie kehrt diese Norm poetisch um: Der Akzent wird nicht zur Abweichung, sondern zur Quelle neuer Bilder, neuer Denkbewegungen, neuer Möglichkeiten.

 

Die Migration der Wörter: „Talisman“

Der Roman „Talisman“ setzt das Gefühl des Dazwischenseins in eine fiktionale Form um. Das Manuskript, das die Protagonistin in Deutschland verfasst, wird zum Übergangsobjekt und Schutzschild: Schreiben in einer Fremdsprache wird zu einem Akt der Selbsterschaffung. Tawada zeigt, wie Erinnerung, Sprache und Identität ineinander greifen und sich gegenseitig verwandeln – manchmal wie Zauberformeln, manchmal wie schattenhafte Bewegungen in einem Zwischenreich.

"Talisman" von Yoko Tagawa
„Talisman“ von Yoko Tagawa

 

Die entkörperte Sprache: „Eine Affäre ohne Menschen“

Mit diesem Werk verschiebt Tawada den Fokus radikal ins Posthumane. Nicht der Mensch steht im Zentrum, sondern das Andere: Tiere, Gegenstände und schließlich ein synthetisches KI-Wesen. Die letzte Poetin versucht, der künstlichen Intelligenz die japanische Sprache zu übergeben – ein Gedächtnis, das ohne Körper weiterlebt.

Der Text untersucht, was geschieht, wenn Sprache von körperlicher Erfahrung, Emotion und sozialer Einbettung abgelöst wird. Tawada entwickelt hier eine poetische Vision einer Welt, die ohne menschliche Selbstvergewisserung auskommt – und in der Sprache dennoch weiteratmet.

"Eine Affäre ohne Menschen" von Yoko Tagawa
„Eine Affäre ohne Menschen“ von Yoko Tagawa

 

Warum Tawada den Nelly-Sachs-Preis verdient

Die vier Bücher zeigen Yōko Tawada als Autorin, die in zwei Sprachwelten zuhause ist, ohne sich in eine festzulegen. Ihr Werk bildet ein poetisches Experimentierfeld, in dem Worte, Dinge und Wahrnehmungen ihre Selbstverständlichkeit verlieren und neue Bedeutungen gewinnen. Tawada erinnert uns daran, dass Sprache kein Besitz ist, sondern Bewegung – und dass Literatur dort beginnt, wo diese Bewegung spürbar wird. Die Preisverleihun ist am 14. Dezember um 11 Uhr.

Alle Bücher von Yoko Tagawa sind im Konkursbuchverlag Claudia Gehrke erschienen. Dort ist auch ein weiterer Roman von ihr erschienen mit dem Titel „Etüden im Schnee“.