Am 10. Mai feiert die Gruppe „i can be your translator“ Premiere auf der Bühne des Theater Dortmund. Anlässlich des geplanten Umzugs des Theaters in eine andere Spielstätte zum Ende des Sommers, lädt die seit zwei Jahren am Haus gastierende Gruppe das Publikum zu einem „Abriss!“.
Gemeinsam mit dem Publikum finden sich die Performenden auf der Bühne selbst ein, um die Frage zu verhandeln, was eigentlich genau abgerissen werden soll. Dafür treten sie eine klassische Held:innen-Reise an, die ziemlich unklassisch endet. Doch bevor es losgeht, werden die Besucher:innen erstmal gebrieft. Es handele sich um eine Relaxed-Performance, bei der Geräusche und bei Bedarf das Verlassen und Betreten des Raumes erlaubt seien. Außerdem werden die lauteste, hellste und dunkelste Stelle im Stück vorangekündigt. Hier äußert sich der erste Abriss klassischer Theaterformen: Statt das Publikum chronologisch in die Illusion der Geschichte einzuführen, wird der Ablauf und das zu erwartende Ende transparent gemacht und somit auf diverse neurodivergente Voraussetzungen im Publikum eingegangen.
In einer humoristischen Kurz-Zusammenfassung fächert das mixed-abled Ensemble dem Publikum zunächst eine Bandbreite von Held:innen-Geschichten auf: Pippi Langstrumpf, Indiana Jones, Rapunzel, Harry Potter, Tiger & Bär, Dune, Käpt’n Blaubär… und so weiter und so fort. Schnell wird klar, dass sie alle nach ähnlichem Muster funktionieren. Also muss eine neue Geschichte her! Dazu werden die neuen Held:innen gerufen und in einer Art Initiationsritual begrüßt. Der Performer Christian Schöttelndreier aka Schotti tritt mit einer leuchtenden Neon-Röhre auf, die an etwas zwischen Laserschwert und futuristischem Brennstab erinnert. Aufwändig und mit größter Sorgfalt wird die Röhre in eine von vier großen Säulen à la Atommülleimer (Bühne: Birk-André Hildebrandt) eingesetzt und schon geht es los: Eine Dreh-Plattform transformiert sich zur Bühne auf der Bühne und die Performer:innen formieren sich zu einer Band. Begleitet vom Musiker Christian Fleck, der an einem massiv verkabelten Musiktisch thront, und verschiedenen Instrumenten – darunter die für die Gruppe charakteristischen (diesmal neonfarbigen) Blockflöten – spielen sie „I need a hero“ von Bonnie Tyler.

Mit viel Witz und Leichtigkeit nähern sich die Performenden nun ihrem eigenen Held:innentum. In futuristischen Kutten (Kostüm: Renè Neumann) durchlaufen sie ein Reenactment des populären Heldenepos „Herr der Ringe“. Dabei führt die Zuordnung der Rollen die vermeintlich ehrbaren Eigenschaften der Figuren liebevoll ad absurdum. Während die größte Performerin den Zwerg Gimli mimt, präsentiert Schotti dem Publikum als Legolas seinen pfeilschnellen Bogenschuss in gefühlten 10 Minuten. Das Spiel mit Asynchronitäten und ungewohnten Geschwindigkeiten kommt an diesem Abend nicht nur ein Mal zum Einsatz und führt dem Publikum mit einem Augenzwinkern vor, wie unterschiedlich die Wahrnehmung von Zeit sein kann.
Auf der weiteren Reise changieren die Erzählungen des Ensembles zwischen Humor und Ernsthaftigkeit, wenn sie von Ungerechtigkeiten, Defiziten, Gewalt, Diskriminierung und Barrieren erzählen. Die Performerin Anna Reizbikh tritt mit ihrem Rollstuhl den beschwerlichen Weg an von der Bühne, über den Hinterausgang raus, um das Gebäude herum, hinein in das Foyer des Theaters, mit dem Aufzug hinauf und rein in den Publikumsraum. In dieser Szene trifft die Bitterkeit der Realität von Menschen, die solche Barrieren tagtäglich überwinden müssen, auf schwarzen Humor. Die persönliche „Reise zum Mond“ wird abgerundet mit einer Gesangseinlage und weiteren Geschichten rund um grundlegende Probleme in unserer Gesellschaft: von der Unterversorgung im Gesundheitswesen, struktureller Diskriminierung und alltäglichen Gewalterfahrungen enden „i can be your translator“ bei der Erkenntnis, dass es all diese Probleme abzureißen gilt, um die Welt besser zu machen!
Symbolträchtig beschließen sie das Theater in seinen Grundfesten zu erschüttern und es mit einem Hammer und einem Dynamitzünder zu zerstören. Stellvertretend für das marode Schulsystem, den zu früh abfahrenden Zug, das Ehegattensplitting, die Prokrastination, zahllose Treppen und ständigen Harndrang hält der Bühnenboden für die Zerstörungslust der Gruppe her. Dabei wird Linda Fisahn mit einem chorischen „Wir bitten dich, zerstöre es!“ ekstatisch angefeuert. Nach diesem euphorischen Ritus, der Funken von Pyrotechnik und ein Loch im Bühnenboden hervorbringt, steht das Theater zwar immer noch in seinen Grundfesten, doch der Akt hat eine befreiende Wirkung.
Jetzt sind der Phantasie keine Grenzen mehr gesetzt, wie die Geschichten sich ändern müssten, damit sie die Welt verbessern, statt ihre Probleme zu verschärfen. Dabei bleibt eine Traurigkeit über den Abschied von einst geliebten Epen und Heroen (Stichwort: Darth Vader als faschistischer Massenmörder) nicht aus. Außerdem herrscht Uneinigkeit im Held:innenkollektiv darüber, wie genau die Wirkkraft der Geschichten umgekehrt werden kann. Brauchen unsere Geschichten mehr Tiefe, mehr Fokus auf das Individuum oder doch einfach nur mehrstimmige Lieder? Die Frage bleibt unbeantwortet und ein letzter Wunsch steht im Raum: Dass am Ende dieser Geschichte ein Zaubertrick steht. Doch wie der genau aussieht? Wer weiß…
Mit: Lis-Marie Diehl, Linda Fisahn, Christian Fleck , Ekkehard Freye, Julia Hülsken, Marlena Keil, Anna Reizbikh, Christoph Rodatz, Christian Schöttelndreier, Laurens Wältken