Ars tremonia

Antichristie – eine antikolonial-zeitreisende Detektivgeschichte

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Der Regisseur Kieran Joel bringt Mithu Sanyals zweiten Roman „Antichristie“ auf die Bühne. Auf der stürmischen, knapp dreistündigen Reise durch die Zeiten trifft das Publikum auf ein Mashup aus Detektivroman, Kolonialdiskurs und Identitätskrise. Die Hauptfigur ist die 50-jährige Drehbuchautorin Durga, gespielt von Maya Alban-Zapata. Sie struggelt mit ihren deutsch-indischen Wurzeln, ebenso wie mit ihren Aufgaben im britischen Produktionshaus „Florin Court Films“. Während sie selbst darum kämpft, in der Medienbranche ernst genommen zu werden – ihr Auftrag ist es, Agatha Christie politisch korrekt neu zu interpretieren – hat ihre biodeutsche, aber frisch verstorbene Mutter Lila als Aktivistin für den indischen Freiheitskampf scheinbar mehr mit ihrer Identität zu schaffen als Durga selbst es zu fühlen vermag. Beziehungsstatus: schwierig!

 

Die Verarbeitung des Todes der Mutter löst einen inneren Prozess bei Durga aus, der sich auf Handlungsebene als Zeitreise, auf Dialogebene als philosophisch-politischer Diskurs und auf Bühnenebene in Form von zirkulierenden Bühnenelementen veräußert. Plötzlich fällt die Protagonistin durch Raum und Zeit und landet im London der 1910er Jahre. Dort begegnet sie einer Gruppe von Revolutionären im „Indian House“, die mit gewaltsamen Methoden gegen die britische Kolonialherrschaft kämpfen.

 

Doch hier wird’s komplex: Denn im Gegensatz zur Literaturvorlage schmeißt Joel die Zuschauenden direkt in die Vergangenheit, wechselt dann zum Jahr 2022 und enthüllt erst nach einem gefühlten Drittel der Inszenierung, dass das parapsychologische Ereignis einer Zeitreise die beiden Handlungsstränge verbindet. Die Schauspieler:innen auf der Bühne erläutern dabei analytisch, warum gerade das nicht-lineare Erzählen politisch widerständig ist und wie es koloniale Narrative unterlaufen kann. Übrigens wechselt die Hauptfigur nicht nur zwischen den Zeiten, sondern auch den Geschlechtern. Denn 1906 findet sich Durga im Körper des männlichen Freiheitskämpfers Sanjeev wieder, der von Viet Anh Alexander Tran gespielt wird und wie ein Kehrbild von Durgas Mutter in der Vergangenheit anmutet.

v.l.n.r.: Linda Elsner, Viet Anh Alexander Tran, Marlene Goksch, Puah Abdellaoui, Roberto RomeoFoto: © Birgit Hupfeld
v.l.n.r.: Linda Elsner, Viet Anh Alexander Tran, Marlene Goksch, Puah Abdellaoui, Roberto Romeo
Foto: © Birgit Hupfeld

Die Bühne besteht aus rollenden Gebäudemodulen, die teils der vergangenen und teils der gegenwärtigen Zeit zugehören, jedoch ästhetische Ähnlichkeiten aufweisen und wechselnd in den Vordergrund rollen oder kombiniert werden. Hinzu kommen Videoprojektionen, die weitere Zeitebenen durch Bilder von historischen Freiheitskämpfen und ihren Akteur:innen einbringen. Durch die ständige Anwesenheit mehrerer Zeitebenen auf der Bühne und rasante Wechsel zwischen ihnen mischt Joel sie auf eine Weise, die den Fokus auf die Parallelen und Bezüge zwischen den Zeiten legt. Die Dramaturgie von „Antichristie“ wird somit zum formalen Exempel für die Verwobenheit kolonialer Strukturen, über die sowohl im „Florin Court Films“-Büro als auch im „Indian House“ heiß debattiert wird. Im Mittelpunkt beider Ebenen stehen Fragen nach politischer Wirksamkeit, nach Pazifismus als Teil eines kolonialen Systems und danach, ob Gewaltausübung eine politisch unterdrückte Gruppe zum politischen Subjekt machen kann. Das schauspielerisch sehr starke Ensemble wird dafür von Mitarbeitenden aus der Maske und Kostüm unterstützt, die ihr Gewand fast im Minutentakt zwischen modernem Dress und morbider schwarz-weiß-Ästhetik changieren lassen.

Joels Inszenierung ist ein wahrlich komplexer Ritt durch Sanyals Roman, der mit dramaturgischer Raffinesse, Witz und inhaltlicher Tiefe überzeugt. Immer wieder begegnen uns hoch politische Diskussionen über dekoloniale Kämpfe, Unterdrückungsmechanismen, Kultur als Machtinstrument, die Frage nach der Möglichkeit des Richtigen im Falschen… und dann kommt auch noch das Detektivgenre hinzu, an dem sich das Stück inhaltlich und formal abarbeitet. 1906 geschieht ein Mord, den es aufzuklären gilt. In 2022 streitet Durga mit ihren Kolleg:innen darüber, ob und wie verstaubte Detektivgeschichten von Christie dekolonisiert werden sollten. 1906 wiederum taucht plötzlich Sherlock Holmes auf, um aufzuzeigen, dass er detektivisch brillant, aber politisch eben von vorgestern ist. So verabschiedet sich „Antichristie“ – spätestens jetzt ergibt der Titel einen Sinn – von der Herrschaft der klassischen Detektive à la Poirot. Es setzt dem Prinzip der Deduktion das nicht-lineare Erzählen entgegen und erklärt die Zeitreise zum metaphorischen Instrument für die Dekolonisierung unserer Gesellschaft. Zum Ende des Stücks ist die Drehbühne in ständiger Bewegung und es scheint nicht mehr relevant, in welcher Zeit wir uns befinden. Denn schließlich bleibt die Erkenntnis, dass nur die Aktion und das gewaltsame Eingreifen in unsere eigenen Geschichten Graustufen zeichnen können, die nicht zwischen die Schwarz-Weiß-Stufen der Kolonial-Logik passen.

 

 

 

 

 

Von und mit

Durga Chatterjee: Maya Alban-Zapata

Sanjeev Chattopadhya: Viet Anh Alexander Tran

Lila Chatterjee: Katharina Dalichau

Godfrey Jeremy Stoddart-West, Kirtikar Elsner und andere: Linda Elsner

Christian Fowler, Vinayak Damodar Savarkar und andere: Luis Quintana

Shazia Bey, Madan Lal Dhingra und andere: Puah Abdellaoui

Carwyn Fardd, William Hutt Curzon Wyllie und andere: Roberto Romeo

Maryam Olando, Asaf Ali und andere: Marlene Goksch

 

Regie: Kieran Joel

Bühne: Justus Saretz

Kostüme :Tanja Maderner

Musik: Lenny Mockridge

Video: Leon Landsberg

Dramaturgie: Sabrina Toyen

Theatervermittlung: Sarah Jasinszczak

Sprechtraining: Sybille Krobs-Rotter

Licht/ Video: Stefan Gimbel, Markus Fuchs

Ton: Jörn Michutta

Regieassistenz: Marleen Seiter und Bayram Umur Yildirim

Bühnenbildassistenz: Slynrya Kongyoo

Kostümassistenz: Elayne Sip

lnspizienz: Christoph Öhl

Soufflage: Klara Brandi