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Traumatisiert im Flüchtlingselend

Überall in den Nachrichten sehen, hören oder lesen wir über Flüchtlinge. Was treibt diese Menschen, speziell Kriegsflüchtlinge, ihre Heimat zu verlassen und irgendwo anders ein neues Leben aufzubauen? Davon erzählt das Stück „Krieg“ von norwegischen Autor Lars Norén, das am 12. April 2015 in der türkischen Fassung „Savaş“ des Theaters Pürtelaş Tiyatro im Rahmen der Reihe „Szene Istanbul“ im Studio unter der Regie von Serdar Biliş aufgeführt wurde.

Die Geschichte um einen blinden Kriegsheimkehrer, der nach zwei Jahren zu seiner Familie zurückkehrt, aber feststellen muss, dass alles anders geworden ist, wurde von den Schauspielern berührend gespielt.

Sermet Yeşil spielt einen Vater, der einfach nur möchte, dass alles so bleibt wie zu dem Zeitpunkt, als er gegangen ist. Doch das ist nicht möglich. Das Erschrecken bei allen anderen Familienmitgliedern, als „das Gespenst“ wieder auftaucht ist deutlich zu sehen. Mit seiner Blindheit ist er in ihrem Elend ein weiterer Klotz am Bein. In Zeiten von bitterer Not ist von Solidarität nichts zu spüren. So wird das Verlangen des Vaters nach der Normalität vor dem Krieg letztendlich zu seinem Menetekel. Er wird allein gelassen.

Die Mutter (Tilbe Saran) ist in dem Stück eine Frau, die hin- und hergerissen wird. Sie schwankt zwischen der Solidarität zu ihrem Mann und der neuen Liebe zu seinem Bruder Ivan (Onur Gürçay), für den sie sich letztendlich entscheidet. Saran präsentiert eine Mutter, die versucht, ein klein wenig Ordnung im Chaos zu schaffen, was ihr ihre Töchter aber schwer machen.

Die ältere Tochter, gespielt von Damla Sönmez, ist in die Prostitution abgerutscht und versucht dadurch ein wenig Geld zu sparen, um nach Italien oder Deutschland zu flüchten. Ein ähnliches Schicksal droht kurz oder lang der jüngeren Tochter (Ecem Uzun).

Das Stück schont niemanden. Auch wenn Gewalt (fast) nicht gezeigt wird, es wird viel über sie gesprochen. Die Vergewaltigung der Mutter, die Misshandlung des Vaters im Lager, das Essen des Hundes, die täglichen Demütigungen und Narben haben bei allen Charakteren Spuren hinterlassen.

Der Feind im oberen Stockwerk

Mit dem Stück „Üst Kattaki Terörist“ (Der Terrorist aus dem ersten Stock) wurde am 18. Januar 2015 im Studio des Dortmunder Schauspielhauses die Reihe „Szene Istanbul“ fortgesetzt. Die Tragikomödie fesselte nicht nur durch sein Thema, sondern auch von der Spielfreude des jungen Hauptdarstellers.

Ins Haus des zwölfjährigen Nurettin zieht ein junger Student, Semih, in den ersten Stock. Das Problem: Semih ist Kurde und Nurettins Bruder wurde vor fünf Jahren durch eine Tretmine im türkisch-kurdischen Konflikt getötet. Nurettin hält alle Kurden für Terroristen, somit auch Semih. Semih muss getötet werden, wenn da nicht Semihs Freundin wäre, in die sich Nurettin ein klein wenig verliebt.

Das Stück ist eine Bearbeitung einer Kurzgeschichte von Emrah Serbes aus seinem Band „Erken Kaybedenler“ („Junge Verlierer“). Das Theater „Ikincikat Tiyatro“ aus Istanbul machte daraus eine tragikomische Geschichte über das Erwachsenwerden.

Nurettin sieht sich als Rächer seines Bruders, der beim Militärdienst umgekommen ist. Schon früh wurde er in die Rolle des „Rächers“ gedrängt. Er durfte nicht weinen, weil man ihm gesagt hat, das würde die Terroristen freuen. Nun zieht mit dem Kurden Semih ausgerechnet ein „Terrorist“ über ihn ein. Eins steht fest: Denizhan Akbaba, der Darsteller des Nurettin, ist der absolute Star des Stückes. Mit seiner Naivität, seinem kindlichen Nationalismus und seinen Plänen bringt er das Publikum zum Lachen.

Doch schnell wird klar, wie verführbar Menschen sind. Parolen wie „Die Kurden müssen alle sterben“ werden selbst von Kindermund zu gefährlichen Drohungen. Wenn Nurettin bei den rechtsextremen „Grauen Wölfen“ dafür sorgt, dass Semih verprügelt wird oder die Kontrollen im Wohnungsheim von Semihs Freundin verstärkt werden, so dass sie ihn nicht mehr so oft besuchen kann, spürt der Zuschauer wie aus kindlichen Ideen handfeste Probleme erwachsen.

Zum Erwachsenwerden gehört auch das erste Verliebtsein. Ausgerechnet für Semihs Freundin Evin schwärmt Nurettin, obwohl sie Halbkurdin ist. Sein Gefühlschaos wird sehr gut in Szene gesetzt, wenn er plötzlich Stammgast im oberen Stockwerk ist. Nurettins Mutter ist mit seiner Erziehung überfordert und der Vater ist im Stück abwesend.

„Üst Kattaki Terörist“ ist eine wunderbare Geschichte, die zeigt, wie der Saat der Freundschaft langsam den Hass überwuchern kann. Zum Schluss geht Nurettin sogar auf eine Studentendemo mit Semih mit und bekommt die Gewalt des türkischen Staates, auf den er ja so stolz ist, selbst zu spüren.

Neben Akbaba spielten Banu Çiçek Barutçugil, Bedir Bedir und Gozde Kacaoğlu ihre Rollen sehr sensibel.

Re-birthing auf türkisch

Der Protagonist wacht in einem merkwürdigen jenseits wieder auf. Ensemble Altidan Sonra Tiyatro. (Foto: © Yucel Kursun)
Der Protagonist wacht in einem merkwürdigen jenseits wieder auf. Ensemble Altidan Sonra Tiyatro. (Foto: © Yucel Kursun)

Als drittes Gastspiel aus der Reihe „Szene Istanbul“ wurde am 14. März 2014 im Schauspielhaus Dortmund „Du bist tot, kapiert?“ (Öldün, duydun mu?) der Gruppe Altidan Sondra Tiyatro/Kumbaraci50 unter der Regie von Yiğit Sertdemir aufgeführt.

Diese Reihe wird in Kooperation mit dem Mülheimer Theater an der Ruhr realisiert.

Das freie Theater Altidan Sondra Tiyatro hat – wie die anderen auftretenden Gruppen – seine Heimat in einem der interessantesten und vielfältigsten Viertel in Istanbul. Beyoğlu, unterhalb des Taksim-Platzes gelegen, ist zudem auch Partnerstadt(teil) von Dortmund.

Das Stück wurde in türkischer Sprache mit deutschen Übertitel gespielt.

 

Schon das Bühnenbild dieser märchenhaften, satirischen Gesellschafts-Parabel ist fantasievoll – fabelhaft angelegt. Der Bühnenboden war voll von weißen, plüschigen und Wattebäuschen ähnliche „Wolken“. Umfasst war die Bühne von einer eierschalenfarbenen, durchbrochenen Konstruktion, die nach oben hin kuppelartig abgeschlossen war. Ein Raum, der einer fantasievollen Vorstellung von einem „Jenseits“ nahe kam.

In der Mitte lugte nur der Kopf eines Mannes heraus. Begrüßt wird der Mann, nach seinem dritten Selbstmordversuch von einem Wesen zwischen Engel und Clown. Es verrät ihm, dass er im Jenseits sei. Sein Lebenswandel würde aber einer Prüfung unterzogen und er könnte eventuell eine zweite Chance bekommen. Sein Leben wird aus einem Buch in Form einer märchenhaften Parabel vorgetragen. Die Menschen leben in „Schalen“, Kinder heißen „Bobolops“, Erwachsene“Bobolips“ Geliebte „Liebliebfrauen“ und ein Suizid „Dezius“. Wir erfahren von dem herrschsüchtigen, gewalttätigen Vater, der auch seine Frau schlägt, wenn sie nicht „gut funktioniert“. Der Vater erhängt sich und der Bruder wird von Militär ermordet. Den Selbstmord des Vaters schiebt er unbewusst seiner Mutter in die Schuhe. Der Protagonist der Geschichte geht seinen Weg, studiert , wohnt in seiner eigenen „Schale“ und verliebt sich. Er verzweifelt an den gesellschaftlichen Bedingungen und unternimmt mehrere Suizidversuche. Von einem älteren „Bobolip“ wird ihm aber klar gemacht, dass er sich trotz allem dem Leben stellen muss. Nachdem ihm seine Geliebte verlassen will, unternimmt er den letzten Versuch, sich das Leben zu nehmen.

Mit weißem langen Haar und hellem Gewand steht erhöht die als „Herrin“ bezeichnete Gestalt als entscheidende Instanz für eine zweite Chance für den Protagonisten.

 

Gegen Ende wird klar, der Protagonist ist nicht tot ist, sondern befindet sich nach seinem letzten Suizidversuch in einer Art psychiatrischen Klinik. Hier wird versucht, den Protagonisten durch eine Art „Re-birthing“ „umzupolen“, so dass er seinen Hass auf die Mutter verliert.

 

Untermalt wurde das Stück manchmal mit Instrumentalmusik und zur Unterstützung der Stimmung und Aussagekraft wurde die Beleuchtung geschickt eingesetzt.

 

Die Aufführung gab interessante Einblicke in die frei Theaterszene Istanbuls und in ein Leben, dass durch ein patriarchalisches Gesellschaftssystem und der Militärherrschaft in den 80er Jahren mit all seinen Folgen für die einzelnen Menschen geprägt war.

 

Die Geschichte weckt viele unterschiedliche Emotionen. So wird zum Beispiel humorvoll erzählt, wie der Protagonist als kleiner Junge in ein Bordell gerät, aber auch tieftraurige Erlebnisse wie die Militärgewalt und der Suizid des Vaters beschrieben.

 

Am 7. April 2014 ist als letztes Stück aus der Reihe „Szene Istanbul“ am 7. April 2014 um 20.00 Uhr im Studio des Dortmunder Schauspiels Iz/ Die Spur von Ahmet Sami Üzbudak (Galataperform) zu sehen.

 

Karten und Infos gibt es unter www.theaterdo.de oder 0231 5027222.

Archaische Szenen

Szenen einer Annäherung  aus dem Musiktheater "Çinka" des Musikers Birol Topaloğlu.
Szenen einer Annäherung aus dem Musiktheater „Çinka“ des Musikers Birol Topaloğlu.

In der neuen Reihe „Szene Istanbul“ am Schauspiel Dortmund präsentierte der Musiker Birol Topaloğlu am 23. Februar 2014 unter dem Titel „Çinka“ Musik und Tanz aus seiner Heimat, der Schwarzmeerküste. Die Kosmologie des lasischen Volkes stand im Mittelpunkt.

 

Çinka“ ist eine Art weiblicher Berggeist, eine sagenumwobene Gestalt der Lasen, einem Volk an der türkischen Schwarzmeerküste,Sie bestimmt das den Kreislauf der Lebens und Vergehens. Topaloğlu führt uns in eine Zeit, bevor der Islam und das Christentum in dieser Region Fuß fasste. Mit seiner Musik und seinen Instrumenten, wie dem Tulum, einer Art Dudelsack, führt er die Zuhörer wie in einer Zeitmaschine um Jahrtausende zurück. Die Musik klingt einerseits fremd, roh und archaisch, dennoch auf eine merkwürdige Art vertraut. Haben unsere Vor-Vorfahren vor 2. 000 Jahren vielleicht ähnliche Musik gehört?

 

Doch Topaloğlu kam nicht allein, er brachte zwei Tänzer sowie einen Beleuchter mit. Die beiden Tänzer verkörperten nicht nur Çinka, die zu Beginn und Ende wie eine riesige Marionette erschien, sondern stellen auch zwei Menschen dar. Die zunächst wie zwei Schmetterlingslarven langsam aus ihren Larven krochen und sich langsam kennenlernten. Die Körbe spielten eine wichtige Rolle in dem Stück. So waren sie beispielsweise Fischerboote und verwandelten sich zum Ende hin zu Grabsteinen.

Im Mittelpunkt standen die beiden Menschen mit ihrer von Beginn bis zum Ende ihres Lebens. Die größte Zeit war durch Arbeit (Fischen, Dreschen des Korns) geprägt. Çinka steht am Anfang und am Ende.

 

Zur Atmosphäre trug der Beleuchter bei, der die dunkle Bühne mit seinem Scheinwerfer effektvoll in Szene setzte. Hinzu kam Bühnennebel, der zusammen mit dem Licht, dem Ganzen eine mythische Ebene hinzufügte.

Schauspiel Dortmund präsentiert Istanbuler Theaterszene

 

Unter dem Begriff „Szene Istanbul“ startet das Schauspiel Dortmund in Kooperation mit dem Theater an der Ruhr in Mülheim eine Gastspielreihe in türkischer Sprache. Die vier Stücke geben nicht nur einen Einblick in die freie Theaterszene der Türkei, sondern sollen auch ein Angebot an die hier lebenden Türken sein, das Dortmunder Theater kennenzulernen.

 

„Wir holen Istanbul nach Dortmund“, erzählte Dramaturg Michael Eickhoff auf der Pressekonferenz. Und die Stücke laufen nicht nur nebenher auf irgendwelchen Probebühnen, sondern „fast alle Stücke werden auf der großen Bühne gespielt“.

 

Alle auftretenden Gruppen haben ihren Mittelpunkt in Beyoğlu, dem kreativen Stadtteil von Istanbul, unterhalb des Taksim-Platzes gelegen. Beyoğlu ist im übrigen auch Partnerstadt(teil) von Dortmund. Bis auf das stark musikalisch geprägte Stück „Ҫinka“ sind alle Stücke Deutsch übertitelt.

 

Zu Beginn erleben die Zuschauer am 01. Februar 2014 um 19.30 Uhr Antoine de Saint-Exupérys Klassiker „Der Kleine Prinz – Küҫük Prens“. In der Inszenierung der Gruppe Bitiyatro zeigt den Helden der Fabel als einen alternden Clown. Das Familienstück ab 12 Jahren geht etwa eine Stunde und kostet 11 € (ermäßigt 6 €).

 

Einen musikalischen Abend verspricht „Ҫinka“. Am 23. Februar um 18 Uhr steht die große Bühne dem Musiker Birol Topalğlu offen. Zusammen mit dem Choreograph und Performer Yiğit Sertdemir erforscht Topalğlu die Geschichten und Mythen seiner Heimat, der türkischen Schwarzmeerküste. Die Besucher können sich auf traditionelle Instrumente freuen wie der Tulum, eine Sackpfeife.

Das Stück dauert etwa 75 Minuten und die Preise gehen von 9 € bis 23 €.

 

Politisch wird es am 14. März um 19:30 Uhr mit „Du bist tot, kapiert? Öldün, duydun mu?“ von Yiğit Sertdemir. In dem Stück wird ein Mann im Jenseits einer Prüfung unterzogen, um eventuell eine zweite Chance zu bekommen. In dieser sarkastischen Farce, die an Satres „Das Spiel ist aus“ erinnert, geht es um die traumatisierende Erfahrung der Menschen, die in ihrer Jugend die Herrschaft des türkischen Militärs in den 1980er Jahren, erfahren haben. Das Stück dauert etwa 70 Minuten und die Preise gehen von 9 € bis 23 €.

 

Zum Schluss der Reihe steht am 07. April um 20 Uhr im Studio ein sehr experimentelles Stück auf dem Spielplan. „Die Spur – Iz“ von Ahmet Sami Özbudak handelt von einem Haus, in der zu verschiedener Zeit unterschiedliche Menschen leben. 1955 leben dort griechisch-türkische Geschwister, die während der Unruhen 1955 ihr Haus verlassen müssen. 1980 lebt dort der revolutionäre Kommunist Ahmet, der nach dem Militärputsch untertauchen muss. Um das Jahr 2000 leben dort der Transvestit Sevengül und sein Liebhaber Rizgar. Alle drei Geschichten werden parallel erzählt und verweben sich im Laufe des Stückes immer mehr miteinander. „Wie wir das genau präsentieren, ist noch unklar“, erklärte Eickhoff. Das Stück dauert etwa 90 Minuten und die Karte kostet 15 € (ermäßigt 10 €).

 

Zu den beiden letztgenannten Stücken wird es eine moderierte Nachbesprechung geben.

 

Karten für die ersten beiden Veranstaltungen sind schon zu bestellen unter www.theaterdo.de oder 0231 50 27 222.