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Dem Trauma stellen

Bühne und Ensemble in der Schlussszene. v.l.n.r.: Dustin Smailes (Henry), Eve Rades (Natalie), Johannes Huth (Gabe), Maya Hakvoort (Diana), Rob Fowler (Dan), Jörg Neubauer (Madden) ©Björn Hickmann (Stage Picture GmbH).
Bühne und Ensemble in der Schlussszene. v.l.n.r.: Dustin Smailes (Henry), Eve Rades (Natalie), Johannes Huth (Gabe), Maya Hakvoort (Diana), Rob Fowler (Dan), Jörg Neubauer (Madden)
©Björn Hickmann (Stage Picture GmbH).

Das Musical „Next to Normal (Fast normal“ von Tom Kitt (Uraufführung 2008 Washington) behandelt ein tabuisiertes Thema von psychischen Störungen und ihre Folgen für den Betroffenen und die Auswirkungen auf die gesamte Familie. Also keine normale „Musical-Thematik“.

Unter der Regie von Stefan Huber, bekannt durch seine „Funny Girl“ Inszenierung, hatte das Musical begleitet von einer sechsköpfigen Band unter der Leitung von Kai Tietje in seiner deutschsprachigen Fassung am Samstag, den 05.02.2016 in der Oper Dortmund Premiere.

Die Geschichte um die „Bürgerliche Durchschnittsfamilie“ Goodman, in der Mutter Diana seit 16 Jahren an einer diagnostizierten bipolaren Störung leidet, bietet genügend Zündstoff.

Der vor über 17 Jahren verstorbene Sohn Gabe ist wie ein Phantom im Haus präsent. In ihren Halluzinationen sieht Mutter Diana ihren Sohn. Vater Dan, ein Architekt, ist darauf fixiert, einerseits seiner geliebten Frau zu helfen, und in dem Chaos ein „normales Leben“ zu zelebrieren.

Die musikalisch begabte Tochter Natalie kommt bei dem in der Familie allgegenwärtigen toten Bruder zu kurz und fühlt sich einsam und nicht beachtet. Ihr Schulfreund Henry versucht mit allen Mitteln, ihr Sicherheit und Geborgenheit zu geben und sie von seiner Liebe zu überzeugen.

Diana war schon bei verschiedenen Psychiatern und hat viele Medikamente geschluckt. Die lähmen jedoch ihre Gefühle. In einem Befreiungsakt vernichtet sie die Tabletten.

Nach einem Zusammenbruch versucht es der neue Psychiater mit Hypnose und nach ihrem Suizidversuch mit Elektroschock-Therapie. Dan hilft seiner Frau aus Angst nur halbherzig, ihr verlorenes Erinnerungsvermögen nach dieser Therapie wieder zu gewinnen. Was an den verstorbenen Sohn erinnern könnte, ist tabu. Diana bleibt hartnäckig und kommt der traurigen Wahrheit auf der Spur. Langsam nähert sie sich wieder ihrer Tochter an. Am Ende trifft sie eine Entscheidung und auch Dan stellt sich dem Trauma des gestorbenen Sohnes….

Die Band spielte auf der Bühne, und das Geschehen fand auf dem erhöhten Orchestergraben statt. Eine einfach gestaltete doppelstöckige und offene Häuserfront bildete den Hintergrund. Die Wände ließen sich geschickt verschieben. So konnte das Publikum die gleichzeitigen Handlungen auf den verschiedenen Ebenen gut verfolgen. Sonst war im Vordergrund nur eine weiße Couch und ein weißer Tisch mit vier Stühlen zu sehen.

Sprache und Songs gingen nahtlos ineinander über und war der emotionalen Situation angepasst. Die Spannbreite reichte von ruhig-melodiösen, bis hin zu wütend-temperamentvollen Rock-Balladen. Auch Klassik und Jazz war mit im Repertoire. Dennoch war die Musik für ein „Rock-Musical“ insgesamt zu sehr balladenhaft, vor allem als gegen Ende des Stückes stark auf die Tränendrüse gedrückt wurde.

Die sechs Personen des Musical-Ensembles überzeugten mit starken Stimmen und Sensibilität in der Darstellung ihrer Figuren. Maya Hakvoort als Diana, Rob Fowler als ihr Mann Dan, Johannes Huth als Gabe, Eve Rades als Natalie und in seiner Doppelrolle als Dr. Fine/Dr. Madden Jörg Neubauer ließen die Charaktere in ihrer Emotionalität auf der Bühne lebendig werden.

Komische Elemente und ironische Sprüche lockerten die thematisch ernste Handlung auf. Die komische Rockstar-Einlagen des Dr. Madden sind da nur ein Beispiel.

Besonders eindrucksvoll wurde die Figur des Gabe dargestellt. Zunächst nur von der Mutter wahrgenommen, erinnerte die Situation an den Film „Sixth Sense“, zumal alle anderen im Haus Gabe nicht sehen. Der tote Sohn ist im Prinzip die personifizierte Form der unbewältigten Trauer, die auch Dan zum Schluß erfasst, als er Gabe erkennt. Denn Dan hat den Tod seines Sohnes ebenfalls nicht verkraftet.

Das Stück entstand in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Thimm und der LWL Klinik für Psychiatrie in Aplerbeck. Das hat dem Ensemble sehr geholfen, sich in die Situation von psychisch Kranken und ihren Angehörigen hineinzuversetzen.

Vielleicht trägt „Next to normal“ dazu bei, etwas mehr Verständnis für Menschen mit psychischen Störungen zu entwickeln. Depressionskranken ist mit einem „Kopf hoch, wird schon!“ nicht geholfen. Dennoch darf es nicht dazu führen, dass sich das Klischee bildet „Menschen mit einer bipolaren Störung sehen Tote“ ähnlich wie „Autisten können nicht mit Menschen umgehen, aber sehr gut mit Computern“. Jede psychische Erkrankung ist individuell wie ein Mensch eben individuell ist. Behandlungsmethoden können funktionieren oder auch nicht.

Das Publikum feierte das Ensemble und die Inszenierung mit stehenden Ovationen. Wer sich für Musical-Themen jenseits von Phantomen, Katzen oder Superstars interessiert, sollte einen Besuch im Opernhaus wagen. „Next to normal“ ist nicht normal, aber auf jeden Fall sehenswert.

Nähere Informationen erhalten sie unter www.theaterdo.de