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Komplexe Mischung aus darstellender und bildender Kunst

Die Lolitas stürmen die Wohnung. (Foto: © Maximilian Steffan)
Die Lolitas stürmen die Wohnung. (Foto: © Maximilian Steffan)

Nicht nur Not macht erfinderisch, sondern auch ungewöhnliche Örtlichkeiten. Hat das Team um Regisseur Kay Voges schon die kleinere der beiden Hallen mit ungewöhnlichen Stücken wie „Das schweigende Mädchen“ bespielt, wurde die große Halle jetzt im Breitwandformat quasi eingeweiht. Stilecht durch eine Prozession. Mit „Die Borderline Prozession“ schuf Voges eine Bilderflut, die den Megastore voll ausnutzt, denn das Stück wäre im Schauspielhaus so nicht zu realisieren gewesen. Wer sich aufmacht, um die dreistündige Prozession zu erleben, kann sich an Bildern sattsehen und an Musik satthören. Premierenbericht vom 15. April 2016.

 

Der Beginn ist beeindruckend: Angeführt von einem Kamerawagen marschieren die Schauspieler (fast das gesamte Ensemble plus Schauspielstudenten) in einer feierlichen Prozession um die eindrucksvoll gestaltete Spielfläche. Nach und nach verschwanden sie in die einzelnen Räume. „Die Borderline Prozession“ ist ein würdiger Nachfolger des Kultstückes „Das goldene Zeitalter“. Wie dort geht es um Loops, um wiederkehrende Szenen und Situationen, leicht variiert. Das Kommando gab wie beim „Zeitalter“ Voges live.

 

Ein wichtiges Element: Die Zuschauer konnten vorab wählen, ob sie auf die Südseite oder die Nordseite gehen wollten. Während den kurzen Pausen zwischen den insgesamt drei Teilen wurden die Besucher aufgefordert ihre Perspektive zu wechseln. Logischerweise konnte man nur eine Seite live erleben, während man von der anderen Seite per Videobild informiert wurde. Ein klein wenig kam man sich vor, als schaue man auf eine Sammlung von Bildern einer Überwachungskamera, die alle Räume überwachte.

 

Der erste Teil fing ruhig und gemächlich an. Die Nordseite zeigte das Innenleben einer gewöhnlichen Wohnung mit Küche, Schlafzimmer und Wohnzimmer, während die Südseite eine Bushaltestelle, einen Kiosk und einen Van zeigte. Die Außen- und Innenseite wurde durch einen Zaun getrennt. Im ersten Teil war er noch offen und zugänglich.

In den einzelnen Zimmern wurde die ganze Bandbreite des Lebens wie zum Beispiel Einsamkeit, Rituale der tägliche Schulgang des Kindes einer alleinstehenden Frau oder die Abendtoilette eines Paares u.s.w., auf der Südseite eher die dunkle Seite des Alltagslebens gezeigt.

Der zweite Teil war mit „Krise“ übertitelt und fühlte sich an wie ein 3:4 in der Nachspielzeit. Von überall strömten negative Emotionen: Gewalt, Soldaten, Vergewaltigungen. Die Grenze war geschlossen, zwei Soldaten ließen niemanden hinein.

Der dritte Teil, die Synthese war surrealistisch aufgebaut. Major Tom, eine kleine Reminiszenz an David Bowie, schwebte beinahe durch die Gänge, Napoleon las ein Gedicht von Jonathan Meese über das Lolitatum vor und wurde danach feierlich mit der Musik von Gustav Mahlers 2. Sinfonie („Auferstehungssinfonie“) zu Grabe, -pardon: zur Bushaltestelle getragen.

 

Das Lolitatum, spielte im Stück eine durchgehende Rolle. In den ersten beiden Teilen noch dezent, kam es im dritten Teil zu einer wahren Invasion. „The Walking Lolitas“ quasi. Dabei verwandelten sich die meisten der Schauspieler, ob Mann oder Frau, in gleich aussehende, beinahe schon zombiehafte Lolitas, die die Wohnung stürmten.

Neben den sehr ausdrucksstarken Bildern faszinierte die Musik. Ob Glass, Mahler, Bowie oder der „Prozessions-Song“ von Tommy Finke, man hätte auch einfach die drei Stunden nur der Musikspur lauschen können. Dann hätte man aber das optische Vergnügen nicht gehabt. Ein Dilemma!

In den einzelnen Räumen wurde nicht gesprochen. Die Texte wurden aus einem „Studierzimmer“ von den Spielern vorgelesen. Einige der Texte stammten aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts, andere von Größen wie Nietsche oder Brecht, aktuellere waren meist politischer Natur wie Ausschnitte aus der Rede von François Hollande oder Frauke Petry.

Eine durchgehende Handlung existiert bei der „Borderline Prozession“ nicht, es gibt nur Handlungsfetzen, Szenen, die auf Zuruf kreiert werden. Sämtliche Darsteller sind eher Teil eines Gemäldes oder eines Films, als dass sie einen Charakter darstellen. Dieses Stück sprengt die Grenzen zwischen darstellender und bildender Kunst. Das mag für den einen für Aha-Erlebnisse sorgen, wenn er Szenen aus Filmen oder Gemälden wiedererkennt, für den anderen bleibt das ästhetische Empfinden.

Ein großes Lob verdienten sich die Schauspieler. Denn die drei Stunden waren für alle Beteiligten ein Parforceritt, ohne die Möglichkeit, eine Figur schauspielerisch zu entwickeln. Exquisite Musik und ein wunderbares Bühnenbild rundeten das ungewöhnliche Spektakel ab.
Wer sich auf die „Borderline Prozession“ einlässt, sollte einen wachen und offenen Geist mitbringen. Es werden sicher nicht so viele Veränderungen möglich sein wie beim „Goldenen Zeitalter“, aber es lohnt sich sicher öfter hineinzugehen.

Verschiebbare Perspektive

Ein Blick auf die Bühne der "Borderline Prozession". (Foto: © Birgit Hupfeld)
Ein Blick auf die Bühne der „Borderline Prozession“. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Stand bei „Das Goldene Zeitalter“ die Wiederholung im Mittelpunkt geht es beim Nachfolger „Die Borderline Prozession“ (Premiere am 15. April 2016 um 19:30 Uhr im Megastore) um die Grenzen und deren mögliche Überwindung. Musik – Video – Theater – bildende Kunst: alles ist in dem Mammutwerk (um die drei Stunden) erlebbar. Dafür ist eine Rekordzahl an Schauspielern notwendig. 23 Schauspieler sind in verschiedenen Räumen und Situationen zu sehen.

Ort der Handlung ist ein bewohntes Haus mit zehn Zimmern, Pool, Garage und bewachter Außenfront. Draußen ist ein mysteriöser Parkplatz, scharf getrennt vom Haus durch eine Mauer aus Beton und Draht. Im Haus geschieht das pralle Leben: Geburt, Tod, Liebe Hass. Draußen sind Menschen, die hinein wollen, aber nicht können.

Das besondere an dieser Produktion ist, dass die Zuschauer nicht alles Facetten gleichzeitig sehen können. Sie haben die Wahl, ob sie an der Nordseite oder an der Südseite Platz nehmen wollen. Was auf der gegenüberliegenden Seite geschieht wird ihnen per Kamera über Monitore angezeigt. Wollen sie die Perspektive wechseln, so müssen sie sich der „Prozession“ anschließen, die die Schauspieler und Besucher auf die andere Seite bringt.

Der Titel des Stückes bezieht sich einerseits auf die psychische Erkrankung „Borderline“, andererseits auf die biblische Geschichte vom Fall der Mauern Jerichos durch eine Prozession (und Trompeten). Daher ist die Kernfrage des Stückes „Wie überwinde ich Mauern?“. Dabei geht es Regisseur Kay Voges und die Dramaturgen Alexander Kerlin und Dirk Baumann darum, Denkräume zu öffnen und keine bestimmten Antworten zu geben.

Neben dem größten Teil des Dortmunder Ensembles sind neun Schauspielstudierende der Folkwang Universität Essen dabei sowie Raafat Daboul. Daboul ist syrischer Flüchtling, der in seiner Heimat vor dem Krieg Schauspiel studiert hat. Das beeindruckende Bühnenbild schuf Michael Sieberock-Serafimowitsch, die Musik kommt von Tommy Finke und für die bewegten Bilder ist Voxi Bärenklau verantwortlich.

Mehr Informationen unter www.theaterdo.de