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2170 – Ein Stadtspaziergang mit neuen Geschichten

Eine besondere Premiere feierte das Schauspielhaus unter der neuen Intendantin Julia Wissert. In die neue Spielzeit ging es mit „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden“, einem Spaziergang durch die Dortmund Nordstadt: Vom Schauspielhaus zum Hochhaus in der Kielstraße und wieder zurück. Ein Bericht von der Premiere am 25. September 2020.

Der Abend war außergewöhnlich. Er hatte etwas vom Kennenlernen und altem Wiedererkennen. Die bekannten Orte und die unbekannten neuen Schauspielerinnen und Schauspieler. Doch beginnen wir mit dem Start. Nachdem die Teilnehmer in verschiedene Gruppen eingeteilt wurden, begann unsere Reise mit einem kleinen Intermezzo auf der Bühne des Schauspielhauses. Danach starteten wir mit Proviant (Flasche Wasser) bestückt unsere Reise Richtung Kielstraße.

Die Basis der Texte, die auf dieser Station – auch Portale im Stück genannt – vorgetragen wurden, stammten von der kurdisch-deutschen Schriftstellerin Karosh Taha. Die Geschichte des realen Hochhauses in der Kielstraße, gemeinhin „Horror-Hochhauses“ genannt, wird von Taha eindrucksvoll mit Leben gefüllt. Die Geschichten der (fiktiven) Bewohner sprühen voller Lebendigkeit und man spürt, dass es etwas besonderes gewesen sein muss, hier wohnen zu dürfen.

Weiter führte unser Weg zurück in die Innenstadt. Am Hauptbahnhof, vor dem Cinestar war das nächste Portal. Hier stand die Geschichte „Become iron 1“ von der kroatischen Schriftstellerin Ivanka Sajko im Mittelpunkt. Die Geschichte drehte sich um zwei Geschwister einer Familie, die als Neuankömmlinge voller Hoffnung in die Stadt kommen. Das Stück spiegelt gut die Situation der Roma in Dortmund nach, die vielfach in der Nordstadt unter schlimmen Bedingungen hausen müssen. So bekommt der Vater statt einer Wohnung nur eine Matratze für 30 Euro. „eine Matratze für uns fünf, meine Schwester, ich und die Tante werden darauf liegen, die Mutter wird stehen und der Vater wird sich schon zurechtfinden“. Während für den Sohn der Weg klar ist, er will „wie Eisen werden“, hat seine Schwester andere Pläne. Sie will durch eine Heirat der Not entkommen, „die Bahngleise überqueren“ wie es im Stück heißt. Beeindruckend war das Spiel der beiden Performer, die Bruder und Schwester darstellten.

Am nächsten Portal an der Katharinentreppe ging es zunächst um die Gastarbeiter, die bereits in den 60er und 70er Jahren nach Dortmund kamen. Zunächst wollte die Mehrheitsgesellschaft sie nicht hundertprozentig wahrnehmen. „Wir durften euch unterhalten, aber nicht vor dem Kopf stoßen“, heißt es im Text von Akin Sipal. Jetzt rückt die Geschichte der Gastarbeiter in den Mittelpunkt und Sipal sagt irritiert: „Unsere Vögel, die Vögel der Alten, werden nicht auf Kommando prusten, nur weil ihr das von ihnen erwartet.“ Es ist also Geduld erforderlich oder ein neuer Anfang. Denn der Text von Sipal heißt nicht umsonst „Eine neue Republik“. Seine Republik der Dichterinnen und Denker, der Spaziergänger und Vielleserinnen steht als Neubeginn. Ein Hoffnungsschimmer. „Der ideale Weg ist der Weg: gemeinsames Gehen oder Stehen ohne Rivalität.“

Adi Hrustemović vor der Katharinentreppe. Auf den einzelnen Stationen wurden eindrucksvolle Geschichten erzählt, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verweben. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Adi Hrustemović vor der Katharinentreppe. Auf den einzelnen Stationen wurden eindrucksvolle Geschichten erzählt, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verweben. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Das letzte Portal stand an einem geschichtsträchtigen Ort, am Platz der Alten Synagoge. Der Text von Sivan Ben Yishai verknüpft sehr eindrucksvoll die Vergangenheit mit dem Abbruch der Dortmunder Synagoge mit dem Neubeginn und Wiederaufbau. Ein Wiederaufbau auf alten Wunden, die ins Stadtbild gerissen wurden. Und der Neubeginn steht auch für die Ankunft des neuen Ensembles des Schauspielhauses. „Und das ist unser Tag, dieser Tag, der allererste Tag: wir richten unseren Blick nach vorn, wir sind aufgeregt.“

Die neue Intendantin Julia Wissert möchte das Schauspielhaus stärker in die Stadtgesellschaft integrieren. Mit „2170“ hat sie ihr Versprechen gehalten und ist in den Stadtraum vorgedrungen, der unendlich viele Geschichten bereithält. Von Hochhausbewohnern, Neuankömmlingen und Gastarbeitern erzählt das Stück, von verlorener und verlorengehender Architektur. Auch wenn die Idee, der Theaterbesucher läuft durch die Nordstadt nicht neu ist, das gab es bereits zwei Mal in der Spielzeit von Kay Voges, es ist immer wieder ein Erlebnis Theater unter freiem Himmel zu erleben und an ungewöhnlichen Orten. Ein vielversprechender Start für Julia Wissert in ihre erste Spielzeit am Schauspiel Dortmund.

Mehr Informationen zu Terminen und Karten unter https://www.theaterdo.de/produktionen/detail/2170-was-wird-die-Stadt-gewesen-sein-in-der-wir-leben-werden/