Was bleibt, wenn jemand geht? – Hinterlassenschaft – A House Full of Stuff

Early boarding – wer früher kommt, darf eher rein. Also zwanzig Minuten vor Beginn bereits auf Einlass warten, dann schnell hinein und mit dem Handtuch den besten Platz sichern. Nein, so ist es nicht gemeint. Obwohl … mit der Jacke lässt sich der Platz vielleicht doch schon mal sichern, bevor man die Bühne betritt.Dort gibt es dann etwas zu schauen und anzufassen. Notsopretty, die Gruppe, die heute Premiere feiert, konzentriert ihren Kram, ihren Stuff, in der rechten hinteren Ecke der Bühne. Regale, schräg angeschnittene Kommoden, ein Einhorn, Fotos, Papiere, Ordner, Vasen, eine Schallplatte von Tina Turner und vieles mehr. Das künftige Publikum nimmt die Gegenstände in Augenschein und verbindet mit einigen direkt eigene Erinnerungen. Auch mit dem Ensemble (Anna Júlia Amaral, Marcel Nascimento und Nina Weber) kann bereits gesprochen werden.

Bis zur Vorstellung ist es aber noch Zeit, der Platz durch die Jacke gesichert, also in Ruhe noch einmal an die Theke und mit Getränken versorgen. Dann startet der selbstständig tönende Lautsprecher mit seinem Intro zum Stück. Nach und nach bauen die drei Darstellerinnen und Darsteller ihre kleinen Welten auf der Bühne auf, tragen den Berg ihres „Stuffs“ ab, kleiden sich in Kostüme, z. B. Jacken, die zur Hälfte aus einem Faltenrock bestehen. Begleitet werden ihre Aktionen von Audiodeskriptionen, die teilweise über die Lautsprecher kommen, teilweise von den Handelnden selbst kommentiert werden. Das Stück will auch für blinde Gäste erlebbar sein, was dank der Beratung durch Adriani Botez gut funktioniert. Jede Person trägt zudem andere Schuhe, durch die sie sich bei ihren Gängen auf der Bühne akustisch unterscheiden.

notsopretty sind: (v.l.n.r.) Anna Júlia Amaral, Marcel Nascimento und Nina Weber. (Foto: (c) Martina Bracke)
notsopretty sind: (v.l.n.r.) Anna Júlia Amaral, Marcel Nascimento und Nina Weber. (Foto: (c) Martina Bracke)

In ihren neu aufgebauten kleinen Welten erzählen die Figuren ihre jeweils eigenen Geschichten, die im Laufe des Stücks immer wieder weiterentwickelt werden.

Die kleinen Dinge spielen zunächst eine Rolle, denn mit ihnen verknüpfen sich Erinnerungen, was ja schon beim Publikum beim Early Boarding sichtbar wurde, aber immer wieder kommt die Frage auf: „Reden wir über Geld?“

Hinterlassenschaft ist nicht nur sentimental. Hinterlassenschaft bedeutet erben, nicht nur die Nase wird geerbt, geerbt wird auch Geldvermögen oder keins. Wie viel Geld? Kann man das auch irgendwie messen? Eine große Rechnung wird aufgemacht: Wenn ein Euro einem Zentimeter entspricht, wie viele Kilometer sind dann eine Milliarde? Die Gruppe überschlägt es und kommt auf  10.000 Kilometer. Große Summen stehen im Raum und hier setzt Gesellschaftskritik an. Vermögens- und Erbschaftsteuer sind Thema. Später wird der Umgang mit Reichen und ihrem Erbe noch in einen Song verpackt, für den es Szenenapplaus gibt.

Dazwischen schwelgt man in Fotos, man blättert akustisch durch das Fotoalbum, und „Weißt du, wie dein Vater gelacht hat?“

Das Spiel mit den Requisiten gelingt dem Ensemble eindrucksvoll. Besonders schön der quasi „Rutsch in die Urne“ über eine der abgeschrägten Kommoden. Letztlich kann man nur erben, wenn jemand stirbt, dennoch kann des Öfteren im Stück gelacht werden. Man erfährt jede Menge übers Erben und Vererben, was vielleicht den Gang in die Verbraucherzentrale erspart und vielleicht nicht so ausführlich hätte sein müssen, aber im Leben kann es sich noch als nützlich erweisen. Das Publikum kann aber auch einfach einen gelungenen Theaterabend genießen.

Am Ende landet alles erst einmal im Keller, wie das so ist mit den vielen Hinterlassenschaften, von denen man sich noch nicht trennen kann. Auch die Kirschen im Weckglas von 1978. Die Bühne ist aufgeräumt, aber das Publikum kann nichts mehr anfassen, denn eine Plane schützt das Erbe vor zu großer Neugier. Also Jacke vom Stuhl nehmen und an der Theke noch ein Getränk genießen. Auf die Verstorbenen! Mögen sie in guter Erinnerung bleiben.

 

Notsopretty, ein seit 2019 bestehendes Performancekollektiv, macht am Ende auf die angekündigten Etatkürzungen seitens des Landes NRW für die Freie Theaterszene aufmerksam. Mehr Infos dazu z. B. ein offener Brief unter www.dott-netzwerk.de (Netzwerk Dortmunder Tanz- und Theaterszene).

 

Mit dem Stück tourt das Ensemble noch durch verschiedene Städte und kehrt hoffentlich nochmal zum Koproduzenten und Premierenort Theater im Depot in Dortmund zurück.

 

Mehr:

Theater im Depot

Immermannstr. 29

44147 Dortmund

www.theaterimdepot.de

 

Die Gruppe:

www.notsopretty.de

 

Aktuelle Termine:

Fr/Sa, 13.-14.6. | 19 Uhr | Kulturhaus Thealozzi | BOCHUM

Sa, 28.6. | 16:30 Uhr | Droste Festival | HAVIXBECK

Fr/Sa, 25.-26.7. | 20 Uhr | Theater im Karlstorbahnhof | HEIDELBERG

Sa/So, 1.-2.11. | 20 Uhr | Landungsbrücken | FRANKFURT




Theatrale Annäherung an ein schwieriges Erbe

Am 20. und 21. März 2025 hatte eine neu formierte Gruppe Kulturschaffender aus Leipzig – mit Ahnen im globalen Süden und Norden – ihr Gastspiel mit Elfenbein – Annäherung an ein fleischloses Erbe im Theater im Depot in Dortmund. Allgemein geht es darum, welche sichtbaren und unsichtbaren Vermächtnisse wir als Erbe mit uns herumtragen. Wie gehen wir damit um?

Ein spezielles Augenmerk dieses performativen Theatererlebnisses liegt auf dem schwierigen Erbe eines ein Meter großen Elefantenstoßzahns, der nun am Küchenschrank des Vaters lehnt. Der Großvater hatte diesen 1971 auf einer Safari geschossen und als „stolzes Erbe“ hinterlassen. Die Erbin fragt sich, was sie nun mit diesem Erbstück tun soll.

Eine künstlerische Spurensuche

Aus diesem Anlass begeben sich die drei Performerinnen Aziza Bouizedkane, Aisha Konaté und Svenja Wolff mit verschiedenen künstlerischen Ausdrucksmitteln auf die Suche nach einem Umgang mit solch kolonialem Erbe. Zum gelungenen Gesamtkonzept gehörten außerdem die Medienkünstlerin Vanesa Opoku, die Lichtdesignerin Iana Boitcova, die Dramaturgin Jasmin Jerat und die Provenienzforscherin Isabelle Reimann.

Die Performer:innen in Aktion Foto: André Wirsig
Die Performer:innen in Aktion Foto: André Wirsig

Mit starkem Gesang, Tanz, Lesung, der Einspielung originaler historischer Kommentare und Video-Projektionen gehen sie der Frage nach gesellschaftlicher Verantwortung nach. Kolonialer Kunstraub und menschliche Kopftrophäen schlummern bis heute in Museen und Kellern. Behutsam, aber direkt nähern sich die drei Performerinnen der Dekolonisierung. Es wird eine Haltung für alle gesucht sowie ein besonderer Blick auf den Zahn und seine Zeit geworfen.

Dabei wurde unter anderem eine helle Tuchplane mit drei Löchern fantasievoll genutzt, aus denen die Köpfe der Darstellerinnen langsam und mutig hervorlugten. Die Künstlerinnen machen mit sinnlich-emotionalen Darstellungen und ironischen Zwischentönen das fleischlose Erbe zwischen Trauerritualen, familiärer Spurensuche und spekulativer Science-Fiction (be)greifbar. Auch das Publikum wurde direkt angesprochen.

Wir tragen nicht nur körperliche Merkmale unserer Vorfahren in uns, sondern auch ihre dunklen Vermächtnisse. Es ist wichtig, sich ehrlich und kritisch mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen – und nicht zu verdrängen.




Ein Ungewöhnlicher Abend: Normal gibt’s schon präsentierte „Lange Rede – kurzes Gesicht“

Mit „Lange Rede – kurzes Gesicht“ bot das Theater im Depot einem ungewöhnlichen Ensemble zwei Tage Raum auf der Bühne. Am 7. und 8. Juni 2024 präsentierte „Normal gibt’s schon“ einen musikalischen und literarischen Abend.



„Normal gibt’s schon“ trägt diesen Namen nicht umsonst, denn die meisten ihrer Mitglieder sind psychisch erkrankte Erwachsene. Im Jahr 2017 entstand in der Halte-Stelle in der Blücherstraße in Dortmund auf die Initiative von Regina Schubert und Carmen Krüger die Theatergruppe. Mit Ekkehard Freye konnten sie einen erfahrenen Schauspieler am Theater Dortmund gewinnen, der die Leitung übernahm.

Zu hören waren am Anfang vom gesamten Ensemble kurze Texte, die wie Kalendersprüche oder Redewendungen wirkten. Ein Schwerpunkt schien mir dabei auf Kommunikationsproblemen zu liegen. So gab es eine Nummer, bei der ein ausufernder Streit die Hauptrolle spielte, aber die gesamte Diskussion eigentlich ein Reden um nichts war. Floskelhaft eben.

Bei der zweiten längeren Nummer, die von einem Besitzer eines Pfandhauses handelte, dem vergeblich „singende Blumen“ verkauft werden sollten, entstand ein wortreicher Schlagabtausch.

Die Texte stammten von Autoren wie Ionesco, Charms, Bayer und Wolf sowie von selbst verfassten Texten von Zoé Ritterstern und Heike Jordan.

Bereichernd für diesen Abend war auch eine Live-Band, bestehend aus Robin Krick (Bass), Peter Bollmann (Gitarre) und Lisa Heinrich (Schlagzeug). Mit Songs wie „Ohne Dich“ oder „Stay (Just a Little Bit Longer)“, das lange Zeit das Werbelied für eine Brauerei war.

Zum Ensemble gehörten: Lisa Heinrich, Zoé Ritterstern, Heike Jordan, Saskia Singh, Sevda S., Annette Yüksel, Anna Helmsorig, Ralf Neuhaus, Caro Manthei, Peter Bollmann und Ekkehard Freye.

Ein vergnüglicher Abend ging zu Ende, bei dem man auch spürte, dass alle Beteiligten großen Spaß hatten.




Raincatchers: Szene 2wei über den (unv)erhofften Wandel

Ein Nachbericht

Am 17. & 18. Mai 2024 brachte die mixed-abled Tanzkompanie Szene 2wei den Regen auf die Bühne des Theaters im Depot. Analog zur ökologischen Lage der Welt beginnt Raincatchers mit dem drohenden Ende. Wir sehen eine reich gedeckte Tafel mit Weinkelchen und Äpfeln bestückt, um die sich die diverse Gesellschaft der Szene 2wei tummelt. Sie prosten sich zu, reichen sich die süßen Früchte an und lassen es sich augenscheinlich gut gehen. Im Hintergrund strahlt uns das romantische Bild einer unberührten Wiesen-Landschaft über einen Bildschirm an. Doch etwas Unheilvolles kündigt sich in dieser Tischidylle an, die zwischen letztem Abendmahl und morbidem großen Fressen oszilliert.



Allmählich bricht das Bild auf und die feine Gesellschaft ergießt sich über den Tischrand hinweg: Sie rollen, kriechen und robben sich in den weiten Raum der Bühne, der sonst nur einen Müllberg aus Tüten beherbergt. Das Ensemble tanzt sich mit immer wilder werdender Dynamik in verschiedene Emotionen und Zustände hinein. Sie bilden wechselnde Konstellationen, zucken, schwingen, vibrieren, imitieren, resonieren miteinander oder tanzen stur aneinander vorbei. Die Performer:innen zeigen uns Bilder und Anordnungen, die nicht nur inhaltlich von Diversität erzählen, auch die Choreografie (William Sánchez H.) setzt die diversen körperlichen Konstitutionen des Ensembles ganz selbstverständlich in Beziehung. Der Apfel als Symbol und konkretes Objekt begleitet sie durch ihre Bewegungsfolgen. Schließlich rückt er ganz in den Mittelpunkt als eine Stimme aus dem Off die reine, feine Frucht lobpreist und ein anmutiger Tanz die Eloge an den Apfel krönt.

Das Ensemble von Szene 2wei bei "Raincatchers". (Foto: Stefan Wachter)
Das Ensemble von Szene 2wei bei „Raincatchers“. (Foto: Stefan Wachter)

Und dann der Bruch! Klimawandel! Und der kickt so richtig: Die Performer:innen hüllen sich in absurder Manier in Kleidung, die aus den Mülltüten zum Vorschein kommt. Die Stoffe werden in Lagen und ansteigendem Tempo angelegt, umständlich umwickeln sie die Gliedmaßen der Performer:innen und werden so teils zum Handicap. Wieder teilen sich die Bewegungsfolgen in kollektives und vereinzeltes Handeln und Sein. Die Diversität der Bühnengesellschaft bleibt gleich, aber mit der Umwelt scheinen sich ihre sozialen Dynamiken und Zustände zu verändern. Dabei hören wir Texte über Konsum, Ressourcen, Überfluss, Hoffnungen, Verunsicherung, politisches Handeln und Scheitern. Die Landschaft im Hintergrund ist längst in ein Dämmerlicht gehüllt und lässt uns im Dunkeln, ob es Nacht wird oder der Morgen wieder graut. Die Fast Fashion Show endet schließlich mit einem knalligen Statement der Nacktheit, das mit einem Augenzwinkern auf unseren „natürlichen“ Ursprung verweist, aber so schnell wieder vergeht, wie es kam. Zum Schluss geraten die Körper der Szene 2wei ein letztes Mal in Wallung und tanzen sich zu „my body, my choice“ und dröhnenden Beats (Soundtrack: Lukas Tobiassen) in Ekstase. Und dann – endlich – regnet es wieder… Ruhe kehrt ein und wir hören nur noch die belebenden Tropfen auf die Erde niederprasseln.

Choreografie: William Sánchez H.
Leitung: William Sánchez H. und Timo Gmeiner
Tanz: Jörg Beese, Sonja Pfennigbauer, Ricarda Noetzel, Manuela Aranguibel, Jose Manuel Ortiz, Sander Verbeek
Musik: Lukas Tobiassen
Licht Design: Clément Debras
Bühnenbild und Kostüme: William Sánchez H. und Simone Müller




Protokolle der Sprachlosigkeit Erinnerung an Mehmet Kubaşik

Es gibt Ereignisse, die einen sprachlos und wütend machen. Eines davon sind die NSU-Morde, die bis zu ihrer endgültigen Aufklärung unter dem scheußlichen Begriff „Dönermorde“ in den Medien waren. Grund dafür ist, dass die meisten Opfer migrantischen Hintergrund hatten. Von der Floskel „Wir ermitteln in alle Richtungen“ ist auch bei der Polizei schnell Mord im Drogenmilieu, Kämpfe innerhalb migrantischer Kreise usw. geworden, so dass die Opfer und auch ihre Angehörigen quasi verdächtigt wurden.



Auch in Dortmund gab es ein NSU-Opfer: Mehmet Kubaşik wurde am 04. April 2006 in seinem Kiosk in der Nordstadt ermordet. Erst mit dem Selbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 2011 war klar, dass der Mord nichts mit innermigrantischen Banden oder Drogen zu tun hatte, sondern mit rechtsradikalem Terrorismus.

Jasmina Musić und Johanna Wieking vom HER.STORY KOLLEKTIV gaben in ihrer Performance „Protokolle der Sprachlosigkeit“ Raum zum Angedenken nicht nur an Mehmet Kubaşik, sondern auch den anderen zahllosen Opfern des Rechtsextremismus. Denn viel zu schnell sind die vielen Opfer rechtsradikaler Gewalt aus den Nachrichten und den Erinnerungen der Öffentlichkeit verschwunden.

Schon der Beginn war beeindruckend, als die Zuschauer in den Saal kamen, der Zuschauerbereich war mit Absperrband versperrt und beide Performerinnen aus dem Grundgesetz zitierten. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

Doch dann wurde es emotional. Fast dokumentarisch berichteten die beiden Performerinnen über den Mord an Mehmet Kubaşik aus Sicht seiner Tochter. Das Schlimme war, durch die einseitigen Ermittlungen wurden die Angehörigen mit in den Dreck gezogen, was Spuren hinterließ. Passend dazu wurden die Angehörigen auch nicht durch die Polizei von der Aufklärung 2011 informiert, sondern bekamen das durch die Presse mit. Daneben wurden auch persönliche Geschichten und Erfahrungen von Frauen, die aus der rechtsextremen Szene ausgestiegen sind, beleuchtet.

Damit die Opfer rechter Gewalt nicht vergessen wurden, bauten Musić und Wieking gegen Ende noch eine Art Gedenktafel mit den Namen der vielen Opfer auf. Vor der einige BesucherInnen Blumen hinterlegen konnten.

Insgesamt ein sehr emotionaler Abend zu einem ernsten, aber wichtigen Thema. Niemals dürfen die Opfer rechter Gewalt vergessen werden.




äöü – Geh zur Ruh´: Gut, okay oder schlecht? Einfach müde!

Bei der Performance Geh zur Ruh´ lädt das Kollektiv äöü alle ins Theater ein, die dringend mal ein Nickerchen brauchen. Denn hier dreht sich alles um die Erschöpfung. Die beiden Performer:innen Patricia Bechtold und Johannes Karl treten dem Publikum in Kunstturnkostümen entgegen, die an vergangene vitale Zeiten erinnern. Doch jetzt sind sie einfach müde.



In einer klinischen Atmosphäre, irgendwo zwischen Irrenanstalt und Kurhaus, geben sie sich ihrer Erschöpfung hin. Ein mit Steppdecken verhülltes Doppelbett füllt den weißen Raum, auf dem die Performer:innen zuweilen ruhen oder ihre Müdigkeit zur Schau stellen. Im Hintergrund der Bühne thronen vier Säulen unterschiedlicher Größe, zwei davon präsentieren uns eine Kristallglas-Pyramide und einen antiken Tonkrug. Symbolträchtig wird diese Pyramide im Laufe der Performance befüllt und erwartbar überfüllt – der Tropfen, der das System zum Überlaufen bringt, gerinnt mahnend zu einer Pfütze auf dem Boden. Beiläufig, fragmentiert und unaufgeregt berichten die Performer:innen dem Publikum von verschiedenen Erschöpfungserzählungen – von schleichender Erschöpfung, von Abgeschlagenheit in Intervallen, von Überforderung bei scheinbarer Kontrolle, von selbstauferlegter Belastung, von permanenten Krisen und vom absoluten Zusammenbruch.

Die Frage, wie es dem anderen eigentlich geht, unterbricht und verbindet die Geschichten und wiederholt sich unermüdlich bei maximaler Müdigkeit. Das abgekämpfte „Geht’s dir gut?“ bleibt unbeantwortet und es ist dem Publikum überlassen, ob es darin Sorge, Wunsch oder Zwang erkennt. Doch die Erschöpfung endet nicht. Immer weiter hören wir, wie die alltäglichen Belastungen des Lebens den Abstieg unausweichlich provozieren, emotional unverfügbar machen, auslaugen bis zum letzten Tropfen, bis eine kleine Banalität wie die Aufgabe, eine Popcorn-Maschine zu putzen, zur schlussendlichen Katastrophe führt.

Johannes Karl und Patricia Bechtold geben sich der Erschöpfung hin. (Foto: (c) Simon Lenzen)
Johannes Karl und Patricia Bechtold von äöü geben sich der Erschöpfung hin. (Foto: (c) Simon Lenzen)

Einen träumerischen Kontrast zum Reigen der Kraftlosigkeit bildet das gelegentliche Schwelgen in Erinnerungen an das längst vergangene System der Kur-Anwendungen in Deutschland. äöü zeichnen es als Sinnbild für die seit Mitte der 90er-Jahre gesellschaftlich und politisch verworfene Vorsorge und stellen provokant die Frage, warum wir heute erst abbrennen müssen, um uns dann wieder neu aufzubauen. Denn was bleibt, ist eine politische Situation, in der das Ausruhen des Einzelnen zur Unruhe der Anderen wird. Ein Leben, in dem wir uns Erschöpfung nicht mehr leisten können und sie doch ständig da ist. Die Frage „Geht’s dir gut?“ mutiert schließlich zu einem „Kann ich dir helfen?“. Das Sorgen füreinander scheint der etwas trostlose Ausweg aus der Erschöpfungsschleife. Die Verschiebung des Kümmerns vom staatlichen in den privaten Raum wird dem Publikum als notgedrungenes Pflaster gegen die systematische Zerschlagenheit präsentiert.

Schließlich verwandelt sich die Bühne, gestaltet von Sofia Falsone, sukzessive vom sterilen Whitecube in eine kuschelige Stoffhöhle. In einem schwerfälligen Kraftakt suhlen, winden und schlängeln sich die Performer:innen durch unzählige Decken, die immer weiter den Raum bedecken und zu guter Letzt mit Seilzügen zu einem bühnenfüllenden Zelt aufgezogen werden. äöü lädt das Publikum ein, diesen Raum als Utopie des Ruhens, der Sorge, der Solidarität oder der Geborgenheit mit ihnen zu betreten – ein Ort, in dem selbst das vorherige Schreckensbild der Popcorn-Maschine kindliche Genüsse und Träume weckt.

Die Performance Geh zur Ruh´ war am 12. und am 13. April 2024 im Theater im Depot zu sehen.




Gemusical – ein Musical über Gemüse

Wie wurde eigentlich der „Sauerkraut“ zur „Kartoffel“? Mit dem Begriff „Kartoffel“ wird manchmal ein Deutscher oder eine Deutsche scherzhaft bezeichnet. Jetzt gilt das Nachtschattengewächs als Symbol für den typischen Deutschen. Doch woher kommt die Kartoffel eigentlich? Und die Tomate? Und die Avocado, die als Superfood aus europäischen Küchen kaum wegzudenken ist? Die Antwort: Aus Mittel- und Südamerika.



Nach „Boyband“ geht es jetzt um Gemüse. Das Performancekollektiv notsopretty präsentierte in ihrem Musical „Gemusical“ am 22. und 23. März 2024 im Theater im Depot die Reise der Kartoffel (gespielt von Anna Júlia Amaral) zu sich selbst. Mit Hilfe ihres Freundes Tom  (Marco Gonzales) und einem Mitarbeiter des Mycelium Network Centers (Emmanuel Edoror) konfrontiert sich Kartoffel mit ihren Erinnerungen und einer Geschichte, die viel komplexer ist, als sie dachte. Wie ist die Kartoffel zu einem Symbol für Deutschland geworden, obwohl sie in Südamerika ihren Ursprung hat?


Auch Brokkoli spielt mit als gemüsegewordene Bürokratie: (vorne Anna Júlia Amaral, dahinter v.l.n.r. Nina Weber,Emmanuel Edoror und Marco Gonzales) Foto © Sarah Rauch
Auch Brokkoli spielt mit als gemüsegewordene Bürokratie: (vorne Anna Júlia Amaral, dahinter v.l.n.r. Nina Weber,Emmanuel Edoror und Marco Gonzales) Foto © Sarah Rauch

Die Antwort lautet Friedrich der Große, der auch in dem Stück einen Auftritt hat. Friedrich (im Stück Freddy genannt) erkannte das Potenzial der Kartoffel als preiswerte Nahrungsquelle für die wachsende Bevölkerung und setzte Maßnahmen zur Förderung des Kartoffelanbaus durch. Er ließ Kartoffelfelder anlegen und verordnete die Kartoffel als Grundnahrungsmittel für seine Armee und die Bevölkerung. Dadurch wurde die Kartoffel in weiten Teilen Europas als wichtiges Nahrungsmittel anerkannt und gewann an Popularität.

Doch die Geschichte der Nahrungsmittel hat auch seine Schattenseiten (passend zu Nachtschattengewächsen). Die Spanier und andere Kolonialmächte waren nicht auf friedlichen Austausch mit den indigenen Völkern aus. Die europäische Entdeckung und Kolonialisierung Amerikas ermöglichten nicht nur die Einführung neuer Pflanzen und Nahrungsmittel nach Europa, sondern waren auch eng mit Ausbeutung, Versklavung und Unterdrückung indigener Völker verbunden. Die Kartoffel war Teil dieses komplexen Netzwerks des Austauschs zwischen den Kontinenten und trug sowohl zur Ernährungssicherheit als auch zu sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen bei.

Wir, und damit meine ich nicht nur die Deutschen, haben der Kartoffel viel zu verdanken. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Hungersnöten und der Ernährungssicherheit in Europa. Insbesondere während des 19. Jahrhunderts, als Europa von zahlreichen Missernten und Hungersnöten geplagt wurde, diente die Kartoffel vielerorts als zuverlässige Nahrungsquelle, da sie robust genug war, um widrige klimatische Bedingungen zu überstehen.

Aber mit Tomate und Kartoffel ist es nicht getan. Angebliches Superfood wie Chia oder Avocados (als Food-Influencerin Nina Weber) sind immer noch beliebt. Besonders Avocados haben eine schlechte Ökobilanz, weil sie einen enormen Wasserverbrauch haben und weil Wälder für Anbaugebiete gerodet werden. Der Avocadokonsum steig von 2016 bis 2019 auf ein Drittel. Anders als bei der Kartoffel ist unser Hunger auf die Avocado ein ernstes Problem für die Umwelt.

Ist die Kartoffel jetzt kulturelle Aneignung? Nein, eher eine gelungene Integration, ähnlich wie die Hugenotten fast 100 Jahre vorher in Preußen. Sie bereicherte den Speiseplan vieler Länder.

Das Kollektiv notsopretty verpackte ihre Kritik an koloniale Geschichte und Gegenwart geschickt in mitreißenden Songs und Choreografien. Absurdes, Lustiges und Trauriges war ebenso zu sehen, wie gut gemachte Kostüme. Alles in allem waren es zwei Stunden, die wie im Flug vorübergingen. Ein großes Lob an das gesamte Team von notsopretty.




Theater im Depot als Experimentallabor

Ein ungewöhnliches Stück hatte im Theater im Depot am 23. Februar 2024 sein Dortmund-Debut: Alles in Strömen von Polar Publik. Eine Mischung zwischen akustischem Experimentallabor, philosophisches Thema und Musik.



Worum ging es bei „Alles in Strömen“? Im Mittelpunkt stehen die Theorien von Hartmut Rosa und seinen Resonanzen. Im Zentrum von Rosas Resonanztheorie steht der Begriff der Resonanz. Resonanz entsteht, wenn eine Person eine tiefe und positive Beziehung zu etwas oder jemandem entwickelt. Dies kann sowohl in Bezug auf Objekte, wie Kunstwerke oder Natur, als auch in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen geschehen. Wenn eine Person resonante Beziehungen eingeht, fühlt sie sich verstanden, geschätzt und erlebt eine Art „Schwingung“ zwischen sich selbst und der Welt.

Da Resonanzen im akustischen raum entstehen, waren im Theatersaal viele beleuchtete Snaredrums zu sehen, die auf die Musik von Oxana Omelchuk und Axel Lindner leicht zu vibrieren begannen.

Die Resonanztheorie von Rosa versuchten vor allem Fiona Metscher (bekannt aus Produktionen von trafique) und Jimin Seo dem Publikum näherzubringen. Denn sie teilt sich in vier Abschnitte auf: ein gegenüber, Selbstwirksamkeit, Transformation und Unverfügbarkeit. Zusätzlich hatten die BesucherInnen auch Kopfhörer bekommen, auf denen Geschichten erzählt wurden, die für die erzählende Person eine Art von Resonanz gewesen war.

Trotzdem wirkte die Mischung von Philosophievorlesung, akustischen Experimenten und Musik etwas zu verkopft. Begriffe wie „Selbstwirksamkeit“ oder „Transformation“ blieben zu abstrakt. Dennoch ist der Versuch, ein Theaterstück mit Experimenten (die auch mal nicht funktionieren können) aufzuwerten, keine schlechte Idee.




Experimental Toppings 2024 – Neues aus der Szenischen Forschung

Zum zweiten Mal findet im Theater im Depot das Festival „Experimental Toppings“ statt, eine Zusammenarbeit zwischen dem Studiengang Szenische Forschung an der Ruhr-Universität Bochum und dem Theater. Vom 02. bis 04. Februar 2024 wurden Forschungsstände, Wiederaufnahmen und Neuproduktionen präsentiert.



Leider war es mir nicht möglich, am Freitag die Arbeiten von Mira-Alina Schmidt und Camilia Scholtbach zu sehen, da ich leider auf einem anderen Termin war.

Da „Willkommend“ von Marina Fervenza & Viro sowie „cogito moves“ von Saskia Schalenbach das ganze Festival über liefen, hier ein paar Anmerkungen. Die Video-Installation „cogito moves“ zeigte Scans von menschlichen Gehirnen beim Denken. Lassen sich Gedanken nachweisen und wenn ja, sind sie ein Beweis für meine Existenz?

Für die Audioinstallation „Willkommend“ wurde im Theaterfoyer ein Tisch freigeräumt. Hier erzählten die beiden KünstlerInnen über ihre Erfahrungen in ihrer 3-wöchigen Residenz am Künstlerhaus Helleweg, dazu gab es Stimmen der Bewohner von Versmold und Bockhorst.

Kann man aus Müll Kunst machen? Sicher. Kann man daraus die Zukunft lesen? Vielleicht. Neele Ruckdeschel und Ruth Gordon bildeten das Duo „witches’wednesday“ und ermutigten die BesucherInnen aus dem sammelten Müll eine eigene Skulptur zu errichten, die Ruckdeschel dann interpretierte. Es konnte aber auch ein Sinnbild für die Beliebigkeit von Kunstexpertisen sein…

Nooshin Seifi führte uns BesucherInnen mittles Augenmasken in die Dunkelheit. Gruselige Geräusche, kaum hörbare Gesprächsfetzen brachten uns die Situation von Blinden und Sehbehinderten etwas näher. Seifi ging es im Besonderen um Personen, die durch Gummischosse ihr Augenlicht verloren.

Am Samstagabend überraschte uns Judith Grytzka mit einer frischen Inszenierung von „Lysistrata“. Der antiken Geschichte über einen Sexstreik von Frauen gegen ihre kriegslüsternen Männer. Ich musste erneut feststellen, dass die antiken griechischen Stücke immer noch eine große Relevanz für unser heute haben. An der Performance auf der Bühne waren beteiligt: Marina Fervenza, Lea Maline Hiller und Annalena Volk. Erstaunlich war, dass der Rant über die Lage der Frau (also wie sie zu sein hat) im Stück, fast gleich ist mit der Brandrede, die Gloria gegen Ende im „Barbie“-Film von sich gibt.  

Der Sonntagabend war eine Melange einer realen Figur, Andrew Tate und einer fiktiven Figur aus der Bibel, Samson. Cornelius Heuten und Christian Minwegen verschmolzen beide Figuren zu einer extremen misogynen Figur „Samson Tate“. Die Figure des biblischen Samson ist im laufe der Geschichte sehr unterschiedlich bewertet worden, durch seine letzte Tat, die Zerstörung eines Philistertempels mit Tausenden Toten gilt er auch als Prototyp des Selbstmordattentäters. Andrew Tate ist ein ehemaliger Kickboxer, der in den sozialen Medien durch seine chauvinistischen und frauenfeindlichen Äußerungen zu einer Berühmtheit geworden ist. Heuten und Minwegen verknüpfen beider Lebensläufe aus dem „Buch der Richter“ und dem realen Leben zu einer extrem unsympathischen Figur Samson Tate. Dabei ist ein wichtiger Punkt, dass das Gift, was diese Figur verspritzt, weitere Generationen vergiftet werden.




Beyond gravity – das zweite Wochenende

Vom 24.11. bis zum 26.11. wurden wieder im Theater im Depot und in der Akademie für Theater und Digitalität die VR-Brillen aufgesetzt und die ZuschauerInnen in virtuelle Welten geschickt.



Am Freitag erlebte ich ein Doppelprogramm mit „Touching clouds“ (akademie) und „Bodies under Influence“ (Depot). In „Touching Clouds“von Norbert Pape und Simon Speiser gelangte ich in eine Welt, die gefüllt war mit Objekten wie Steinen, Tarotkarten oder merkwürdigen Pflanzen, die eine Aktion ausführten und/oder eine Sounddatei abspielten. So ging ich auf Entdeckungstour durch eine magisch anmutende Welt. Die anderen BesucherInnen waren in einem schemenhaften Schwarz-Weiß zu erkennen, so dass wir uns nicht gegenseitig über den Haufen liefen.

„Bodies under Influence“ von Fernanda Ortiz war eine außergewöhnliche Tanzperformance. Mit VR-Brillen ausgestattet wurden wir in eine futuristische Welt entführt. Dort tanzte ein menschlich aussehendes Wesen, dass sich aber immer in eine Symbiose mit der Natur und anderen Lebewesen hineinwächst. Sidn unsere Avatare zunächst ohne Gliedmaßen, so „bekommen“ wir später Hände, mit denen wir eine kleine blaue Kugel steuern können. Ein tolles Erlebnis!

Zum Schluss sah ich mir am Samstag noch „Get real“ an. Hier wurden wir zunächst in Paare eingeteilt. Ich begann mit meiner Reise in die virtuelle Welt. Es begann mit einer Raumerkundung und ging dann weiter auf eine Art Platz, auf dem zu Technomusik getanzt werden konnte. Es konnte Kontakt zu den anderen Avataren aufgenommen werden oder einfach der Raum erkundet werden. Es war irre, einfach mal durch einen der Pfeiler zu fahren. Gegen Ende haben die Partner, die die ganze Zeit auf einem Stuhl saßen, die anderen „abgeholt“. Dann wurden die Plätze getauscht.

Gesamtes Fazit: Insgesamt habe ich in den zwei Wochen wirklich spannende, aufregende und innovative Formate erlebt. Dabei stehen wir bei diesen Technologien sicher noch am Anfang und die Möglichkeiten sind noch lange nicht ausgeschöpft. Ich hoffe auch, dass das Festival einen festen Platz in Dortmunds Kulturkalender findet und ich die Entwicklung von Theater und Digitalität weiter verfolgen kann.