Was bleibt, wenn jemand geht? – Hinterlassenschaft – A House Full of Stuff

Early boarding – wer früher kommt, darf eher rein. Also zwanzig Minuten vor Beginn bereits auf Einlass warten, dann schnell hinein und mit dem Handtuch den besten Platz sichern. Nein, so ist es nicht gemeint. Obwohl … mit der Jacke lässt sich der Platz vielleicht doch schon mal sichern, bevor man die Bühne betritt.Dort gibt es dann etwas zu schauen und anzufassen. Notsopretty, die Gruppe, die heute Premiere feiert, konzentriert ihren Kram, ihren Stuff, in der rechten hinteren Ecke der Bühne. Regale, schräg angeschnittene Kommoden, ein Einhorn, Fotos, Papiere, Ordner, Vasen, eine Schallplatte von Tina Turner und vieles mehr. Das künftige Publikum nimmt die Gegenstände in Augenschein und verbindet mit einigen direkt eigene Erinnerungen. Auch mit dem Ensemble (Anna Júlia Amaral, Marcel Nascimento und Nina Weber) kann bereits gesprochen werden.

Bis zur Vorstellung ist es aber noch Zeit, der Platz durch die Jacke gesichert, also in Ruhe noch einmal an die Theke und mit Getränken versorgen. Dann startet der selbstständig tönende Lautsprecher mit seinem Intro zum Stück. Nach und nach bauen die drei Darstellerinnen und Darsteller ihre kleinen Welten auf der Bühne auf, tragen den Berg ihres „Stuffs“ ab, kleiden sich in Kostüme, z. B. Jacken, die zur Hälfte aus einem Faltenrock bestehen. Begleitet werden ihre Aktionen von Audiodeskriptionen, die teilweise über die Lautsprecher kommen, teilweise von den Handelnden selbst kommentiert werden. Das Stück will auch für blinde Gäste erlebbar sein, was dank der Beratung durch Adriani Botez gut funktioniert. Jede Person trägt zudem andere Schuhe, durch die sie sich bei ihren Gängen auf der Bühne akustisch unterscheiden.

notsopretty sind: (v.l.n.r.) Anna Júlia Amaral, Marcel Nascimento und Nina Weber. (Foto: (c) Martina Bracke)
notsopretty sind: (v.l.n.r.) Anna Júlia Amaral, Marcel Nascimento und Nina Weber. (Foto: (c) Martina Bracke)

In ihren neu aufgebauten kleinen Welten erzählen die Figuren ihre jeweils eigenen Geschichten, die im Laufe des Stücks immer wieder weiterentwickelt werden.

Die kleinen Dinge spielen zunächst eine Rolle, denn mit ihnen verknüpfen sich Erinnerungen, was ja schon beim Publikum beim Early Boarding sichtbar wurde, aber immer wieder kommt die Frage auf: „Reden wir über Geld?“

Hinterlassenschaft ist nicht nur sentimental. Hinterlassenschaft bedeutet erben, nicht nur die Nase wird geerbt, geerbt wird auch Geldvermögen oder keins. Wie viel Geld? Kann man das auch irgendwie messen? Eine große Rechnung wird aufgemacht: Wenn ein Euro einem Zentimeter entspricht, wie viele Kilometer sind dann eine Milliarde? Die Gruppe überschlägt es und kommt auf  10.000 Kilometer. Große Summen stehen im Raum und hier setzt Gesellschaftskritik an. Vermögens- und Erbschaftsteuer sind Thema. Später wird der Umgang mit Reichen und ihrem Erbe noch in einen Song verpackt, für den es Szenenapplaus gibt.

Dazwischen schwelgt man in Fotos, man blättert akustisch durch das Fotoalbum, und „Weißt du, wie dein Vater gelacht hat?“

Das Spiel mit den Requisiten gelingt dem Ensemble eindrucksvoll. Besonders schön der quasi „Rutsch in die Urne“ über eine der abgeschrägten Kommoden. Letztlich kann man nur erben, wenn jemand stirbt, dennoch kann des Öfteren im Stück gelacht werden. Man erfährt jede Menge übers Erben und Vererben, was vielleicht den Gang in die Verbraucherzentrale erspart und vielleicht nicht so ausführlich hätte sein müssen, aber im Leben kann es sich noch als nützlich erweisen. Das Publikum kann aber auch einfach einen gelungenen Theaterabend genießen.

Am Ende landet alles erst einmal im Keller, wie das so ist mit den vielen Hinterlassenschaften, von denen man sich noch nicht trennen kann. Auch die Kirschen im Weckglas von 1978. Die Bühne ist aufgeräumt, aber das Publikum kann nichts mehr anfassen, denn eine Plane schützt das Erbe vor zu großer Neugier. Also Jacke vom Stuhl nehmen und an der Theke noch ein Getränk genießen. Auf die Verstorbenen! Mögen sie in guter Erinnerung bleiben.

 

Notsopretty, ein seit 2019 bestehendes Performancekollektiv, macht am Ende auf die angekündigten Etatkürzungen seitens des Landes NRW für die Freie Theaterszene aufmerksam. Mehr Infos dazu z. B. ein offener Brief unter www.dott-netzwerk.de (Netzwerk Dortmunder Tanz- und Theaterszene).

 

Mit dem Stück tourt das Ensemble noch durch verschiedene Städte und kehrt hoffentlich nochmal zum Koproduzenten und Premierenort Theater im Depot in Dortmund zurück.

 

Mehr:

Theater im Depot

Immermannstr. 29

44147 Dortmund

www.theaterimdepot.de

 

Die Gruppe:

www.notsopretty.de

 

Aktuelle Termine:

Fr/Sa, 13.-14.6. | 19 Uhr | Kulturhaus Thealozzi | BOCHUM

Sa, 28.6. | 16:30 Uhr | Droste Festival | HAVIXBECK

Fr/Sa, 25.-26.7. | 20 Uhr | Theater im Karlstorbahnhof | HEIDELBERG

Sa/So, 1.-2.11. | 20 Uhr | Landungsbrücken | FRANKFURT




Gemusical – ein Musical über Gemüse

Wie wurde eigentlich der „Sauerkraut“ zur „Kartoffel“? Mit dem Begriff „Kartoffel“ wird manchmal ein Deutscher oder eine Deutsche scherzhaft bezeichnet. Jetzt gilt das Nachtschattengewächs als Symbol für den typischen Deutschen. Doch woher kommt die Kartoffel eigentlich? Und die Tomate? Und die Avocado, die als Superfood aus europäischen Küchen kaum wegzudenken ist? Die Antwort: Aus Mittel- und Südamerika.



Nach „Boyband“ geht es jetzt um Gemüse. Das Performancekollektiv notsopretty präsentierte in ihrem Musical „Gemusical“ am 22. und 23. März 2024 im Theater im Depot die Reise der Kartoffel (gespielt von Anna Júlia Amaral) zu sich selbst. Mit Hilfe ihres Freundes Tom  (Marco Gonzales) und einem Mitarbeiter des Mycelium Network Centers (Emmanuel Edoror) konfrontiert sich Kartoffel mit ihren Erinnerungen und einer Geschichte, die viel komplexer ist, als sie dachte. Wie ist die Kartoffel zu einem Symbol für Deutschland geworden, obwohl sie in Südamerika ihren Ursprung hat?


Auch Brokkoli spielt mit als gemüsegewordene Bürokratie: (vorne Anna Júlia Amaral, dahinter v.l.n.r. Nina Weber,Emmanuel Edoror und Marco Gonzales) Foto © Sarah Rauch
Auch Brokkoli spielt mit als gemüsegewordene Bürokratie: (vorne Anna Júlia Amaral, dahinter v.l.n.r. Nina Weber,Emmanuel Edoror und Marco Gonzales) Foto © Sarah Rauch

Die Antwort lautet Friedrich der Große, der auch in dem Stück einen Auftritt hat. Friedrich (im Stück Freddy genannt) erkannte das Potenzial der Kartoffel als preiswerte Nahrungsquelle für die wachsende Bevölkerung und setzte Maßnahmen zur Förderung des Kartoffelanbaus durch. Er ließ Kartoffelfelder anlegen und verordnete die Kartoffel als Grundnahrungsmittel für seine Armee und die Bevölkerung. Dadurch wurde die Kartoffel in weiten Teilen Europas als wichtiges Nahrungsmittel anerkannt und gewann an Popularität.

Doch die Geschichte der Nahrungsmittel hat auch seine Schattenseiten (passend zu Nachtschattengewächsen). Die Spanier und andere Kolonialmächte waren nicht auf friedlichen Austausch mit den indigenen Völkern aus. Die europäische Entdeckung und Kolonialisierung Amerikas ermöglichten nicht nur die Einführung neuer Pflanzen und Nahrungsmittel nach Europa, sondern waren auch eng mit Ausbeutung, Versklavung und Unterdrückung indigener Völker verbunden. Die Kartoffel war Teil dieses komplexen Netzwerks des Austauschs zwischen den Kontinenten und trug sowohl zur Ernährungssicherheit als auch zu sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen bei.

Wir, und damit meine ich nicht nur die Deutschen, haben der Kartoffel viel zu verdanken. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Hungersnöten und der Ernährungssicherheit in Europa. Insbesondere während des 19. Jahrhunderts, als Europa von zahlreichen Missernten und Hungersnöten geplagt wurde, diente die Kartoffel vielerorts als zuverlässige Nahrungsquelle, da sie robust genug war, um widrige klimatische Bedingungen zu überstehen.

Aber mit Tomate und Kartoffel ist es nicht getan. Angebliches Superfood wie Chia oder Avocados (als Food-Influencerin Nina Weber) sind immer noch beliebt. Besonders Avocados haben eine schlechte Ökobilanz, weil sie einen enormen Wasserverbrauch haben und weil Wälder für Anbaugebiete gerodet werden. Der Avocadokonsum steig von 2016 bis 2019 auf ein Drittel. Anders als bei der Kartoffel ist unser Hunger auf die Avocado ein ernstes Problem für die Umwelt.

Ist die Kartoffel jetzt kulturelle Aneignung? Nein, eher eine gelungene Integration, ähnlich wie die Hugenotten fast 100 Jahre vorher in Preußen. Sie bereicherte den Speiseplan vieler Länder.

Das Kollektiv notsopretty verpackte ihre Kritik an koloniale Geschichte und Gegenwart geschickt in mitreißenden Songs und Choreografien. Absurdes, Lustiges und Trauriges war ebenso zu sehen, wie gut gemachte Kostüme. Alles in allem waren es zwei Stunden, die wie im Flug vorübergingen. Ein großes Lob an das gesamte Team von notsopretty.