Gemusical – ein Musical über Gemüse

Wie wurde eigentlich der „Sauerkraut“ zur „Kartoffel“? Mit dem Begriff „Kartoffel“ wird manchmal ein Deutscher oder eine Deutsche scherzhaft bezeichnet. Jetzt gilt das Nachtschattengewächs als Symbol für den typischen Deutschen. Doch woher kommt die Kartoffel eigentlich? Und die Tomate? Und die Avocado, die als Superfood aus europäischen Küchen kaum wegzudenken ist? Die Antwort: Aus Mittel- und Südamerika.



Nach „Boyband“ geht es jetzt um Gemüse. Das Performancekollektiv notsopretty präsentierte in ihrem Musical „Gemusical“ am 22. und 23. März 2024 im Theater im Depot die Reise der Kartoffel (gespielt von Anna Júlia Amaral) zu sich selbst. Mit Hilfe ihres Freundes Tom  (Marco Gonzales) und einem Mitarbeiter des Mycelium Network Centers (Emmanuel Edoror) konfrontiert sich Kartoffel mit ihren Erinnerungen und einer Geschichte, die viel komplexer ist, als sie dachte. Wie ist die Kartoffel zu einem Symbol für Deutschland geworden, obwohl sie in Südamerika ihren Ursprung hat?


Auch Brokkoli spielt mit als gemüsegewordene Bürokratie: (vorne Anna Júlia Amaral, dahinter v.l.n.r. Nina Weber,Emmanuel Edoror und Marco Gonzales) Foto © Sarah Rauch
Auch Brokkoli spielt mit als gemüsegewordene Bürokratie: (vorne Anna Júlia Amaral, dahinter v.l.n.r. Nina Weber,Emmanuel Edoror und Marco Gonzales) Foto © Sarah Rauch

Die Antwort lautet Friedrich der Große, der auch in dem Stück einen Auftritt hat. Friedrich (im Stück Freddy genannt) erkannte das Potenzial der Kartoffel als preiswerte Nahrungsquelle für die wachsende Bevölkerung und setzte Maßnahmen zur Förderung des Kartoffelanbaus durch. Er ließ Kartoffelfelder anlegen und verordnete die Kartoffel als Grundnahrungsmittel für seine Armee und die Bevölkerung. Dadurch wurde die Kartoffel in weiten Teilen Europas als wichtiges Nahrungsmittel anerkannt und gewann an Popularität.

Doch die Geschichte der Nahrungsmittel hat auch seine Schattenseiten (passend zu Nachtschattengewächsen). Die Spanier und andere Kolonialmächte waren nicht auf friedlichen Austausch mit den indigenen Völkern aus. Die europäische Entdeckung und Kolonialisierung Amerikas ermöglichten nicht nur die Einführung neuer Pflanzen und Nahrungsmittel nach Europa, sondern waren auch eng mit Ausbeutung, Versklavung und Unterdrückung indigener Völker verbunden. Die Kartoffel war Teil dieses komplexen Netzwerks des Austauschs zwischen den Kontinenten und trug sowohl zur Ernährungssicherheit als auch zu sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen bei.

Wir, und damit meine ich nicht nur die Deutschen, haben der Kartoffel viel zu verdanken. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Hungersnöten und der Ernährungssicherheit in Europa. Insbesondere während des 19. Jahrhunderts, als Europa von zahlreichen Missernten und Hungersnöten geplagt wurde, diente die Kartoffel vielerorts als zuverlässige Nahrungsquelle, da sie robust genug war, um widrige klimatische Bedingungen zu überstehen.

Aber mit Tomate und Kartoffel ist es nicht getan. Angebliches Superfood wie Chia oder Avocados (als Food-Influencerin Nina Weber) sind immer noch beliebt. Besonders Avocados haben eine schlechte Ökobilanz, weil sie einen enormen Wasserverbrauch haben und weil Wälder für Anbaugebiete gerodet werden. Der Avocadokonsum steig von 2016 bis 2019 auf ein Drittel. Anders als bei der Kartoffel ist unser Hunger auf die Avocado ein ernstes Problem für die Umwelt.

Ist die Kartoffel jetzt kulturelle Aneignung? Nein, eher eine gelungene Integration, ähnlich wie die Hugenotten fast 100 Jahre vorher in Preußen. Sie bereicherte den Speiseplan vieler Länder.

Das Kollektiv notsopretty verpackte ihre Kritik an koloniale Geschichte und Gegenwart geschickt in mitreißenden Songs und Choreografien. Absurdes, Lustiges und Trauriges war ebenso zu sehen, wie gut gemachte Kostüme. Alles in allem waren es zwei Stunden, die wie im Flug vorübergingen. Ein großes Lob an das gesamte Team von notsopretty.




Musical „RENT“ rockt Dortmunder Opernhaus

Erst Anfang September 2023 hatte Puccinis Oper „La Bohéme“ unter der Regie von Gil Mehmert seine bewegende Premiere im Dortmunder Opernhaus.



Am 30.09.2023 startete nun das in den 1990-iger Jahren (New York) zur Weihnachts- und Silvesterzeit verlegte moderne Musical-Pendant „RENT“ (Miete) in der Inszenierung des Regisseurs am gleichen Ort. Buch, Musik und Liedertexte sind von Jonathan Larson, (Deutsch von Wolfgang Adenberg). Das Originalkonzept und die zusätzlichen Liedtexte stammen von Billy Aronso.

Die drei jungen Bohemians (Gespielte von Christof Messner, Alex Snova und Lukas Mayer). Foto: (c) Thomas M. Jauk
Die drei jungen Bohemians (Gespielte von Christof Messner, Alex Snova und Lukas Mayer). Foto: (c) Thomas M. Jauk

Hier werden (vordergründig) ähnliche Geschichten erzählt. Mehmert hat nicht nur das Bühnenbild mit dem Dach-Appartement übernommen, sondern auch einige kleine Anlehnungen an die „La Bohème“-Inszenierung übernommen.

Begleitet wird die Story musikalisch sensibel und rockig von einer Band unter der Leitung von Jürgen Grimm.

Junge Bohemiens kämpfen auch bei RENT um ihre nackte Existenz und Leben in einem schäbigen „Loft“ über den Dächern von New York. Ihnen wird hier jedoch unter anderem bewusst die Obdachlosen auf der Straße unten gegenübergestellt.

Beide Gruppen sind von den Plänen Vermieters und ehemaligen Mitbewohners des Appartements bedroht, der der die Mieter aus der Wohnung heraushaben will, um sie in eine Luxusimmobilie zu verwandeln. Der Filmemacher Mark (Christof Messner) und Musiker Roger (David Jacobs), beide noch Mieter des Appartements, bekommen Unterstützung von Marks Ex-Freundin Maureen (Bettina Mönch), deren neue Partnerin Joanne (Amani Robinson), dem arbeitslosen Universitätsprofessor Tom (Alex Snova) sowie dessen neue Liebe Drag-Künstler Angel ( Lukas Mayer). Dazu kommt die drogenabhängige und schwer kranke Mimi, in die sich Roger allmählich verliebt.

Die harte Lebenswirklichkeit holt die Paare bald ein….

Das Musical besticht durch rasante Choreografien, starken Stimmen der Darstellenden und eindringlichen geschickt wechselnden Bühnenbildern auf verschiedenen Ebenen.

Während bei Puccini Mimi an Tuberkulose leidet, spielt bei Larson Drogensucht und die in den 1990-iger Jahren akute Aids-Problematik eine Rolle. Viel ist aus seiner eigenen Lebenswirklichkeit entnommen. Ungleichheit, Armut, Gentrifizierung, Obdachlosigkeit, Homophobie werden ebenfalls schonungslos aufgezeigt.

Leider haben diese Probleme auch heutzutage nichts von ihrer Brisanz verloren.

Optisch am Auffallendsten war sicherlich Lukas Mayer in seiner Rolle als „Drag-Queen“. Bei all den tollen Stimmen beeindruckte mich persönlich besonders Amani Robinson.

Humorvoll unterstützt wurden die Hauptakteure von dem Rest des Ensembles in ihren verschiedenen Rollen.

RENT ist etwas für von Musical-Freunde wie auch Fans von romantischen Rockballaden und fetzigem Rock. Modern, aktuell, frisch und mit einer Prise Erotik.

Es ist eine musikalische Feier der Liebe („Seasons of Love“, einziger Song in englischer Sprache), der Bohème, und vor allem des „Leben im Jetzt“.

Die Premiere wurde vom Publikum stürmisch gefeiert. Weiter Aufführungstermine erfahren Sie wie immer unter www.theaterdo.de  oder Tel.: 0231/50 27 222




Musical um Kulturwerte im entfesselten Kapitalismus

Im Schauspiel Dortmund konnte das Publikum am 08.09.2023 die deutschsprachige Erstaufführung von „Das Kapital: Das Musical“ (Nick Rongjun Yu) unter der Regie von Kieran Joel in einer Fassung für die deutsche Theaterrealität. Es wird hier Frage nach der Finanzierung von Kunst und Kultur vom gesamten Ensemble klar und konkret gestellt. In dem Stück kommt dem neuen Ensemble-Mitglied Lukas Beeler gleich eine besondere Rolle zu.



Ausgerechnet das Hauptwerk von Karl Marx „Das Kapital“ soll in der kommerziellsten Theaterform „Musical“ aufgeführt werden. Der „Neue“ als hochmotivierter Schauspieler soll dem Theater aus der Finanzmisere helfen und geht dafür ganz eigene Weg. Die Aufführung wird bestreikt und als scheinbare Lösung ein neues Finanzierungsmodell präsentiert. Das Publikum sowie finanzkräftige Investor*innen sollen eine „geile“ Luxus-Aufführung von  „Kapital: Das Musical“ möglich machen und dem Theater die nötige Relevanz verschaffen. Natürlich auch fette Rendite für die Investierenden!

EnsemSofia Galin, Saranya Bosch, Alexander Darkow, Sarah Quarshie, Nila Habibzadeh, Raphael Westermeier, Lukas Beeler, Adi Hrustemović, Galatea Weber, Marlena Keil, Antje Prust, Sarah Avanitis, Lili Michalski
Foto: (c) Birgit Hupfeldble

Es folgt eine musikalische Komödie und Musicalparodie, die gehörig Fahrt aufnimmt und durch die Widersprüchlichkeit des entfesselten Kapitalismus führt.

Bei der Inszenierung wurde nicht an Musical-Glanz gespart. Aufwendige Bühnenbilder, viele Kostümwechsel und Songs mit einem gewissen Ohrwurmpotential (Leitung: Leonardo Mockridge), Tänzerinnen vom Tanzhaus Dortmund sorgten dafür.

Die Schauspieler*innen des Dortmunder Ensembles spielten nicht nur sich selber, sondern schlüpften teilweise mit viel Humor, Selbst-Ironie und viel Spielspaß in die Rollen des Finanzmoguls, Investment-Bankers, Aktien-Queen oder der Intendantin. Neue Medien wurden mit kurzen Video-Einspielungen an den Seiten oder auf der Leinwand im Hintergrund geschickt eingebunden. Das Publikum wurde durch die Schauspieler*innen an manchen Stellen direkt einbezogen.

Ein Theaterabend zwischen Lachen, Witz, Ironie und leiser Nachdenklichkeit in manchen Momenten.

Das Dilemma zwischen den Anspruch eines kritischen und unabhängigen Theaters (offen für gesellschaftlich relevante Themen durch städtische Subventionen gestützt) und den Mechanismen und Gegebenheiten des „real existierenden Kapitalismus“.

Werden auf der Bühne nur „Reproduktionen unmittelbarer Lügen, in denen wir in der Realität leben“ gezeigt, wie Schauspielerin Antje Prust sagt? Ist das, was die Schauspielenden machen denn überhaupt Kapitalismuskritik – oder nur eine kulturindustrielle Bestätigungsmaschine? Der Umgang mit diesem Bruch und der Identitätskrise bleibt am Ende offen.

Die übrig gebliebene riesige Abrissbirne am Ende auf der Bühne ist hoffentlich nicht nur ein pessimistisches Omen.

Die gelungene Aufführung, bei der sich auch der Ensemble-Neuzugang gut einführte, wurde vom Publikum mit viel Applaus honoriert.

Die weiteren Aufführungstermine erfahren Sie wie immer unter www.theaterdo.de oder Tel.: 0231/ 50 27 222




Dem Trauma stellen

Bühne und Ensemble in der Schlussszene. v.l.n.r.: Dustin Smailes (Henry), Eve Rades (Natalie), Johannes Huth (Gabe), Maya Hakvoort (Diana), Rob Fowler (Dan), Jörg Neubauer (Madden) ©Björn Hickmann (Stage Picture GmbH).
Bühne und Ensemble in der Schlussszene. v.l.n.r.: Dustin Smailes (Henry), Eve Rades (Natalie), Johannes Huth (Gabe), Maya Hakvoort (Diana), Rob Fowler (Dan), Jörg Neubauer (Madden)
©Björn Hickmann (Stage Picture GmbH).

Das Musical „Next to Normal (Fast normal“ von Tom Kitt (Uraufführung 2008 Washington) behandelt ein tabuisiertes Thema von psychischen Störungen und ihre Folgen für den Betroffenen und die Auswirkungen auf die gesamte Familie. Also keine normale „Musical-Thematik“.

Unter der Regie von Stefan Huber, bekannt durch seine „Funny Girl“ Inszenierung, hatte das Musical begleitet von einer sechsköpfigen Band unter der Leitung von Kai Tietje in seiner deutschsprachigen Fassung am Samstag, den 05.02.2016 in der Oper Dortmund Premiere.

Die Geschichte um die „Bürgerliche Durchschnittsfamilie“ Goodman, in der Mutter Diana seit 16 Jahren an einer diagnostizierten bipolaren Störung leidet, bietet genügend Zündstoff.

Der vor über 17 Jahren verstorbene Sohn Gabe ist wie ein Phantom im Haus präsent. In ihren Halluzinationen sieht Mutter Diana ihren Sohn. Vater Dan, ein Architekt, ist darauf fixiert, einerseits seiner geliebten Frau zu helfen, und in dem Chaos ein „normales Leben“ zu zelebrieren.

Die musikalisch begabte Tochter Natalie kommt bei dem in der Familie allgegenwärtigen toten Bruder zu kurz und fühlt sich einsam und nicht beachtet. Ihr Schulfreund Henry versucht mit allen Mitteln, ihr Sicherheit und Geborgenheit zu geben und sie von seiner Liebe zu überzeugen.

Diana war schon bei verschiedenen Psychiatern und hat viele Medikamente geschluckt. Die lähmen jedoch ihre Gefühle. In einem Befreiungsakt vernichtet sie die Tabletten.

Nach einem Zusammenbruch versucht es der neue Psychiater mit Hypnose und nach ihrem Suizidversuch mit Elektroschock-Therapie. Dan hilft seiner Frau aus Angst nur halbherzig, ihr verlorenes Erinnerungsvermögen nach dieser Therapie wieder zu gewinnen. Was an den verstorbenen Sohn erinnern könnte, ist tabu. Diana bleibt hartnäckig und kommt der traurigen Wahrheit auf der Spur. Langsam nähert sie sich wieder ihrer Tochter an. Am Ende trifft sie eine Entscheidung und auch Dan stellt sich dem Trauma des gestorbenen Sohnes….

Die Band spielte auf der Bühne, und das Geschehen fand auf dem erhöhten Orchestergraben statt. Eine einfach gestaltete doppelstöckige und offene Häuserfront bildete den Hintergrund. Die Wände ließen sich geschickt verschieben. So konnte das Publikum die gleichzeitigen Handlungen auf den verschiedenen Ebenen gut verfolgen. Sonst war im Vordergrund nur eine weiße Couch und ein weißer Tisch mit vier Stühlen zu sehen.

Sprache und Songs gingen nahtlos ineinander über und war der emotionalen Situation angepasst. Die Spannbreite reichte von ruhig-melodiösen, bis hin zu wütend-temperamentvollen Rock-Balladen. Auch Klassik und Jazz war mit im Repertoire. Dennoch war die Musik für ein „Rock-Musical“ insgesamt zu sehr balladenhaft, vor allem als gegen Ende des Stückes stark auf die Tränendrüse gedrückt wurde.

Die sechs Personen des Musical-Ensembles überzeugten mit starken Stimmen und Sensibilität in der Darstellung ihrer Figuren. Maya Hakvoort als Diana, Rob Fowler als ihr Mann Dan, Johannes Huth als Gabe, Eve Rades als Natalie und in seiner Doppelrolle als Dr. Fine/Dr. Madden Jörg Neubauer ließen die Charaktere in ihrer Emotionalität auf der Bühne lebendig werden.

Komische Elemente und ironische Sprüche lockerten die thematisch ernste Handlung auf. Die komische Rockstar-Einlagen des Dr. Madden sind da nur ein Beispiel.

Besonders eindrucksvoll wurde die Figur des Gabe dargestellt. Zunächst nur von der Mutter wahrgenommen, erinnerte die Situation an den Film „Sixth Sense“, zumal alle anderen im Haus Gabe nicht sehen. Der tote Sohn ist im Prinzip die personifizierte Form der unbewältigten Trauer, die auch Dan zum Schluß erfasst, als er Gabe erkennt. Denn Dan hat den Tod seines Sohnes ebenfalls nicht verkraftet.

Das Stück entstand in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Thimm und der LWL Klinik für Psychiatrie in Aplerbeck. Das hat dem Ensemble sehr geholfen, sich in die Situation von psychisch Kranken und ihren Angehörigen hineinzuversetzen.

Vielleicht trägt „Next to normal“ dazu bei, etwas mehr Verständnis für Menschen mit psychischen Störungen zu entwickeln. Depressionskranken ist mit einem „Kopf hoch, wird schon!“ nicht geholfen. Dennoch darf es nicht dazu führen, dass sich das Klischee bildet „Menschen mit einer bipolaren Störung sehen Tote“ ähnlich wie „Autisten können nicht mit Menschen umgehen, aber sehr gut mit Computern“. Jede psychische Erkrankung ist individuell wie ein Mensch eben individuell ist. Behandlungsmethoden können funktionieren oder auch nicht.

Das Publikum feierte das Ensemble und die Inszenierung mit stehenden Ovationen. Wer sich für Musical-Themen jenseits von Phantomen, Katzen oder Superstars interessiert, sollte einen Besuch im Opernhaus wagen. „Next to normal“ ist nicht normal, aber auf jeden Fall sehenswert.

Nähere Informationen erhalten sie unter www.theaterdo.de




Überlebenskunst unter bedrohlichen Umständen

Müssen ihr "Schtetl" Anatevka letztendlich doch verlassen: Ilse Winkler (Golde), Ks. Hannes Brock (Tevje) (Foto: ©Thomas M. Jauk / Stage Picture)
Müssen ihr „Schtetl“ Anatevka letztendlich doch verlassen: Ilse Winkler (Golde), Ks. Hannes Brock (Tevje)
(Foto: ©Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Mit der Premiere von „Anatevka (Fiddler on the Roof)“ am Samstag, den 19. Oktober brachte das Dortmunder Opernhaus eines der erfolgreichsten und meist gezeigten Musicals auf die Bühne. Grundlage für das Buch von Jerry Brock und das Musical sind die Geschichten von Scholem Alejchem. 

Im Mittelpunkt steht das Leben im Schtetl (Städtchen) Anatevka in der Ukraine zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Wie die anderen jüdischen Bewohner meistert der der Milchmann Tevje mit seiner Frau Golde und seinen fünf Töchtern sein Leben mit Witz, schwarzen Humor und schlitzohrig in einem festen jüdisch-traditionellen Rahmen. Oft antisemitischen Anfeindungen des russischen Umfeldes und der zaristischen Machthaber ausgesetzt. Ein Balanceakt zwischen Alltagsbewältigung und dem Druck der zaristischen Regierung. Sinnbild dafür ist der „Geiger auf dem Dach“

von Marc Chagall. Erste Risse im Leben des Milchmanns gibt es, als seine älteste Tochter Tzeitel einen armen Schneider heiraten will, obwohl unter Zuhilfenahme einer Heiratsvermittlerin eine Vermählung mit einem reichen Fleischer vorgesehen ist. Dann will auch noch die zweite Tochter Hodel den Hauslehrer der Familie mit den revolutionären Ideen heiraten. Er wird bald nach Sibirien verbannt. Auch diese Kröte wird geschluckt. Als die dritte Tochter Chava den jungen russischen Freigeist Fetja heiraten will, verstößt sie Tevje. Doch die Situation ändert sich, als alle Juden nach einem Erlass des Zaren Anatevka innerhalb von drei Tagen verlassen.müssen…

Regisseur Johannes Schmid gibt mit seiner Inszenierung „Anatevka“ einen sensiblen Einblick in das jüdisches Leben Anfang des letzten Jahrhunderts in einem „Schtetl“ in Osteuropa. Dabei wurde viel Wert auf Detailgenauigkeit gelegt. Das betraf sowohl die traditionellen Kostüme der jüdischen Bevölkerung wie auch die Details zum jüdischen Leben. So zum Beispiel die Feier des Sabbat oder die jüdische Hochzeit der ältesten Tochter unter dem Baldachin. Die russische Bevölkerung und Obrigkeit trugen zum anschaulichen Gegensatz farbigere, bunte Kleidung.

Beim Bühnenbild wurde für einen wechselnden Hintergrund moderne Videotechnik geschickt eingesetzt. Sonst war die Bühne dem Leben der Leute entsprechend einfach gehalten und örtliche Veränderungen mit Hilfe von Hebebühnen eingeführt.

 

Als „Fiddler on the Roof“ führte Maurice Maurer das Publikum gleich musikalisch atmosphärisch mit melancholischer Klezmer-Musik in das Schtetl ein. Er war ständiger Begleiter des Abends. Für das Ensemble war bei dem Musical neben dem Gesang die schauspielerischen Anforderungen eine große Herausforderung. Das sie beides können, haben sie hier wieder einmal gezeigt.

 

Viele Menschen werden bei „Anatevka“ an Ivan Rebroff denken. Dennoch ist Tevje mehr. Kammersänger Hannes Brock drückte der Figur des Tevje mit ironischem Augenzwinkern, viel (Selbst):Ironie seinen eigenen Stempel auf. Brock spielt einen Tevje, der sich letztendlich mit schwarzen Humor in seine Rolle als ewiger Flüchtling fügt. Zum Schluss öffnet sich eine kleine Tür zu seiner zunächst hartherzig verstoßenen Tochter Chava.

 

Für ein Musical braucht ein Theater auch einige Gäste. Ein besonders glückliches Händchen bewies man bei Ilse Winkler als Tevjes Frau Golde. Sie stand ihm mit Humor und ihrer starken Präsenz wunderbar zur Seite. Ein besonders berührender Moment war, als Tevje seine Frau nach fünfundzwanzig Jahren Ehe fragt „Ist es Liebe“.

 

Die Paare Tzeitel (Ileana Mateescu) und Mottel (Lucian Krasznec), Hodel (Tamara Weimerich) und Perchik (Morgan Moody), sowie Chava (Anke Briegel) und Fetja (Marcus Schneider) zeigten nicht nur ihr gesangliches Können, sondern brachten auch glaubhaft den zunehmenden Mut zur Veränderung und Emanzipation von überkommenen Traditionen. Ein Plädoyer für Toleranz und Offenheit.

 

Ein Plädoyer, dass den Juden aber nichts nutzt, denn am Ende steht die Vertreibung. Daher ist „Anatevka“ auch keine Komödie, sondern eine Tragödie. Ein großes Lob gehört Regie, Kostüme und Bühne, gerade weil sie keinen direkten Bezug zum Dritten Reich machen. Denn deshalb bleibt das letztendliche Schicksal der osteuropäischen Juden in jeder Sekunde spürbar. Besonders in den Szenen, in denen die Russen ihre Macht gegenüber den Juden zeigen, kommen die Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg automatisch in den Kopf. Gerade weil diese Welt für immer brutal zerstört wurde, sollten wir in „Avatevka“ mehr sehen, als nur „Wenn ich einmal reich wär“.

 

Eine bis in die Nebenrollen gut besetzte Aufführung wurde stark vom Opernchor des Theater Dortmund unter der Leitung von Granville Walker und einem hervorragenden Tanzensemble unterstützt.

Die Dortmunder Philharmoniker unter der Leitung von Philipp Armbruster sowie Andreas Trenk am Akkordeon und Christian Kiefer an der Gitarre begleiteten den Abend sensibel und professionell gekonnt.

Ein gelungener Musical-Abend wurde vom Publikum begeistert gefeiert.

 

Weitere Termine: 23. Oktober 2013, 26. Oktober 2013, 27. Oktober 2013, 02. November 2013, 10. November 2013, 15. November 2013, 23. November 2013, 14. Dezember 2013, 20. Dezember 2013, 28. Dezember 2013, 31. Dezember 2013, 03. Januar 2014, 12. Januar 2014, 16. Januar 2014 und 24. Januar 2014. Karten unter www.theaterdo.de oder 0231 5027222.