Inside Carmen

… oder befreit man eine Bühnenlegende von toxischer Männlichkeit

Carmen aufgefrischt und „zurecht“ gemacht für das 21.Jahrhundert. Eine emanzipierte Carmen, befreit von Klischees und Zerrbildern des 19.Jahrhunderts, in dem sich heute leider immer noch zu viele bewegen oder wieder zurückhaben möchten.



Die Carmen, der in Noten gegossene feuchte Männertraum, der Jungen Oper Dortmund entstieg schon mal untypisch einem toten Stier … wobei der Stier Carmens unausweichliches Schicksal symbolisiert, wie auch der Stier im Kampf in der Arena etwas archaisch Sexualisiertes darstellt.

Lennart Pannek (Don José), Lina Förster (Carmen)
Foto: (c) Björn Hickmann
Lennart Pannek (Don José), Lina Förster (Carmen)
Foto: (c) Björn Hickmann 

Meine Grandmère benutzte gerne, auch für Braunauer, das Wort Männeken/s, weil sie ihr toxisch daherkamen. Erstaunlich für eine Dame Jahrgang 1899. Aber meine Grandmère war schon vor 1919 emanzipiert und brauchte auch keine verlorene Schwarzer.

Hört man den Namen der Oper von George Bizet, Carmen, dann haben die meisten sicher ein Bild von Erotik, überbordender Sinnlichkeit, Verführung und verbotener Liebe, aber von einer verruchten Halbwelt. Lina Förster präsentierte uns eine andere Carmen als die gewohnte Projektion von toxischer Männlichkeit.

Die Carmen, ein erotisch prägender oder besser geprägter Bühnenklassiker, von George Bizet tropfte immer schon vor toxischer Männlichkeit und stellte Carmen als Lustobjekt ins Rampenlicht. Frei nach „mit der könnte ich auch mal“ … die typische Aussage derer, die aus welchen Gründen auch immer, über bleiben am Ende einer Party, oder einer anderen Veranstaltung mit Brautschaueffekt. Die Carmen von Bizet war als Produkt des 19. Jahrhunderts und der „Nichtrolle“ von Frauen darin, ein somit typisches Weibchen Schema und Projektionsfläche für Männerphantasien … etwas das in AltRight Kulturkampf gerade widerliche Auswüchse erlebt.

Doch das schillernde Wesen von Carmen kommt mit einem immens hohen Preis. Die leidenschaftliche Affäre mit Don José, von Lennart Pannek eindringlich dargestellt, besessen von dem Bild, dass er sich von Carmen gemacht hat, endet in einer Katastrophe.

Hat Carmen es mit ihrem Freiheitsdrang, ihrer Lust am Leben zu weit getrieben? Sie eckt an, auf der Arbeit, bei Feiern. Sie lebt ihr Ding, emanzipiert und frei von Zwängen. Sie ist kein Weibchen, wie so mancher Mann / Männeken es gerne haben möchte. Frauen auf Augenhöhe mit ihnen können sie nicht vertragen, reizen sie. Wie der Chef der Polizeitruppe, der kurz davor ist abzudrücken … ein Menetekel dem Carmen fassungslos gegenüber steht.

Was Carmen unter Liebe versteht, sie liebt ihre uneingeschränkte Freiheit der Gefühle. Sie will sich auch von moralischen Bindungen und gesellschaftlichen Zwängen nicht einengen lassen. Sie weiß ihre Reize einzusetzen und betört damit Frauen, eher ungewollt, wie die Kartenlegerinnen, und Männer gleichermaßen. Aber, sie ist aber kein leichtes Mädchen. Ihre bei Bizet doppelt sexualisierte Rolle, weil dessen Carmen nicht nur wie ein leichtes Mädchen daher tanzt, sondern auch eine „Zigeunerin“, Sinti. ist. Damit bricht Alexander Becker und lässt seine Carmen leben wie eine selbstbewusste Frau des 21.Jahrhunderts.

Leichtfüßig und humorvoll, auch dank des Conferencier Quartetts (Moderator*innen), kommt unsere Carmen der Jungen Oper Dortmund auf die Bühne und nutzt dabei auch Popsongs neben den Opernmelodien. Das Carmen eine Sinti ist wird durch GIPSY La Gaga verdeutlicht. Ihr Lebensgefühl hingegen kommt viel besser in den Popsongs DON’T LET ME BE MISUNDERSTOOD von  Santa Esmeralda in seiner nunmehr auch klassischen DISCO Version und HUMAN von The Killers zum Vorschein.

Alexander Becker und die Junge Oper haben Carmen wirklich ins 21.Jahrhundert geholt und auch jungen Menschen zugänglich gemacht.

Dadurch wird auch das aufgeladene Spannungsverhältnis zwischen dem alten und überkommenen Wunschbild von einer Frau und ihren tatsächlichen Wünschen und Bedürfnissen, hier von Carmen, aufgelöst … obgleich Carmen immer noch in einem Femizid endet. Die Femme Fatal aber wird von ihrem Sockel gehoben und bekommt Menschlichkeit. Das zeigt sich auch in dem Zwiegespräch von Micaëla, glänzend gespielt und gesungen von Lisa Pauli und Carmen deutlich-

Die Junge Oper spielte und spielt eine von toxischer Männlichkeit, aber durch sie bedrohte, befreite Carmen ohne die Korsage des 19.Jahrhunderts oder irgendeinen Kopftuchzwang. Ein Ohren- und Augenschmaus, auch für das Instagram Zeitalter.

Carmen                       Lina Förster
Don José                     Lennart Pannek
Micaëla                       Lisa Pauli
Escamillo                    Malte Beran Kosan, Jan Schebaum
Le Remendado           Ulrich Kemajou
Le Dancaïre                 Massimo Buonerba
Zuniga                         Maximilian Berns
Mercédès                    Celina Sedlatschek
Frasquita                     Lilli Schnabel
Moderator*innen       Jacob Ambrosius, Lena Frericks, Selma Kirketerp, Jonathan Pannek

Ensemble

(OpernYoungsters)     Lilli Bracklow, Kathrin Engelhardt, Sabine Flora, Katja Lehnen,                                           Johanna Niesse, Sophie Marie Stein
Ensemble

(OpernKids)                Lilia Al-Jundi May, Rosa Al-Madani, Emil Schreier, Hannah Boeck,                                     Can Böhler, Enya Dehrenbach, Lisa Kemper, Felix Kemper, Cataleya                                 Maria Kronwald, Liselotte Thiele

Projektorchester        Inside Carmen
Flöte                            Marlene Ambrosius
Oboe                           Pauline Hensel
Klarinette                    Simon M. Schebaum
Trompete                    Marc Scherbarth
Posaune                      Jonas Wirtzfeld
Violine 1                      Johanna Töpfer, Patricia Gildekötter, Lukas Meyer Puttlitz
Violine 2                      Elisabeth Bovensmann, Nevio Cafuk, Fay Fahl
Bratsche                      Carolin Bernhard, Lars Pollmeier
Kontrabass                  Daniel Gruber
Schlagwerk                 Finn Birk
Piano                           Florian Koch
E-Gitarre                     Anton Krun
E-Bass                         Sabrina Neumann

Musikalische Leitung Andres Reukauf
Inszenierung               Alexander Becker
Bühne und Kostüme   Dorothee Schumacher
Licht                            Bianca Fischer
Choreografie              Jutta Maas
Choreinstudierung &

Musikalische Assistenz Karsten Scholz
Vocal Coaching           Marcelo de Souza Felix, Wendy Krikken
Dramaturgie               Daniel Andrés Eberhard
Projektleitung &

Orchester Koordination Kristina Senne
Regieassistenz            Fabius Tietje
Produktionsleitung     Fabian Schäfer
Kostümassistenz         Nina Albrecht-Paffendorf




Kooperations-Musical „Joseph“ mit aktuellen Bezügen und viel Engagement

Ein Jahr lang haben über 😯 Schülerinnen und Schüler des
Märkischen Gymnasiums Iserlohn in Kooperation mit der jungen Oper
Dortmund, dem Jugendclub „Tortugas“ (Oper Dortmund) hart
garbeitet, um zusammen mit Profis des Musiktheaters (wie etwa
Tanzprofi Jutta Maas) unter der Leitung von Regisseur Alexander
Becker und dem Dirigenten Christoph JK Müller sowie Unterstützung
durch die Musikschule Dortmund ihre Version von Andrew Lloyd Webbers
„Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat“ (Lyrics : Tim Rice
1968) einzuüben. Die SängerInnen werden dabei von der eigens
gegründeten Projektorchester „Orange Groove“ (Musikschule
Dortmund) begleitet. Am 10.07.2019 war dann um 19:30 Uhr Premiere in
der Dortmunder Oper. Am 11.07.2019 gab es dann sogar noch zwei
Aufführungen.

Das Musical bezieht
sich auf die biblische Geschichte von Joseph dem Träumer,
Lieblingssohn von Jacob (gelobtes Land Kanaan). Seine elf Brüder
sind neidisch und er wird von ihnen gehasst. Ausgestoßen sowie an
den reichen Potiphar nach Ägypten verkaufen, macht er sich wegen
seiner guten Ratschläge zunächst unentbehrlich. Aus Eifersucht wird
er dann an einen Pharao weiter verkauft. Wegen seinem Sachverstand,
Traumdeutungen und Prophezeiung der „sieben schweren Jahre“ kommt
er zu viel Ansehen. Alles ändert sich, am Ende auch die Beziehung zu
seinen Brüdern…

Die Geschichte wird
von einer Erzählerin vor einer großen Gruppe von Kindern und aus
deren Blickwinkel berichtet.

Bei dieser
Inszenierung wird zusätzlich ein Schulszene vorangestellt, wo der
junge Schüler Joseph (wie leider heute so oft) gemobbt und davon
sogar ein Selfie gemacht wird. Damit ist ein aktueller Bezug zur
heutigen Zeit geschaffen, wo es Außenseiter jedweder Art schwer
haben. Es ist die Story von Neid, Missgunst, Außenseitern und
möglicher Versöhnung. Tenor: Glaub gegen alle Widerstände an dich,
deine Träume und Visionen.

Der junge Joseph
wird wunderbar verkörpert von Jonathan Pannek, dem wirklichen Bruder
von Lennart Pannek, dem „Joseph“ in der erzählten Geschichte.
Lennart hat nicht nur eine gute und warme Stimme, sondern sieht
seinem Bruder Jonathan praktischer Weise auch noch recht ähnlich.

Eine wichtige Rolle
spielt die Erzählerin, die ständig bei Joseph ist und ihm auch Mut
zuspricht. Als dieser zunächst glaubt, es geht nicht mehr weiter,
sagt eine Stimme ihm als Aufmunterung „Hey Joseph, you‘re not
beaten, yet!“ Mit ihrer klaren, starken Stimme und viel Engagement
füllt Lisa Pauli (bekannt durch ihre großen Rolle aus dem Projekt
„Beethoven“ (2017)) diese schwierige Rolle aus.

Joseph (Lennart Pannek) rechts mit seinen Brüdern. (Foto: © Theater Dortmund)
Joseph (Lennart Pannek) rechts mit seinen Brüdern. (Foto: © Theater Dortmund)

Die weiteren
beteiligten Personen, die Darsteller der Brüder, der Vater und
Pharao, Potiphar, seine Frau und natürlich die beteiligten Chöre
oder Musiker, wussten zu überzeugen.

Modern war auch der
gezielte Einsatz von Video-Projektionen und der gekonnte Umgang mit
der verschiebbaren Bühne, die für verschiedene Ebenen sorgten.

Musikalisch besteht
das Musical aus einer Vielzahl von Parodien verschiedenster
Musikstile (ob Cha Cha Cha, Country-Ballade, Pop oder Chanson) und
Hommagen an bekannte Größen wie Harry Belafonte (Benjamin Calypso),
Elvis Presley (Song of King). Gut, das der Pharao nicht übertrieben
als Elvis-Imitator (in Elvis-Kleidung) auftrat , sondern als Pharao
gekleidet wurde. Er wurde von Felix Kriewald mit viel Humor auf die
Bühne gebracht.

Die Inszenierung war
von viel Humor geprägt. Besonders witzig: Die Verführungsszene
zwischen Mrs. Potiphar (Sabine Flora) und Joseph (Lennart Pannek),
als dieser (vergeblich) verzweifelt versuchte, eine riesige Bibel zum
„Schutz vor der Versuchung“ zwischen sich und der Frau zu
schieben.

Ein großes
Kompliment für die anspruchsvolle Tanz-Choreografie von Jutta Maas
und die schönen bunten Kostüme, die nicht übertrieben auf „Hippie“
getrimmt waren.

Dem begeisterte
Publikum wurden gleich mehrere Wiederholungen der eingängigen Songs
aus dem Musical geboten.