Identität – wie wollen wir Leben?

Kann ein kompletter Reset uns einen Neubeginn verschaffen oder wäre
dies ein vergebliches Unterfangen? In dem Stück „Identität“ von
Sir Gabriel Trafique (Regie und Text: Björn Gabriel) trafen
Lebensentwürfe auf Utopien oder Dystopien. Die Dortmunder Premiere
war am 05. Oktober 2019 im Theater im Depot.

Auf der Bühne stand
ein großer mit Gaze bespannter Würfel. Auf der Vorderseite
erschienen Bilder, die zum Untertitel passten: „Schizoszenarien
unter kalbenden Gletschern“. Die Rahmenhandlung des Stückes
bestand aus einer Produktionscrew. Die Chefin (Anna Marienfeld) und
drei Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Dominik Hertrich, Mirka Ritter
und Kevin Wilke) wollen eine knallige Show, den „Hamster des
Jahres“ produzieren. Mit der ersten Staffel ist die Chefin noch
unzufrieden. Hier wird angesichts der Klimakatastrophe (sie sind das
apokalyptische Szenario) gezeigt, wie ignorant die Menschen darauf
reagieren. Trotz warnendem Nebelhorn wird Plastik en masse
weggeworfen und die Sprachlosigkeit der älteren Generation wird
angesprochen.

Später wird es
Matrix-haft „Du bist der Auserwählte“ heißt es da und Dominik
Hertrich steht vor der Bühne als Rufer in der Wüste „Was ist
Wahrheit?“, fragt er. Während hinter ihm auf der Leinwand Lippen
projiziert werden, die so aussehen wie Saurons Auge in „Herr der
Ringe“.

Eine "ultramediale" Inszenierung von "identität". (v.l.n.r.) Kevin Wilke, Anna Marienfeld, Dominik Hertrich und Mirka Ritter. Foto: © Solms
Eine „ultramediale“ Inszenierung von „identität“. (v.l.n.r.) Kevin Wilke, Anna Marienfeld, Dominik Hertrich und Mirka Ritter. Foto: © Solms

Im zweiten Teil
startet die Produzententeam den Hackerangriff, denn „nur wir Nerds
können die Welt retten“. Durch den Angriff werden Biografien
gelöscht. Gibt es eine neue Chance oder wird die Restauration
siegen? Die Bilanz sieht eher negativ sein. So sagt einer der
Aktivisten (Kevin Wilke) „Ich rieb mich auf für einen Idealismus,
der mich zerstört. Ich muss mich um meine Bedürfnisse kümmern“.
Hat der Kapitalismus also trotz Hack immer noch überlebt? Bietet er
die besseren Chancen oder ist er einfach verführerischer?

Gegen Ende wird
aufgelöst. Der Hackerangriff war ebenfalls ein Script der
Produktionsfirma. Doch am Ende stellen sich alle die Frage: Was
bleibt?

Gibt es ein
richtiges Leben im falschen? Würde sich durch eine große
Katastrophe etwas ändern? Würde der Kapitalismus auch den
Klimawandel oder einen Hackerangriff überleben und sogar gestärkt
hervorgehen? Sehr berührend war auch das Selbstgespräch des
Aktivisten. Was passiert mit Idealisten? Kann auch ein Zuviel davon
Menschen kaputt machen?

Dominik Hertrich,
Mirka Ritter und Kevin Wilke und Anna Marienfeld sowie das Team von
Sir Gabriel Trafique hatten an dem Abend viel Spaß und eine
großartige Leistung abgeliefert.

Ja, „Identität“
wirft viele Fragen auf. Aber dafür ist Theater da, um Fragen
aufzuwerfen, sonst wäre es ja „Die Sendung mit der Maus“. Die
Antworten müssen wir selber finden. Wie wollen wir Leben und was tun
gegen einen drohenden Klimawandel?

Am 16. November um
20 Uhr im Theater im Depot hat man die Gelegenheit, sich diesen
Fragen zu stellen.




Schräge Ruhrpottkomödie mit Musik und „Omma“

Laut Wikipedia ist Popcornkino eine wenig gehaltvolle Filmproduktion
mit vornehmlichen Unterhaltungscharakter. Unterhaltungscharakter ja,
aber über das „wenig gehaltvolle“ kann man streiten, denn
Unterhaltung kann sehr wohl gehaltvoll sein. Wie komme ich von der
Premiere von „Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“ am
16. Februar 2019 zum Popcornkino? Weil das Stück im besten Sinne
Unterhaltungstheater ist, quasi Popcorntheater.

Aus der Vorlage des
gleichnamigen Buches von Anna Basener machte die Regisseurin Gerburg
Jahnke eine leicht bekömmliche Theaterkomödie mit Musik. Die
Hauptfigur, die „Omma“, wurde von Anke Zillich gespielt. Vor
allem zu Beginn interagierte sie sehr aktiv mit dem Publikum und
erläuterte erst einmal das Geheimnis eines „Samtkragen“. Das ist
ein Getränk aus drei Teilen Korn und einen Teil Boonekamp. Wobei der
Boonekamp sachte auf den Korn geschüttet wird. Die Zuschauer spüren
sofort, dass Anke Zillich die Omma mit Herz und Leidenschaft spielt.

Die Omma ist auch
Dreh- und Angelpunkt des Stückes. Als Hauswirtschafterin in einem
Bordell wird sie schnell zur guten Seele für die Huren. Vor allem
für Mitzi. Nachdem sie sich den brutalen Zuhälter Herbert entledigt
hatten, bauen Mitzi und Omma das Bordell in eine Pension um. Doch
Mitzi kann ihr altes Gewerbe nicht vergessen. Dummerweise lacht sie
sich den noch brutaleren Blazek an. Jetzt ist guter Rat teuer. Mitzi
und Omma täuschen Mitzis Tod vor. Auf der Beerdigung lernt Ommas
Enkelin Bianca den Polizisten Bernhard kennen.

Freundinnen fürs Leben: "Omma" (Anke Zillich) und rechts die Hure Mitzi (Frederike Tiefenbacher). Foto: © Birgit Hupfeld
Freundinnen fürs Leben: „Omma“ (Anke Zillich) und rechts die Hure Mitzi (Frederike Tiefenbacher). Foto: © Birgit Hupfeld

Dann überschlagen
sich die Ereignisse: Omma verschwindet zu ihrer in Berlin wohnenden
Tochter Bianca. Diese entdeckt, dass Mitzis Grab leer ist und
plötzlich tauchen Bernhard, die tot geglaubte Mitzi und der brutale
Blazek auch in Berlin auf.

Das Stück ist eine
Reminiszenz an das Ruhrgebiet und seine Einwohner. Die Omma trägt
das Herz immer auf dem richtigen Fleck und geht dabei auch resolut
vor. So vertreibt sie Louise, die „über korrekte“ Mitbewohnerin
von Bianca, nach einem kurzen, aber heftigen Wortgefecht. Auch
Zuhälter Herbert räumt sie aus dem Weg.

Hingegen ist Bianca
noch eine Frau, die ihren Weg sucht. Sie versucht sich bisher
erfolglos in der Berliner Kreativszene durch das Designen von
Unterwäsche. Durch ein Missverständnis gibt ihr Bernhard für Sex
Geld, was Bianca völlig verwirrt. Ist sie etwa auch eine
Prostituierte? Caroline Hanke spielt die Bianca in ihrer
Zerrissenheit sehr schön, gut zu sehen bei der Autofahrt zu Mitzis
Grab. Mitzi wird dargestellt durch Friederike Tiefenbacher, die erst
im zweiten Teil „leibhaftig“ dazukommt. Ihr fataler Hang nach
(älteren) starken Männern bringt die Handlung in dramatische
Fahrwasser. Alle anderen Schauspieler (Mario Lopatta, Jens Kipper,
Andreas Beck, Louise Kinner, Kevin Wilke, Ralf Kubik) spielen
meistens mehrere Rollen. So werden die drei Prostituierten Ulla,
Maria und Schantall durch Männer gespielt.

Das Stück ist eine
musikalische Komödie, daher gab es auch einige Songs, die von
einzelnen oder mehreren Darstellern zu Gehör gebracht wurden. Die
Texte stammen von der Autorin des Buches, Anna Basener, die Musik von
Tommy Finke. Die Lieder waren gelungen und abwechslungsreich
(Schlager, Rock bis hin zum schwermütigen polnischen Walzer).
Basener gelang es (vor allem beim Abschlusssong) eine wichtige
Botschaft unterzubringen, den Respekt vor den Frauen, die im ältesten
Gewerbe der Welt arbeiten: „Du sollst nicht die Damen reizen, die
für dich die Beine spreizen.“

Somit komme ich zum
Fazit: „Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“ ist
Popcorntheater im allerbesten Sinne. Gut gemachte Unterhaltung, tolle
Schauspieler, viel Musik und gute Laune. Kritiker mögen bemängeln,
dass der „Slang“ der Omma zuviel Ruhrpottklischee widerspiegelt,
doch Originale bleiben Originale. Es ist eher schade, dass sie mit
der Zeit aussterben.

Weitere Infos zu
Karten und Termine unter www.theaterdo.de




Theaterstück um soziale Gerechtigkeit und Haltung

Im Studio des
Dortmunder Schauspiels hatte am 12.10.2018 „Everything belongs to
the Future“ von der feministischen Autorin und Journalistin Laurie
Penny unter der Regie von Laura N. Junghanns seine Premiere. Vier
Schauspiel-Studierenden der Kunstuniversität aus Graz stellten sich
mit diesem Stück im Rahmen ihres einjährigen Aufenthalts in
Dortmund als erste Gruppe des neu am Schauspiel Dortmund beheimateten
Schauspielstudio als Teil des Ensembles vor.

Die jungen
Studierenden hatten sich mit Laurie Pennys bissig-wütend und
nachdenklicher Novelle einen aktuell brisanten und schweren Stoff
vorgenommen. Das Stück ist in einer dystopischen Gesellschaft der
Zukunft im Jahr 2098 in Großbritannien (Oxford) angesiedelt.

Zeit ist zum
Luxusgut geworden, das sich eine Elite von Reichen und
Hochqualifizierten dank der blauen Pille „The Fix“ leisten
können. Vor Jahren unter anderem von dem Wissenschaftler Dave
entwickelt, einem inzwischen achtundneunzig jährigen im Körper
eines fünfundzwanzig jährigen Mannes. Nur 1% können sich den Luxus
leisten, während der Rest in immer prekärer werdenden
Lebensverhältnissen vor sich hin vegetieren und unablässig altern.
Eine Gruppe, die gemeinsam in einer heruntergekommenen
Wohngemeinschaft leben, versuchen sich entgegen zu stellen und planen
die Revolte. Zunächst mit Hilfe von Dave, der ein Generikum von „The
Fix“ für alle Menschen entwickeln will. Die Situation spitzt sich
zu, und die verschiedenen Personen müssen sich entscheiden und
Haltung zeigen. Wem kann man trauen?…

Die zwei Welten
wurden in der Inszenierung sichtbar getrennt. Die Umgebung im
Vordergrund im Gefängnis oder der Wohngemeinschaft wurde eher
schäbig und düster mit entsprechendem Mobiliar dargestellt. Im
Hintergrund war eine Fläche mit drei Räumen zu sehen. Durch
Glasfenster war es dem Publikum erlaubt, in die Welt der Eliten
(Universität Oxford, Apotheke Pharmazeuten)) u hinein zu blicken. Im
Mittelbereich war durch eine Art Guckloch -symbolhaft – eine größere
armlose Büste von Aphrodite (Göttin der Schönheit), um die herum
die blauen „The Fix“-Pillen kreisend projiziert wurden.

Auf die Künstler
und Bediensteten, die bei der jährlichen Immatrikulations-Feier für
die neuen Studenten dabei sind, wird von den Herrschenden herab
gesehen. Sie sind für sie nur schmückendes Beiwerk. Parker, einer
der Professoren und Pharmazeut, spricht hochmütig zu der kommenden
Elite. Kevin Wilke füllt die Rolle des Macht bewussten und
arroganten Parker stark aus.

Die Geschichte wird
in Rückblicken erzählt. Die junge Nina, enthusiastisch gespielt von
Bérénice
Brause, erzählt am Anfang ihre Geschichte in Gefangenschaft. Sie ist
diejenige aus der Widerstandsgruppe, die ihre „Ideale“ bis zum
Ende am konsequentesten verteidigt. Aus
Solidarität mit der
armen Bevölkerung nimmt
sie bis zum Schluss die
„Wunderpille“ nicht.
Soziale Gerechtigkeit und
gleiche Chancen für alle sind der Maßstab. In
einem Spiegel hinter ihr kann das Publikum ihren Alterungsprozess,
auch bitter enttäuscht von den „Verrätern“, an einer Projektion
verfolgen.

Noch denkt Nina (Bérénice Brause), dass Alex (Mario Lopatta) und Dave (Frieder Langenberger) gemeinsame Sache mit ihr machen. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Noch denkt Nina (Bérénice Brause), dass Alex (Mario Lopatta) und Dave (Frieder Langenberger) gemeinsame Sache mit ihr machen. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Ihr
Freund
Alex, gespielt von Mario Lopatta, steht etwas unsicher
zwischen den Welten. Eigentlich
auf der Seite des Widerstand, ist er aber auch frustriert durch den
jahrelangen erfolglosen Kampf und eher pessimistisch. Das private
Glück mit Nina ist ihm zunächst einmal am Wichtigsten. Um
es nicht zu gefährden, lässt er sich mit schlechtem Gewissen von
der Gegenseite bestechen. Die
innere Zerrissenheit wird von dem jungen Schauspieler glaubhaft auf
die Bühne gebracht.

Als
Entwickler von „The Fix“ hat Dave, sensibel gespielt von Frieder
Langenberger, in mehrfacher Hinsicht ein schlechtes Gewissen und
will seiner Verantwortung für die Menschen gerecht werden.

Besonders
schmerzt ihn, dass der an der Entwicklung beteiligte Freund und
Kollege, von den Herrschenden vernichtet und totgeschwiegen wurde.

Die
experimentelle elektronische Musik von der Künstlerin Sonae fügte
sich wunderbar in das geschehen ein.

Gerechtigkeit,
die Rolle des Alterns in der Gesellschaft oder die Aufgabe von Kunst
und Kultur sind Angesprochene Themen in der Aufführung.

Die
Inszenierung verzichtet
auf einseitige Zuweisungen von „gut und böse“. Die Charaktere
werden in ihren Konflikten und in ihrer Zerrissenheit und in den
gesellschaftlichen Rollen gezeigt. . Es bleibt ( nicht nur) der
Jugend überlassen, sich sozialen
Ungerechtigkeiten entgegen zu stellen und sie trotz aller negativen
Erfahrungen und Schwierigkeiten nicht nur hilflos zu akzeptieren.

Informationen
zu weiteren Aufführungsterminen
erhalten Sie wie immer unter www.theaterdo.de

oder
Tel.: 0231/ 50 27 222.