Faruk – ein persönlich-fiktionalisiertes Porträt

Die türkische Regisseurin Aslı Özge wollte ursprünglich einen Film über den drohenden Abriss des Wohnblocks ihres Vaters Faruk in Istanbul drehen. Doch der über 90-Jährige wurde nach und nach zur Hauptfigur ihres Wettbewerbsfilms Faruk, der am 05.04.2025 im Rahmen des IFFF in Dortmund (Schauburg) gezeigt wurde.

Die mehrfach preisgekrönte Regisseurin (Men on the Bridge, Lifelong, All of a Sudden) ist bekannt für ihre genauen Alltagsbeobachtungen und ihre sensible Darstellung komplexer gesellschaftlicher Strukturen. In ihren bisherigen Filmen widmete sie sich unter anderem der Geschlechterdynamik in der türkischen Mittelschicht (Lifelong, 2013) oder der Unwägbarkeit zwischenmenschlicher Beziehungen in einem deutschen Kleinstadtmilieu (All of a Sudden, 2016). Dabei verbindet Özge häufig das Private mit dem Politischen – eine Stärke, die auch in Faruk voll zur Geltung kommt.

Inspiriert von realen Personen und Begebenheiten, gedreht an Originalschauplätzen, erzählt der Film mit Leichtigkeit und trockenem Humor eine Geschichte über Gentrifizierung und eine vielschichtige Vater-Tochter-Beziehung.
Die intime Kameraführung bringt den Zuschauer*innen den pfiffig-verschmitzten Faruk als Mensch nahe und schafft eine spürbare Vertrautheit.

Ein Mann gegen die Stadt – und gegen die Zeit

Über einen Zeitraum von sieben Jahren wird der schmerzliche Prozess der Gentrifizierung und der soziokulturellen Veränderungen in Istanbul am Beispiel Faruks auf sehr persönliche Weise erlebbar gemacht.
Sein langanhaltender, sturer Widerstand gegen das Unausweichliche und die anschließende Krise, in die er gestürzt wird, bilden den Ausgangspunkt dieses Porträts.

Es ist die Geschichte eines Mannes, der viele Jahrzehnte in seiner gewohnten Umgebung lebte – und dem nun der Plan eines friedlichen Lebensabends buchstäblich „vermasselt“ wird. Das urbane Sounddesign begleitet dabei eindrucksvoll die Gedankenwelt Faruks.

Gleichzeitig gewährt der Film Einblicke in die sich wandelnde, komplexe Beziehung zwischen Vater und Tochter. Am Ende muss Faruk, zermürbt und kraftlos, seiner Tochter die Vollmacht in Wohnungsangelegenheiten – und damit einen Teil seiner Selbstbestimmung – übertragen.
Ihre Rolle wandelt sich, wie bei vielen erwachsenen Kindern, deren Eltern alt werden, hin zu einer Form mütterlicher Fürsorge.

Ein zart gezeichneter Film über das Altern, das Loslassen und die Umbrüche in einer Stadt – mit Empathie, Realitätsnähe und leiser Komik inszeniert.




Europa – Beißende Satire auf die Auswüchse des Turbokapitalismus

Sudabeh Mortezai, Tochter iranischer Eltern, in Ludwigsburg geboren und in Teheran sowie Wien aufgewachsen, lenkt mit ihrem scharfen, satirischen Wettbewerbsbeitrag Europa (gezeigt beim IFFF in der Schauburg Dortmund am 05.04.2025) den Blick auf die Opfer des Fortschritts, die der rücksichtslose Turbokapitalismus hervorbringt.

Bereits mit ihren vorherigen Arbeiten wie Macondo (2014) und Joy (2018) hat Mortezai eindrucksvoll gezeigt, dass sie sich mit sozialen Randgruppen, Migration, Machtverhältnissen und systemischer Ausbeutung auseinandersetzt. In Macondo widmete sie sich dem Leben tschetschenischer Geflüchteter in einem Wiener Randbezirk, in Joy dem Schicksal nigerianischer Frauen im europäischen Sexhandel – beides Filme, die durch ihren dokumentarischen Realismus und ihre tiefe Menschlichkeit beeindruckten.
Mit Europa geht sie nun einen Schritt weiter, indem sie satirische Elemente mit scharfer Kapitalismuskritik verbindet und dabei erneut die Perspektive der Machtlosen ins Zentrum rückt.

Die deutsche Managerin Beate Winter reist im Auftrag des multinationalen Konzerns „Europa“ nach Albanien, um dort angeblich menschenfreundliche Strukturentwicklungen und Frauenförderung durch Investitionen in unterentwickelten Regionen zu fördern.
Liebevoll zu ihrer Familie, zeigt sie sich in ihrer beruflichen Rolle ehrgeizig und undurchdringlich – stets darauf bedacht, sich gegenüber ihren männlichen Kollegen zu behaupten.

Die abgelegene Region, in der sie tätig wird, liegt in der Nähe unterirdischer Bunkeranlagen aus der kommunistischen Herrschaftszeit – einst aus Angst vor westlichen Invasoren errichtet.
Winter setzt alles daran, den religiös-traditionell lebenden Schäfern und Imkern ihr Land für eine undurchsichtige Agenda abzukaufen. Ein eigensinniger Bauer weigert sich zunächst standhaft, das Erbe seiner Vorfahren preiszugeben.

Tradition trifft auf Konzernmacht

Die freundliche Fassade der Managerin bröckelt rasch, und sie greift zu schmutzigen Mitteln und emotionalem Druck. Es gelingt ihr, die Tochter des widerspenstigen Bauern durch das Versprechen eines Stipendiums der Firma „Europa“ für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Schließlich gibt der Vater nach – doch es folgt ein bitteres Erwachen.

Filmbild aus "Europa" von Sudabeh Mortezai.
Filmbild aus „Europa“ von Sudabeh Mortezai.

Humorvoll-ironische Momente entstehen immer dann, wenn die beiden unterschiedlichen Kulturen aufeinandertreffen. Religiös verwurzelte Menschen mit ihren traditionellen Riten, Gebräuchen und musikalischen Ausdrucksformen werden von oben herab mit westlichen Lebensentwürfen und Gewinninteressen konfrontiert.

Mortezai bleibt sich auch in diesem Film treu: Sie beobachtet präzise, wertet nicht plump, sondern legt die Mechanismen des globalen Machtgefälles subtil, aber unnachgiebig offen. Ihre Regie ist unaufgeregt, aber eindringlich – unterstützt von ruhigen Bildern, die viel Raum für Zwischentöne lassen.

Wie eine ökologisch verträgliche und gerechte Zukunft aussehen kann, liegt letztlich in den Händen der jungen Generation – ein Gedanke, der anklingt, als Studierende an einer albanischen Universität gegen den Bau eines Damms protestieren.




Harvest – eine archaisch-impressionistische Gesellschaftsfabel

In der Schauburg Dortmund stand am 03.04.2025 im Rahmen des IFFF (Dortmund + Köln) der Wettbewerbsfilm Harvest (Ernte) von Athena Rachel Tsangari auf dem Programm. Die Autorenfilmerin gilt als eine der zentralen Figuren des neuen griechischen Kinos, das in den letzten Jahren mit unkonventionellen Erzählweisen und radikalem Bilddenken auf sich aufmerksam gemacht hat.

Mit Harvest entführt sie das Publikum in eine traumhaft-archaische Welt: ein mittelalterliches, abgelegenes Dorf in Schottland, bewohnt von Schäferinnen und Bauern. Dort lebt der Witwer Walter Thirsk, der einst aus der Stadt kam und inzwischen selbst als Bauer arbeitet. Obwohl er nicht vollständig zur Dorfgemeinschaft gehört, ist er auch kein Außenseiter – ein romantischer Antiheld, hin- und hergerissen zwischen seiner Loyalität zu den Bewohnerinnen und seinem Glauben an Fortschritt und Veränderung.

Zwischen Aberglaube, Macht und Moderne

Das abgeschottete Dorf ist tief in seinen Riten und traditionellen Strukturen verwurzelt. Neuem gegenüber herrscht Misstrauen. Nach einem mysteriösen Brandanschlag geraten drei fremde Personen unter Verdacht – sie werden gewaltsam verfolgt und zur Rechenschaft gezogen. Parallel dazu schreitet die Kartografierung des Landes voran, und ein patriarchalischer Aristokrat plant, das Gebiet zu modernisieren und wirtschaftlich auszubeuten.

Der Film arbeitet mit kraftvollen, atmosphärischen Bildern, aufgenommen auf grobkörnigem 16-mm-Material, und eindringlichen Nahaufnahmen. Im ständigen Wechsel zwischen idyllischer Natur und brutalen Ausbrüchen tastet sich Harvest oft an psychische und physische Schmerzgrenzen heran – nichts für zartbesaitete Gemüter. Ambivalente Figuren und starke, widerständige Frauen prägen die Erzählung und verleihen ihr Tiefe.

Harvest ist ein zeitloses, allegorisches Gesellschaftsdrama über Fremdenfeindlichkeit, Machtstrukturen und einen entfesselten, rücksichtslosen Kapitalismus – mit gelegentlichen Längen. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung, wachsender sozialer Ungleichheit und einer erneuten Radikalisierung rechter Ideologien wirkt der Stoff erstaunlich aktuell. Die Parabel über das „Fremde“ und seine willkürliche Ausgrenzung lässt sich unmittelbar in unsere Gegenwart übertragen – ob in Bezug auf Migration, Umweltkonflikte oder den Kampf um kulturelle Deutungshoheit.

Auch im Kontext von Athena Rachel Tsangaris Werk zeigt sich eine inhaltliche und formale Linie: Nach Arbeiten wie Attenberg (2010) oder der Ko-Produktion Chevalier (2015), in denen sie soziale Machtverhältnisse, Geschlechterrollen und das Verhältnis von Körper und Raum untersucht, schlägt sie mit Harvest eine ernstere, politischere Tonlage an. Der Film bleibt dabei aber ihrem unverwechselbaren Stil treu: fragmentarisch erzählt, visuell kraftvoll und offen für Mehrdeutigkeiten. Es ist ein Film, der mehr fragt als beantwortet – und genau darin liegt seine Stärke.

Englischkenntnisse sind übrigens von Vorteil, da der Film ausschließlich in dieser Sprache untertitelt ist.




Zurück im Dorf: Rima Das erzählt Dhunus Geschichte weiter

Nach dem Erfolg von „Village Rockstars“ aus dem Jahr 2017 kehrt die Regisseurin Rima Das zurück in ein kleines Dorf im indischen Assam und verfolgt in „Village Rockstars 2“ das Schicksal der mittlerweile 17-jährigen Dhunu – erneut gespielt von Bhanita Das, der Nichte der Regisseurin.

Im ersten Teil wird die Geschichte der zehnjährigen Dhunu erzählt, die davon träumt, eine eigene Rockband zu gründen und eine echte Gitarre zu besitzen. Trotz finanzieller Schwierigkeiten und gesellschaftlicher Erwartungen verfolgt sie entschlossen ihren Traum.

Ein Dorf zwischen Naturgewalt und Zivilisationsdruck

Im zweiten, aktuellen Teil stehen die Herausforderungen der Dorfgemeinschaft im Mittelpunkt. Einerseits ist da die unberechenbare Naturgewalt: Überschwemmungen zerstören Ernten und setzen das Dorf regelmäßig unter Wasser. Andererseits droht Gefahr durch den „Fortschritt“ – Bulldozer verwüsten das Land, alte Bäume werden gefällt, und die Spuren der Zivilisation hinterlassen sichtbare Wunden.

Dhunu (Bhanita Das) spielt den Kinder ihres Dorfes auf ihrer Gitarre. (Foto: (c) IFFF)
Village Rockstars 2: Dhunu (Bhanita Das) spielt den Kinder ihres Dorfes auf ihrer Gitarre etwas vor. (Foto: (c) IFFF)

Auffällig ist die zentrale Rolle der Frauen in diesem Film. Nicht nur Dhunu und ihre Mutter, sondern auch viele andere Frauen im Dorf übernehmen die Verantwortung – sei es auf den Feldern oder im Alltag. Sie wirken stark, selbstbewusst und bestimmen maßgeblich das Geschehen. Die Männer dagegen treten meist als Randfiguren auf: passiv, orientierungslos oder sogar schädlich. Der Makler, der den Dorfbewohnern das Land abspenstig machen will, wirkt schmierig und berechnend. Auch Dhunus Bruder reiht sich in diese wenig schmeichelhafte Darstellung ein: Er wird zum Trinker und verkauft schließlich das Land seiner Mutter.

Dass die Mutter-Tochter-Beziehung ein tragisches Ende findet, zeichnet sich leider recht früh ab. Doch dieser kleine Wermutstropfen schmälert kaum die Wirkung eines ansonsten poetischen, malerischen Films, der durch seinen dokumentarischen Stil besticht. Rima Das lässt uns über 90 Minuten hinweg intensiv am Leben im Dorf und an Dhunus Schicksal teilhaben – mit großer Nähe, Wärme und einem feinen Gespür für die leisen Töne des Alltags.