Das Schweigen der Frauen und der Klang des Widerstands – Hedera

Am 1. November 2025 sah ich im Theater im Depot die Performance Hedera des „Sepidar Theater“. Das Stück verknüpft auf eindringliche Weise historische und mythische Spuren weiblichen Widerstands mit gegenwärtigen Erfahrungen von Gewalt und Überleben.

Die Geschichte der Menschheit ist von einem fortdauernden Muster der Gewalt gegen weibliche Körper geprägt, das sich von den frühesten archäologischen Zeugnissen bis in die Gegenwart verfolgen lässt. Bereits im etwa 7000 Jahre alten Massengrab von Talheim in Süddeutschland fehlen die Skelette junger Frauen – ein Indiz dafür, dass sie nicht getötet, sondern verschleppt wurden. Diese Form der gewaltsamen Aneignung weiblicher Körper zieht sich als konstantes Strukturprinzip durch die Geschichte: Der mythische „Raub der Sabinerinnen“ beschreibt den Zugriff auf Frauen als Akt staatlicher Gründung; im Trojanischen Krieg wurden sie als Beute und Trophäen verteilt. Auch in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kriegen diente sexualisierte Gewalt der Erniedrigung und Unterwerfung des Gegners, während die Hexenverfolgungen die Kontrolle über weibliche Selbstbestimmung in geistig-religiöser Form institutionalisierten. In den modernen Kriegen des 20. Jahrhunderts – von Nanjing bis Bosnien – wurde der weibliche Körper erneut zum Schlachtfeld, zugleich aber zum Ort des Widerstands und der Zeugenschaft.

Diese Kontinuität macht deutlich: Gewalt gegen Frauen ist nicht bloß Begleiterscheinung von Krieg, sondern Ausdruck eines tieferliegenden kulturellen Mechanismus, der Herrschaft durch Zugriff auf Körper reproduziert – und den Werke wie Hedera künstlerisch befragen.

Das Stück "Hedera" spielt In einer kargen, fragmentierten Landschaft – einem Brachland zwischen Vergangenheit und Gegenwart. (Foto: (c) Sepidar Theater)
Das Stück „Hedera“ spielt In einer kargen, fragmentierten Landschaft – einem Brachland zwischen Vergangenheit und Gegenwart. (Foto: (c) Sepidar Theater)

Hedera (lateinisch für Efeu) steht symbolisch für Überdauerung, Beharrlichkeit und Heilung – Pflanzen, die auch über Ruinen wachsen. Das Stück begibt sich auf die Spurensuche nach übersehenen, verdrängten oder ausgelöschten Formen von Widerstand, insbesondere weiblichem Widerstand, der oft nicht laut oder heroisch, sondern still, alltäglich und körperlich ist. Die beiden Performerinnen Bahar Sadafi und Rashin Didandeh zeigen eindrücklich, wie sie sich mit Beharrlichkeit aus den Trümmern befreien, sich um Wasser streiten und sich mit Nahrung – hier in Form von Konservendosen – versorgen. Ein Neuanfang entsteht aus männlicher Gewalt und Zerstörung. Alles wandelt sich, weil Frauen – wie der Efeu – aus den Trümmern erwachsen und neue Strukturen bilden.

In Hedera wird auch die Geschichte von Okaki und den sechs Tellern (おかきと六枚のお皿) aufgegriffen. Okaki arbeitet als Dienerin in einem Samurai-Haushalt. Der Samurai verliebt sich in sie, doch sie weist ihn zurück – ein Akt weiblicher Selbstbestimmung in einer patriarchalen Gesellschaft. Aus gekränkter Eitelkeit bezichtigt der Samurai sie daraufhin des Diebstahls: Einer der Teller fehlt, und Okaki soll ihn gestohlen haben. Obwohl sie unschuldig ist, wird sie grausam bestraft oder nimmt sich aus Scham das Leben. Nach ihrem Tod kehrt sie als Geist zurück und zählt jede Nacht die Teller – ein klagendes Ritual, das ihre Unschuld und das Unrecht sichtbar macht. Ob Talheim, Troja oder Edo-Japan – überall wiederholt sich das Muster männlicher Besitznahme und weiblicher Auslöschung, aber auch das Aufbegehren durch Erinnerung, Körper, Ritual und Erzählung.