Große Themen, starke Stimmen: Die Preisträger*innen des IFFF Dortmund+Köln 2025

Mit einer feierlichen Preisverleihung in der Dortmunder Schauburg ging am Sonntagabend das 42. Internationale Frauen* Film Fest Dortmund+Köln zu Ende. Insgesamt wurden fünf Preise im Gesamtwert von 22.000 Euro vergeben – darunter der renommierte Internationale Spielfilmpreis, der zum elften Mal verliehen wurde.

„Village Rockstars 2“ gewinnt den Internationalen Spielfilmpreis

Der mit 15.000 Euro dotierte Hauptpreis ging an Village Rockstars 2 von Rima Das. In ihrem neuen Spielfilm begleitet die indische Regisseurin erneut Dhunu, die junge Protagonistin ihres gefeierten Debüts von 2016. Inzwischen 17 Jahre alt, kämpft Dhunu zwischen dem Traum, Musikerin zu werden, und den Herausforderungen eines harten Alltags in Assam – geprägt von patriarchalen Strukturen, familiärer Verantwortung und den spürbaren Folgen des Klimawandels.
Die Jury – bestehend aus der afroamerikanischen Regie-Ikone Julie Dash, der deutschen Regisseurin Yasemin Şamdereli und Hei-rim Hwang, Programmleiterin des Seoul International Women’s Film Festival – lobte die visuelle Kraft des Films und Das’ künstlerische Eigenständigkeit. In ihrer Begründung heißt es:

„Mit zärtlichem Blick und großer erzählerischer Präzision gelingt es Rima Das, über sieben Jahre hinweg das Leben junger Frauen einzufangen – ehrlich, mutig und tief verbunden mit ihrer Heimat.“

Da Rima Das den Preis nicht persönlich entgegennehmen konnte, bedankte sie sich per Videobotschaft. Die Preisgelder teilen sich die Regisseurin (10.000 Euro) und ein zukünftiger deutscher Verleih (5.000 Euro), um den Kinostart hierzulande zu unterstützen – bislang hat der Film in Deutschland noch keinen Verleih.

Die Festivalleiterin mit Preisträgerinnen, Sponsoren und Oorganisatorinnen: Maxa-Zoller, Nicole-Rebmann, Solveig Klassen, Zoe-Dumas, Conny Beissler, Lisa Buehl_Chris Baur, Andac Karabeyoglu Foto: (c) Julia Reschucha.
Die Festivalleiterin mit Preisträgerinnen, Sponsoren und Oorganisatorinnen: Maxa-Zoller, Nicole-Rebmann, Solveig Klassen, Zoe-Dumas, Conny Beissler, Lisa Buehl_Chris Baur, Andac Karabeyoglu Foto: (c) Julia Reschucha.

Publikumspreis für „Sudan, Remember Us“

Den mit 1.000 Euro dotierten Publikumspreis der Sparkasse Dortmund erhielt Sudan, Remember Us von Hind Meddeb. Der Dokumentarfilm zeigt mit feinem Gespür die Jugend Khartums im Widerstand gegen ein diktatorisches Regime – und für ein freieres Leben. Die berührende filmische Nahaufnahme feierte beim IFFF ihre Deutschlandpremiere und überzeugte die Zuschauer*innen mit ihrer Intensität und Aktualität.

Weitere Auszeichnungen: Vielfalt und Nachwuchsförderung

Auch in den anderen Wettbewerben gab es starke Gewinner*innen:
ECFA Short Film Award: Hannah und das Krokodil von Lore Mechelaere (Belgien) thematisiert Essstörungen bei Jugendlichen auf eindrucksvolle Weise – animiert, dokumentarisch und symbolisch. Die Jury lobte die besondere Ehrlichkeit und erzählerische Tiefe des Films.
Female Gaze – CineOne & sPOTTlight Nachwuchspreis für Bildgestaltung in NRW: Zoe Dumas, Absolventin der ifs Köln, überzeugte mit der Kameraarbeit ihres Films El Mártir. Die Jury hob die Reife, Sensibilität und Komposition ihrer Bildsprache hervor.
Shoot – Nachwuchspreis der KHM & IFFF: Lisa Bühl wurde für El Sueño (Co-Regie: Carolina Jimenez) ausgezeichnet – ein poetischer Blick auf das Leben von Kindern an der kolumbianischen Pazifikküste. Die Jury zeigte sich beeindruckt von der künstlerischen Handschrift und der engen Zusammenarbeit mit den jungen Protagonist*innen.
Festival mit Haltung und Wirkung
Die diesjährige Ausgabe des IFFF stand im Zeichen gesellschaftlicher und politischer Dringlichkeit. Über 100 Filme in verschiedenen Sektionen warfen Fragen zu Feminismus, Ökologie, Machtverhältnissen und Identität auf – oft aus radikal persönlicher Perspektive.
Ob im Spielfilm Family Therapy, der die neoliberale Familie seziert, in Faruk, einer ironisch-bitteren Auseinandersetzung mit Gentrifizierung in Istanbul, oder in Sima’s Song von Roya Sadat über das Leben von Frauen in Afghanistan – das Festival bot starke filmische Positionen. Union, der Dokumentarfilm über Amazon-Arbeiter*innen in den USA, wirkte dabei als klares Signal für globale Solidarität.
Künstlerische Leiterin Dr. Maxa Zoller zieht Bilanz:

„Die Debatten waren intensiv, das Feedback aus dem Publikum überwältigend. Gerade in einer Zeit, in der sich die Weltlage zuspitzt, braucht es solche Räume der Reflexion und des Austauschs. Wir verbinden Filmkunst mit gesellschaftlicher Relevanz – lokal wie global.“

Das Internationale Frauen* Film Fest bleibt ein Ort für neue Perspektiven, mutige Geschichten und kreative Netzwerke – und bringt Köln genauso auf die Landkarte wie Manila, Lüttgendortmund oder Windhoek.
Save the Date: Die 43. Festivalausgabe findet vom 21. bis 26. April 2026 in Köln statt.

Unsere Berichte zum Internationalen Frauenfilmfestival 2025




SPOT ON, NRW! – Die Freie Szene Film Dortmund e.V. präsentiert ein Kaleidoskop lokaler Kurzfilme

Am 02.04.2025 brachte das IFFF Dortmund+Köln mit der Sektion „Spot on, NRW!“ sechs Kurzfilme aus der Region auf die Leinwand. Nach der kürzlichen Gründung des Freie Szene Film Dortmund e.V. rückte der Verein die lokale Filmszene der Stadt in den Fokus und präsentierte ein Kurzfilmprogramm im Spannungsfeld zwischen der Suche nach Schutzräumen und dem Erobern neuer Orte. Mit dabei waren Filme von Nicola Gördes & Stella Rossié, Lilith Gosmann, schubert-stegemann & Mirella Drosten, Linda Verweyen, Gina Wenzel und Artiom Zavadovsky.
Unterschiedlichste Ästhetiken und Erzählweisen trafen in dem von Alissa Larkamp kuratierten Programm aufeinander. So vielfältig die Bildsprachen und Zugriffe auf Themen wie Liebe, Macht, Altern, Diversität und weitere waren, so kreisten alle Filme auf ihre Weise um Formen der Rebellion: ein widerständiger Akt, ein abweichendes Lebenskonzept, ein aufmüpfiges Gemälde oder ein ungehorsamer Gedanke.

Rebellion und Reflexion in sechs filmischen Perspektiven

Die Filme Female Walk und Letzte Nacht zeigen beide auf ihre Weise einen Horror des Sozialen. In Female Walk von Lilith Gosmann ist es eine groteske Tischgesellschaft, die in überspitzter Form patriarchale Typen und Verhaltensweisen abbildet. Unabhängig vom Geschlecht der Anwesenden werden an dieser Tafel patriarchale Gesten, Codes und Bewegungsmuster performt. Wie durch ein Vergrößerungsglas nimmt die Kamera diese Typen in den Blick und lässt die alptraumhafte Atmosphäre der geschlossenen Gesellschaft auf das Publikum wirken. Die Protagonistin versucht, diesem Horror zu entfliehen, begibt sich in einen Raum der inneren Reflexion und des individuellen Kampfes gegen die erlebten Zwänge und schafft es schließlich, sich zu ermächtigen.

Filmstill aus dem Film "Mutterstadt" von Mirella Drosten und schubert-stegemann .
Filmstill aus dem Film „Mutterstadt“ von Mirella Drosten und schubert-stegemann .

Ebenfalls im Setting einer geschlossenen Gesellschaft spielt die Kneipenszenerie in Die letzte Nacht von Nicola Gördes & Stella Rossié. Eine verbrauchte Gesellschaft aus gelangweilten, erschöpften, wütenden und einsamen Gestalten begegnet dem Publikum in einer Kamerafahrt durch die Ecken des Lokals. Unklar, ob es sich bei dieser Szenerie um Dystopie oder Realität, um Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft handelt, zeichnen Gördes und Rossié ein Bild einer absurden, abgekämpften und brutalen Welt, die schließlich in ihrer eigenen Dysfunktionalität zugrunde geht.

Der Kurzfilm Mutterstadt von Mirella Drosten und schubert-stegemann präsentiert den Dortmunder Stadtraum als Spiegel des weiblichen Körpers. Die Zuschauer:innen erleben ein Changieren zwischen Bewusstseinsstrom – in dem die Erzählerin durch die Straßen der Stadt sowie durch Erinnerungen vergangener Zeiten wandelt – und surrealem Traum, der zwei gealterte Frauen bei einem morbiden Kaffeekränzchen zeigt. Im Prozess des Alterns, des Verfalls, aber auch der Veränderung treffen sich Materialitäten wie Haut, Stahl, Stein, Staub und Fleisch. Sie transformieren sich, bekommen Risse und Falten und werden zum Archiv der Erinnerung des Eigenen sowie des Kollektiven. Verzerrte Bilder des Stadtraums treffen auf traumartige Sequenzen, in denen Körper, Zeit, Materie und Erinnerung verschmelzen und das Bekannte bis zur Unkenntlichkeit zerrinnt.

Gina Wenzel fächert in Mosaik einen Blick auf eine diverse und multikulturelle Stadtgesellschaft auf. Sie wirft Schlaglichter auf persönliche Geschichten, Gewohnheiten und Leidenschaften der Bewohner:innen der Stadt Dortmund und untermalt die poetischen Narrative durch charakteristische Bilder des öffentlichen Raums. Ein Blick auf erleuchtete Fenster in der Fassade eines Wohnblocks bei Nacht wird zum Sinnbild der individuellen Vielfalt im kollektiven Ganzen.

Linda Verweyen erzählt dem Publikum in LOVE, AGE, POWER unaufgeregt und doch feinfühlig die Liebesgeschichte von Dagmar und Patrick. So gewöhnlich wie die interracial Beziehung der beiden ist, berichten sie von alltäglichen Herausforderungen, Erfahrungen und der Kraft ihrer Verbindung. Begleitet von Bildern der Leichtigkeit und Weite, gibt Verweyen der Selbstverständlichkeit dieser Beziehung Raum und schenkt dem Publikum einen Moment der Hoffnung.

In Confessions of Pia Antonia rückt Artiom Zavadovsky die mittelalte Pia und ihre Kunst in den Fokus. Er besucht die zurückgezogene Dame in ihrem Zuhause inmitten eines kleinbürgerlichen Wohnviertels und lässt sie über einschneidende Erlebnisse und ihr Selbstverständnis des Lebens erzählen. Währenddessen nimmt die Kamera liebevoll ihre Gemälde in den Blick, die voller Rebellion, Provokation und Kraft strotzen und Pias tiefgehende Reflexion der Gesellschaft widerspiegeln. Dieses intime Porträt macht Pia und ihre hinter den Mauern der Spießbürgerlichkeit verborgene Kunst sichtbar.




Das Festival, das Seminar heißen musste – The Long Road to the Director’s Chair

Zweihundertzwanzig Frauen, darunter fünfzehn Regisseurinnen, zehn Männer. Um die sechzig Filme. Fünfzig Jahre verschollen.
Erst 2023 fand sich in einem norwegischen Archiv das dokumentarische Bildmaterial zum ersten Frauenfilmfestival, das 1973 in Berlin im „Arsenal“ stattfand, wieder. Die Tonspur tauchte erst später auf. Behutsam wurde das Material aufgearbeitet – von der norwegischen Filmemacherin Vibeke Løkkeberg, die damals drehte, und anderen. Aber das Festival musste ein Seminar sein, denn ein evangelisches Bildungswerk war der Geldgeber. Sei’s drum. Es wurden internationale Filme gezeigt, Regisseurinnen kamen unter anderem aus den USA und Italien, und es wurde diskutiert.
Über Abtreibung und den weiblichen Körper. Über Respekt – und vor allem Respektlosigkeit – in der von Männern dominierten Film- und Fernsehbranche. Über gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit. Klingeln die Ohren? Sind das nicht auch heute noch Themen? Es klingt so bekannt. Sind wir also nicht weiter?

Ein Blick zurück – und wie viel Gegenwart darin steckt

Nun, im anschließenden Podiumsgespräch kommt diese Frage auch auf. Christiane Schäfer-Winkelmann, die damals dabei war, damals beim WDR gearbeitet hatte und sich heute vor allem als Produzentin engagiert (z. B. Fliegende Bilder am Dortmunder U), Stefanie Schulte Strathaus, Vorstand im Arsenal – Institut für Film und Videokunst Berlin, die über dieses Festival auch ihre Magisterarbeit in den Achtzigerjahren schrieb, und Dr. Maxa Zoller, künstlerische Leiterin des Internationalen Frauen* Filmfests Dortmund+Köln, reflektieren dieses erste Festival, ergänzen und kommen zu dem Schluss: Wir sind heute durchaus weiter – aber ein Rollback sei spürbar.
Vielleicht darf Frau heute eher zeigen, dass sie etwas kann, und muss ihre Technikkenntnisse nicht mehr verstecken, damit Männer mit ihr zusammenarbeiten. Vielleicht muss Frau auch nicht verheiratet sein, um mehr Respekt zu bekommen. Fräulein Paul wird nicht mehr Paulinchen genannt. Und vielleicht gilt Frau nicht mehr automatisch als aggressiv, hysterisch oder lesbisch, wenn sie weiß, was sie will.
Aber. Jede kennt ein Aber. Ich bin sicher.

Sprachen über das erste Frauenfilmfestival (v.l.n.r.) Christiane Schäfer-Winkemann, Stefanie Schulte Strathaus und die aktuelle Festivalleiterin Maxa Zollen (Foto: (C) Martina bracke)
Sprachen über das erste Frauenfilmfestival (v.l.n.r.) Christiane Schäfer-Winkelmann, Stefanie Schulte Strathaus und die aktuelle Festivalleiterin Maxa Zollen (Foto: (C) Martina bracke)

Warum begehen wir heute immer noch einen Equal Pay Day? Dieses Jahr am 7. März.
Warum sitzen im aktuellen Bundestag wieder anteilig noch weniger Frauen als zuvor? 32,4 % jetzt – 34,8 % zuvor. Der Anteil in den Fraktionen reicht von 61,2 % bis zu 11,8 %.
Warum reden alle immer noch über § 218? „Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland gemäß § 218 Strafgesetzbuch (StGB) grundsätzlich für alle Beteiligten strafbar.“ (BMFSFJ). Es gelten Ausnahmen.

Der Einblick in das damalige Festival, die Arbeit und die Diskussionen als Ausgangspunkt auch für Netzwerkarbeit war sehenswert und hörenswert. Protagonistinnen zu kennen und zu treffen – ebenso.
Im Anschluss konnte die filmische Ebene weiter vertieft werden, denn es folgten vier Kurzfilme, zusammengestellt von Dr. Maxa Zoller, unter anderem mit Werken der Festival-Erfinderinnen Helke Sander und Claudia von Alemann. Experimentell, subjektiv, dokumentarisch. Spannend.

Das Programm lief am Sonntag, 06.04.2025, im Roxy-Kino an der Münsterstraße.




Zerrieben zwischen Selbstverwirklichung und Mutterschaft

Mit ihrem neuesten Wettbewerbsfilm Salve Maria präsentierte die katalanische Filmemacherin Mar Coll (*1981) am 06.04.2025 im Rahmen des IFFF Dortmund (Schauburg) einen Psychothriller der besonderen Art.
Im Zentrum steht eines der größten gesellschaftlichen Tabus: die Vorstellung, dass nicht jede Frau zur Mutterschaft geboren ist.

Basierend auf Katixa Agirres Roman Mothers Don’t erzählt der Film von der Schriftstellerin Maria, die zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen an ihre Rolle als junge Mutter, als funktionierende Ehefrau und ihrem Wunsch nach beruflicher Selbstverwirklichung hin- und hergerissen ist.

Die Rolle der Maria wird eindrucksvoll von der Schauspielerin Laura Weissmahr verkörpert, deren ausdrucksstarke Mimik die innere Zerrissenheit und die Schuldgefühle der Figur greifbar macht. Der Mythos der „liebenden, aufopferungsvollen Mutter“ wird dabei besonders durch das religiös geprägte Bild der „Gottesmutter Maria“ in Frage gestellt.

Wenn Realität und Wahn ineinander übergehen

Als Maria von einer aufsehenerregenden Kindstötung liest, gerät ihr eigenes Leben zunehmend aus dem Gleichgewicht. Aus ihren persönlichen Selbstzweifeln heraus steigert sie sich obsessiv in den Mordfall hinein.
Unterlegt mit einer atmosphärischen Musik und psychologischen Elementen, die an Alfred Hitchcock erinnern, gewinnt der Film zunehmend an Spannung. Realität und Imagination beginnen zu verschwimmen.

Mar Coll bleibt dabei ihrer filmischen Handschrift treu: Schon in ihren früheren Arbeiten wie Tres dies amb la família (2009) und Tots volem el millor per a ella (2013) setzte sie sich intensiv mit familiären Konflikten, sozialen Erwartungen und der inneren Zerrissenheit ihrer Figuren auseinander. In Salve Maria geht sie noch einen Schritt weiter – und wagt sich in die psychologischen Abgründe moderner Mutterschaft, ohne jemals ins Klischeehafte oder Überzeichnete abzurutschen.

Am Ende steht die Suche nach einem Ausweg aus dem inneren und äußeren Dilemma. Gemeinsam wird eine Möglichkeit gefunden, Beruf und Mutterrolle auf eine Weise zu vereinen, die allen Beteiligten gerecht wird.

Salve Maria ist ein stiller, mutiger Film, der mit Tabus bricht – unbequem, notwendig, bewegend. Ein Werk, das nicht nur die Mutterrolle, sondern auch unser Bild von weiblicher Identität und Selbstbestimmung eindrucksvoll hinterfragt – und lange nachhallt.




Kino gegen das Vergessen – Roya Sadats filmischer Widerstand

Roya Sadat gehört zu den bedeutendsten Stimmen des afghanischen Kinos – nicht nur, weil sie als eine der ersten weiblichen Regisseurinnen des Landes nach dem Fall der Taliban Filme drehte, sondern weil sie konsequent Themen behandelt, die in Afghanistan oft verdrängt oder tabuisiert werden: Frauenrechte, Selbstbestimmung, politische Gewalt. Ihre Filme sind nicht nur künstlerische Werke, sondern auch Akte des Erinnerns – gegen das Vergessen und gegen die Auslöschung weiblicher Perspektiven aus der afghanischen Geschichte.

Mit Sima’s Song wendet sich Sadat einer Zeit zu, die außerhalb Afghanistans kaum bekannt ist: den späten 1970er Jahren, als das Land zwischen Modernisierung und Widerstand, Revolution und Repression zerrieben wurde. Es ist eine kluge Entscheidung, diese politisch aufgeladene Periode aus der Sicht zweier Frauen zu erzählen – denn sie verkörpern auf ganz eigene Weise die Konfliktlinien jener Zeit.

Zwischen Revolution und Tradition – Sima’s Song

In diese wenig bekannte Epoche der afghanischen Geschichte entführt Sima’s Song. Die Handlung spielt in den Monaten vor dem sowjetischen Einmarsch im Dezember 1979 – einer Zeit politischer und gesellschaftlicher Zerrissenheit.

Afghanistan war damals ein Land im Umbruch. Im April 1978 putschte sich die Volksdemokratische Partei Afghanistans (PDPA) unter Nur Muhammad Taraki an die Macht. Die neue Regierung setzte auf tiefgreifende Reformen: Landverteilung, Alphabetisierungskampagnen, Einschränkung des Einflusses der Religion sowie die Gleichstellung der Frau standen auf der Agenda. Doch die PDPA war gespalten – in den radikaleren Flügel „Khalq“ und den gemäßigteren „Parcham“. Diese inneren Machtkämpfe schwächten die Regierung zusätzlich.

Soma's Song: Glückliche Momente vor drohender Katastrophe. (v.l.n.r.) Suraya (gespielt von Mozhdah Jamalzadah) und Sima (Niloufar Koukhani). Foto: (c) Ton Peters)
Soma’s Song: Glückliche Momente vor drohender Katastrophe. (v.l.n.r.) Suraya (gespielt von Mozhdah Jamalzadah) und Sima (Niloufar Koukhani). Foto: (c) Ton Peters)

Gleichzeitig formierte sich auf dem Land Widerstand durch Islamisten und Stammesfürsten, der mit harter Repression beantwortet wurde. Im September 1979 wurde Taraki ermordet und durch Hafizullah Amin ersetzt. Nur wenige Monate später, am 27. Dezember 1979, marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Amin wurde in einem Kommandoeinsatz der Spetsnaz getötet, Babrak Karmal – Anführer der Parcham-Fraktion und Moskaus Verbündeter – wurde zum Präsidenten ernannt.

Zwei Frauen, zwei Welten

In diesem historischen Kontext erzählt Sadat die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen zwei Frauen: Suraya, eine Studentin und Tochter eines „Märtyrers der Revolution“, ist glühende Verfechterin des kommunistischen Gleichheitsideals. Sima hingegen, eine talentierte Sängerin und Tochter des Hausmeisters, stammt aus einem konservativ-muslimischen Umfeld. Zwischen den beiden entsteht eine fragile Beziehung, die durch die Spannungen der Zeit immer wieder herausgefordert wird.

Der Film zeigt nicht nur die politischen Umbrüche der späten 1970er Jahre, sondern auch die gesellschaftlichen Gegensätze innerhalb Afghanistans. Wenn die Kamera durch Kabul streift, begegnen uns Frauen in modernen Kleidern ebenso wie solche in Burkas. An der Universität lernen Männer und Frauen selbstverständlich Seite an Seite. Was nur angedeutet wird, aber dennoch spürbar bleibt: Die Kluft zwischen dem urbanen und dem ländlichen Leben war auch damals enorm – nicht nur im Lebensstil, sondern auch in Bezug auf Bildung, Frauenrechte und Freiheitsverständnis.

Sima’s Song bietet einen eindrucksvollen Einblick in ein Afghanistan, in dem zumindest ein Teil der weiblichen Bevölkerung deutlich mehr Freiheiten besaß als heute. Roya Sadat macht sichtbar, dass der Kampf um Gleichberechtigung und Selbstbestimmung dort schon viel früher begann – lange bevor er durch Krieg, Extremismus und internationale Interessen überlagert wurde.




Faruk – ein persönlich-fiktionalisiertes Porträt

Die türkische Regisseurin Aslı Özge wollte ursprünglich einen Film über den drohenden Abriss des Wohnblocks ihres Vaters Faruk in Istanbul drehen. Doch der über 90-Jährige wurde nach und nach zur Hauptfigur ihres Wettbewerbsfilms Faruk, der am 05.04.2025 im Rahmen des IFFF in Dortmund (Schauburg) gezeigt wurde.

Die mehrfach preisgekrönte Regisseurin (Men on the Bridge, Lifelong, All of a Sudden) ist bekannt für ihre genauen Alltagsbeobachtungen und ihre sensible Darstellung komplexer gesellschaftlicher Strukturen. In ihren bisherigen Filmen widmete sie sich unter anderem der Geschlechterdynamik in der türkischen Mittelschicht (Lifelong, 2013) oder der Unwägbarkeit zwischenmenschlicher Beziehungen in einem deutschen Kleinstadtmilieu (All of a Sudden, 2016). Dabei verbindet Özge häufig das Private mit dem Politischen – eine Stärke, die auch in Faruk voll zur Geltung kommt.

Inspiriert von realen Personen und Begebenheiten, gedreht an Originalschauplätzen, erzählt der Film mit Leichtigkeit und trockenem Humor eine Geschichte über Gentrifizierung und eine vielschichtige Vater-Tochter-Beziehung.
Die intime Kameraführung bringt den Zuschauer*innen den pfiffig-verschmitzten Faruk als Mensch nahe und schafft eine spürbare Vertrautheit.

Ein Mann gegen die Stadt – und gegen die Zeit

Über einen Zeitraum von sieben Jahren wird der schmerzliche Prozess der Gentrifizierung und der soziokulturellen Veränderungen in Istanbul am Beispiel Faruks auf sehr persönliche Weise erlebbar gemacht.
Sein langanhaltender, sturer Widerstand gegen das Unausweichliche und die anschließende Krise, in die er gestürzt wird, bilden den Ausgangspunkt dieses Porträts.

Es ist die Geschichte eines Mannes, der viele Jahrzehnte in seiner gewohnten Umgebung lebte – und dem nun der Plan eines friedlichen Lebensabends buchstäblich „vermasselt“ wird. Das urbane Sounddesign begleitet dabei eindrucksvoll die Gedankenwelt Faruks.

Gleichzeitig gewährt der Film Einblicke in die sich wandelnde, komplexe Beziehung zwischen Vater und Tochter. Am Ende muss Faruk, zermürbt und kraftlos, seiner Tochter die Vollmacht in Wohnungsangelegenheiten – und damit einen Teil seiner Selbstbestimmung – übertragen.
Ihre Rolle wandelt sich, wie bei vielen erwachsenen Kindern, deren Eltern alt werden, hin zu einer Form mütterlicher Fürsorge.

Ein zart gezeichneter Film über das Altern, das Loslassen und die Umbrüche in einer Stadt – mit Empathie, Realitätsnähe und leiser Komik inszeniert.




Europa – Beißende Satire auf die Auswüchse des Turbokapitalismus

Sudabeh Mortezai, Tochter iranischer Eltern, in Ludwigsburg geboren und in Teheran sowie Wien aufgewachsen, lenkt mit ihrem scharfen, satirischen Wettbewerbsbeitrag Europa (gezeigt beim IFFF in der Schauburg Dortmund am 05.04.2025) den Blick auf die Opfer des Fortschritts, die der rücksichtslose Turbokapitalismus hervorbringt.

Bereits mit ihren vorherigen Arbeiten wie Macondo (2014) und Joy (2018) hat Mortezai eindrucksvoll gezeigt, dass sie sich mit sozialen Randgruppen, Migration, Machtverhältnissen und systemischer Ausbeutung auseinandersetzt. In Macondo widmete sie sich dem Leben tschetschenischer Geflüchteter in einem Wiener Randbezirk, in Joy dem Schicksal nigerianischer Frauen im europäischen Sexhandel – beides Filme, die durch ihren dokumentarischen Realismus und ihre tiefe Menschlichkeit beeindruckten.
Mit Europa geht sie nun einen Schritt weiter, indem sie satirische Elemente mit scharfer Kapitalismuskritik verbindet und dabei erneut die Perspektive der Machtlosen ins Zentrum rückt.

Die deutsche Managerin Beate Winter reist im Auftrag des multinationalen Konzerns „Europa“ nach Albanien, um dort angeblich menschenfreundliche Strukturentwicklungen und Frauenförderung durch Investitionen in unterentwickelten Regionen zu fördern.
Liebevoll zu ihrer Familie, zeigt sie sich in ihrer beruflichen Rolle ehrgeizig und undurchdringlich – stets darauf bedacht, sich gegenüber ihren männlichen Kollegen zu behaupten.

Die abgelegene Region, in der sie tätig wird, liegt in der Nähe unterirdischer Bunkeranlagen aus der kommunistischen Herrschaftszeit – einst aus Angst vor westlichen Invasoren errichtet.
Winter setzt alles daran, den religiös-traditionell lebenden Schäfern und Imkern ihr Land für eine undurchsichtige Agenda abzukaufen. Ein eigensinniger Bauer weigert sich zunächst standhaft, das Erbe seiner Vorfahren preiszugeben.

Tradition trifft auf Konzernmacht

Die freundliche Fassade der Managerin bröckelt rasch, und sie greift zu schmutzigen Mitteln und emotionalem Druck. Es gelingt ihr, die Tochter des widerspenstigen Bauern durch das Versprechen eines Stipendiums der Firma „Europa“ für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Schließlich gibt der Vater nach – doch es folgt ein bitteres Erwachen.

Filmbild aus "Europa" von Sudabeh Mortezai.
Filmbild aus „Europa“ von Sudabeh Mortezai.

Humorvoll-ironische Momente entstehen immer dann, wenn die beiden unterschiedlichen Kulturen aufeinandertreffen. Religiös verwurzelte Menschen mit ihren traditionellen Riten, Gebräuchen und musikalischen Ausdrucksformen werden von oben herab mit westlichen Lebensentwürfen und Gewinninteressen konfrontiert.

Mortezai bleibt sich auch in diesem Film treu: Sie beobachtet präzise, wertet nicht plump, sondern legt die Mechanismen des globalen Machtgefälles subtil, aber unnachgiebig offen. Ihre Regie ist unaufgeregt, aber eindringlich – unterstützt von ruhigen Bildern, die viel Raum für Zwischentöne lassen.

Wie eine ökologisch verträgliche und gerechte Zukunft aussehen kann, liegt letztlich in den Händen der jungen Generation – ein Gedanke, der anklingt, als Studierende an einer albanischen Universität gegen den Bau eines Damms protestieren.




Bröckelnde Fassaden einer dysfunktionalen Familie

Die slowenische Filmregisseurin Sonja Prosenc war mit ihrer Gesellschaftssatire Family Therapy als Wettbewerbsfilm im Rahmen des IFFF in Dortmund (Schauburg) am 04.04.2025 zu sehen.
Mit einer bemerkenswerten Filmsprache, perfekt komponierten Hochglanzbildern und expressiver musikalischer Untermalung (viel Henry Purcell) erhalten die Zuschauenden Einblicke in eine reiche, entfremdete und dystopisch wirkende post-jugoslawische Familie.

Family Therapy reiht sich stimmig in das bisherige Œuvre von Sonja Prosenc ein. Bereits in früheren Werken wie The Tree und History of Love beschäftigte sie sich mit innerfamiliären Spannungen, der Rolle des Einzelnen innerhalb sozialer Strukturen sowie der emotionalen Isolation. Auch in ihrem neuen Film verbindet sie existenzielle Themen mit einer poetisch-reduzierten Bildsprache – diesmal jedoch stärker satirisch gebrochen und mit gesellschaftskritischem Biss.

Ein Familienbild als Fassade? Family Therapy von Sonja Prosenc
Ein Familienbild als Fassade? Family Therapy von Sonja Prosenc

Die Familie lebt buchstäblich in einem Glashaus. Der Vater, ein Schriftsteller mit momentaner Schreibblockade, träumt davon, in die Endauswahl für einen Flug ins All zu kommen. Dafür muss er eine perfekte Familie präsentieren. Die Ängste seiner Frau, einer Galeristin, und die Krankheit seiner Tochter haben dabei keinen Platz. Was zählt, ist die makellose Fassade.
Zusätzlich tritt Julien, Sohn des Vaters aus einer früheren kurzen Beziehung in Frankreich, in das Familiengefüge ein und sorgt für Aufruhr im bislang empfindlich austarierten Gleichgewicht.
(Der Film ist als Neuinterpretation von Pasolinis Teorema gedacht.)

Schein und Sein

Man hält sich für weltoffen und kosmopolitisch, fürchtet jedoch die Nähe „normaler“ Menschen, die Chaos in die durchdesignte Ordnung bringen könnten. Nach und nach beginnt die Fassade zu bröckeln.
Die Frage, warum der Familie zu Beginn nicht sofort geholfen werden konnte – als sie erschüttert neben ihrem brennenden Auto am Straßenrand steht –, zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung. Die emotionalen Kämpfe innerhalb der Familie treten zunehmend offen zutage.
Visuell wird dieser Wandel durch eine sich verändernde Kameraführung begleitet: von einer zunächst distanzierten Einstellung hin zur sensiblen Handkamera, als die Realität der Außenwelt in den „sterilen Luxus“ der Familie einbricht.

Das herausragende Sounddesign betont den Kontrast zwischen der beklemmenden Stille des Innenraums und den belebenden Naturgeräuschen außerhalb.

Eine ebenso visuell wie akustisch beeindruckende schwarze Komödie, durchzogen von zahlreichen (auch humorvollen) Metaphern – getragen von starken Schauspieler*innen.




Der Kampf um Autonomie – Sunshine

Am Freitag, dem 04.04.2025, präsentierte das Internationale Frauenfilmfestival um 21:00 Uhr den philippinischen Film Sunshine von Regisseurin Antoinette Jadaone.

Die Handlung: Sunshine Francisco, eine talentierte Turnerin mit Olympia-Ambitionen, wird durch eine ungewollte Schwangerschaft aus der Bahn geworfen. Sie lebt in Manila, auf den tiefkatholischen Philippinen, wo Abtreibung illegal ist. Eine Entscheidung scheint unmöglich – zwischen sportlichem Traum, gesellschaftlichem Druck und existenzieller Verzweiflung.

Was kann eine junge Frau tun, die alles für ihren Lebenstraum gegeben hat – und plötzlich mit einer Realität konfrontiert ist, die keinen Platz für diesen Traum lässt? Offizielle Hilfe gibt es nicht. Der Kindesvater zieht sich zurück. Er gibt ihr Geld, damit Sunshine das „Problem“ aus der Welt schafft – ein Verhalten, das wütend macht. (Man möchte ihn als „Arschloch“ bezeichnen – was hart klingt, aber durch sein empathieloses Verhalten leider gerechtfertigt erscheint.) Am Ende kehrt er zurück – diesmal mit seinem Vater, einem Pastor. Doch beide wollen Sunshines Zukunft mit Geld erkaufen, ohne echte Verantwortung zu übernehmen.

Zwischen Hoffnung und Verzweiflung

Die illegalen Mittel, die auf einem Marktstand zwischen Heiligenbildern verkauft werden, zeigen Nebenwirkungen. Sunshine nimmt sie schließlich in einem Stundenhotel ein – und landet nach starken Blutungen im Krankenhaus. Regisseurin Jadaone zeigt die beklemmenden Lebensrealitäten vieler philippinischer Frauen: ein Alltag zwischen Glaube, Scham, Armut und rechtlicher Ohnmacht. Dabei gelingt ihr ein ungeschönter Blick auf die Schattenseiten Manilas.

Sunshine - eindrucksvolle Leistung von Maris Racal.
Sunshine – eindrucksvolle Leistung von Maris Racal.

Besonders eindrucksvoll ist die Figur eines geheimnisvollen kleinen Mädchens, das Sunshine begleitet. Es wirkt wie eine Manifestation ihres Gewissens, eine Art Phantasiefreundin, die sie mit den moralischen und emotionalen Dimensionen ihrer Entscheidungen konfrontiert – mal fordernd, mal verständnisvoll, aber stets nah an ihrem inneren Konflikt.

Sunshine ist ein mutiger und relevanter Film, der gesellschaftliche Tabus thematisiert und persönliche Geschichten mit struktureller Kritik verwebt. Maris Racal überzeugt in der Hauptrolle mit einer körperlich eindringlichen, emotional nuancierten Performance.

Antoinette Jadaone, die sich mit Filmen wie That Thing Called Tadhana oder Never Not Love You bisher vor allem im romantischen Genre einen Namen gemacht hat, zeigt mit Sunshine eine neue, radikalere Seite ihres Schaffens. Ohne Sentimentalität, aber mit großem Einfühlungsvermögen, setzt sie sich mit der Lebensrealität junger Frauen auseinander – und liefert einen ihrer politischsten Filme bisher.




Harvest – eine archaisch-impressionistische Gesellschaftsfabel

In der Schauburg Dortmund stand am 03.04.2025 im Rahmen des IFFF (Dortmund + Köln) der Wettbewerbsfilm Harvest (Ernte) von Athena Rachel Tsangari auf dem Programm. Die Autorenfilmerin gilt als eine der zentralen Figuren des neuen griechischen Kinos, das in den letzten Jahren mit unkonventionellen Erzählweisen und radikalem Bilddenken auf sich aufmerksam gemacht hat.

Mit Harvest entführt sie das Publikum in eine traumhaft-archaische Welt: ein mittelalterliches, abgelegenes Dorf in Schottland, bewohnt von Schäferinnen und Bauern. Dort lebt der Witwer Walter Thirsk, der einst aus der Stadt kam und inzwischen selbst als Bauer arbeitet. Obwohl er nicht vollständig zur Dorfgemeinschaft gehört, ist er auch kein Außenseiter – ein romantischer Antiheld, hin- und hergerissen zwischen seiner Loyalität zu den Bewohnerinnen und seinem Glauben an Fortschritt und Veränderung.

Zwischen Aberglaube, Macht und Moderne

Das abgeschottete Dorf ist tief in seinen Riten und traditionellen Strukturen verwurzelt. Neuem gegenüber herrscht Misstrauen. Nach einem mysteriösen Brandanschlag geraten drei fremde Personen unter Verdacht – sie werden gewaltsam verfolgt und zur Rechenschaft gezogen. Parallel dazu schreitet die Kartografierung des Landes voran, und ein patriarchalischer Aristokrat plant, das Gebiet zu modernisieren und wirtschaftlich auszubeuten.

Der Film arbeitet mit kraftvollen, atmosphärischen Bildern, aufgenommen auf grobkörnigem 16-mm-Material, und eindringlichen Nahaufnahmen. Im ständigen Wechsel zwischen idyllischer Natur und brutalen Ausbrüchen tastet sich Harvest oft an psychische und physische Schmerzgrenzen heran – nichts für zartbesaitete Gemüter. Ambivalente Figuren und starke, widerständige Frauen prägen die Erzählung und verleihen ihr Tiefe.

Harvest ist ein zeitloses, allegorisches Gesellschaftsdrama über Fremdenfeindlichkeit, Machtstrukturen und einen entfesselten, rücksichtslosen Kapitalismus – mit gelegentlichen Längen. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung, wachsender sozialer Ungleichheit und einer erneuten Radikalisierung rechter Ideologien wirkt der Stoff erstaunlich aktuell. Die Parabel über das „Fremde“ und seine willkürliche Ausgrenzung lässt sich unmittelbar in unsere Gegenwart übertragen – ob in Bezug auf Migration, Umweltkonflikte oder den Kampf um kulturelle Deutungshoheit.

Auch im Kontext von Athena Rachel Tsangaris Werk zeigt sich eine inhaltliche und formale Linie: Nach Arbeiten wie Attenberg (2010) oder der Ko-Produktion Chevalier (2015), in denen sie soziale Machtverhältnisse, Geschlechterrollen und das Verhältnis von Körper und Raum untersucht, schlägt sie mit Harvest eine ernstere, politischere Tonlage an. Der Film bleibt dabei aber ihrem unverwechselbaren Stil treu: fragmentarisch erzählt, visuell kraftvoll und offen für Mehrdeutigkeiten. Es ist ein Film, der mehr fragt als beantwortet – und genau darin liegt seine Stärke.

Englischkenntnisse sind übrigens von Vorteil, da der Film ausschließlich in dieser Sprache untertitelt ist.