Nordstadt-Geschichten

Was ist die Nordstadt? Für die einen eine Art Favela, in die man sich nicht hinein traut, schon gar nicht bei Dunkelheit, für die anderen ist es hippe Mischung zwischen Künstlerbohème und Multikulti. Das Theater im Depot präsentierte das Programm „Sprich mit mir“ als Nachfolgeprojekt von „Schau mich an“. Hier erzählen die Bewohner unter der Regie von André Wülfing des Stadtviertels Geschichten – traurige, lustige und nachdenkliche.

Der Beginn des Stückes erinnerte noch kurz an das Pilotprojekt „Schau mich an“: zwei Menschen sitzen sich gegenüber, schauen sich an, aber sprechen nicht. Aus dieser Wahrnehmung des Anderen ergibt sich der nächste Schritt. Nachdem man sein Gegenüber wahrgenommen hat, möchte man in Kontakt mit ihn oder ihr treten. Die erfolgreichen und erfolglosen Versuche werden in kaleidoskopartigen Szenen aufgeführt.

Untermalt von Geräuschen vom Nordmarkt kommen skurrile oder traurige Geschichten zum Vorschein. Der weibliche Anmachversuch in der Straßenbahn wird vom männlichen Gegenüber irritiert zur Kenntnis genommen, in einer späteren Szene dreht sich das Spiel. Nun ist es der Mann, der die Frau versucht zu überreden, zu ihm zu kommen. Aber ohne Erfolg.

Neben den Geschichten um die multikulturelle Entwicklung der Nordstadt geht es auch um berührende Ereignisse, die im Kopf des Zuschauers haften bleiben. Dazu gehört die Geschichte einer alten Frau, die dem Altersheim entflieht, nur um wieder in ihrer Wohnung in der Nordstadt zu leben und die Erzählung eines Mannes, der bei einem Autounfall seinen Sohn verloren hat.

Versteht man die Nordstadt und ihre Bewohner nach dem Stück jetzt besser? Nein, das nicht. Aber man kommt ihnen ein Stück näher. Zwischen Romantik und Verdammnis blüht etwas im Verborgenen: die Menschlichkeit.




Begegnungskunst im Depot

Als neue Theaterproduktion des Theater im Depot Dortmund im Rahmen der KUNST DER BEGEGNUNG nach „Schau mich an“ (2016) geht die Folgeproduktion „Sprich mit mir – Eine Recherche nach Geschichten aus der Nordstadt“ einen Schritt weiter. Stand im letzten Jahr der Erstkontakt und Beachtung der noch fremden Person im Mittelpunkt, geht es jetzt um die Kommunikation miteinander. Als wichtige Grundlage für ein gesellschaftliche soziales Zusammenleben ist Kommunikation und die Bereitschaft zur offenen Begegnung von existenzieller Bedeutung. Geschichten werden erzählt und es geht um das gegenseitige Zuhören. Das performative Bühnengeschehen steht auf drei Säulen. Der Dialog zwischen den Personen, die erlebten Geschichte von uns oder von anderen, sowie lebendige Bewegungsbilder.

Die Bühne wird zu einer Art Versammlungsstätte, einem öffentlich erlebbaren Live-Ort, der unterschiedlichsten Menschen mit ihrem großen Spektrum an erzählten Geschichten wie in einem Mikrokosmos zusammenführt.

Mit dabei sind einerseits das Ensemble aus Menschen in der Nordstadt, die schon bei der ersten Phase bei der Begegnungskunst teilgenommen haben, sowie neu Hinzugekommende (und noch Hinzukommenden). Es sind Geschichte aus der urbanen Lebensrealität mit ganz persönlichen Erzählungen aus der Vergangenheit, die ihre dunklen Schatten bis in die Gegenwart werfen. Ein kleines direkt erfahrbares Abbild „Wir: Du und Ich, Hier und Jetzt“ des großen Kontextes „Wir: Gesellschaft, Menschheit“-Geschehen. So sollen die Szenen zum Kaleidoskop der Wirklichkeit werden.

Die Premiere der Theaterproduktion „Sprich mit mir – Eine Recherche nach Geschichten der Nordstadt“ unter der Regie von André Wülfing ist am Donnerstag, den 13. Juli 2017 um 20:00 Uhr im Theater im Depot.

Am Freitag, den 14. Juli 2017 um 20:00 Uhr ist ein weiterer Aufführungstermin.

Kartenreservierungen (AK9: Theater im Depot: 0231/ 98 22 336 (AB) oder ticket@theaterimdepot.de .




…und ’ne Buddel voll Rum

Nur 44 Jahre alt wurde der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson. Er schuf eine Vielzahl von Romanen und Erzählungen, von denen wohl neben „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ „Die Schatzinsel“ die bekannteste ist. Am 01.02.2015 las der Schauspieler André Wülfing im Theater im Depot die spannende und mehrfach verfilmte Abenteuergeschichte. Auch Ars tremonia schiffte sich auf die „Hispaniola“ ein.

Wer eine klassische Lesung erwartet hatte, bei der jemand aus einem Buch vorliest und die Zuhörer sitzen im Zuschauerraum und lauschen gespannt, der hatte sich getäuscht. Wülfing bat vor allem die Kinder (die Lesung war für Personen ab 8 Jahre) auf die Bühne. Neben acht Stühlen gab es auch die Möglichkeit auf Sitzkissen direkt vor dem Schauspieler zu sitzen. Wülfing brauchte natürlich kein Buch. Dafür benutzte er vielerlei Requisiten. Er stellte Personen aus Seilstücken dar oder er bastelte aus drei Streichhölzern und der Verpackung den Dreimaster „Hispaniola“. Wülfing hatte zunächst ein Tuch um den Kopf gewickelt, später trug er noch eine Uniformjacke.

Das Licht wurde ebenfalls effektvoll eingesetzt, um Tag und Nacht zu unterscheiden.

Wülfing schaffte es mit Leichtigkeit, dass nicht nur die Kinder an seinen Lippen hingen und der Geschichte um Jim Hawkins, Long John Silver und dem legendären Piratenschatzes folgten.




Eine schwierige Vater-Sohn Beziehung

André Wülfing gab den Thomas Mann. (Foto: © Carlo Feick)
André Wülfing gab den Thomas Mann. (Foto: © Carlo Feick)

Beim Leseabend „Vater.Sohn.Mann.“ im Dortmunder Theater im Depot am 13. Oktober 2013 beleuchteten der Erzähler André Wülfing als Schriftsteller Thomas Mann und der Künstler Michael Em Walter als dessen Sohn Klaus Mann deren schwierige und ambivalente Beziehung.

Dazu benutzten Tagebuchaufzeichnungen von Thomas Mann und Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Vater und Sohn, um ein wenig Licht in das Verhältnis der beiden Schriftsteller zu bringen. Außerdem lasen sie Auszüge aus deren Werken und ließen zwischendurch über ein altes Radio auch die original Stimmen von Erika Mann, Golo Mann oder Thomas Mann einfließen. Auch kurze Musikeinspielungen, zum Beispiel Wagner oder die amerikanische Nationalhymne, wurde geschickt zur Untermalung der Stimmungen, Vorlieben und passend zur Situation eingesetzt. Im Blickpunkt stand dabei der Zeitraum 1918 bis zu Klaus Manns Freitod im Jahr 1949.

Wülfing schlüpfte mit hellem Anzug, Oberlippenbart, Brille und Haare und mit der etwas gestelzten Sprache beim Lesen bis hin zur Mimik verblüffend glaubwürdig in die Rolle von Thomas Mann. Dabei amüsierte er mit leicht ironischer Überzeichnung. Er zeigte Mann als disziplinierten, etwas eitlen, in seinen Alltagsabläufen fast pedantischen Menschen mit einer Portion Ironie. Ein Mensch, der das Schreiben auch dazu benutzte, um seine homoerotischen Neigungen, die er sich nicht gestattete, auszuleben und dichterisch zu sublimieren. Das wird schon bei seinem Roman „Der Zauberberg“ aus dem Jahr 1924 deutlich.

Michael Em Walter zeichnete ein sensibles Bild von Klaus Mann, der immer um die Gunst und Anerkennung seines berühmten Vaters kämpfte und immer versuchte , aus dessen Schatten zu treten. Der exzentrische älteste Sohn ist ein lebenshungriger Mensch bis hin zur Selbstzerstörung mit Todesfantasien. Er lebt exzessiv und bereist mit seiner Schwester Erika in seinen jungen Jahren auch die Welt. Klaus lebt im Gegensatz zu seinem Vater seine Homosexualität aus und bekennt sich offen zu ihr.

Das Dilemma ist. Eigentlich bewundert Thomas Mann unterbewusst einen Sohn für sein Mut zur offenen Homosexualität und seinem offenen politisches Engagement. Auch sein schriftstellerische Werk findet nach und nach bei ihm an Beachtung. Für Thomas Mann ist es schwer, Klaus als Schriftsteller-Konkurrent, aber vor allem als homosexuellen Mann distanzlos und liebevoll gegenüber zu treten. Er wird durch seinen Sohn mit seiner eigenen homoerotischen Neigung und mit einem Leben konfrontiert, dass seine Persönlichkeit sich selbst zu gestatten. Am deutlichsten wird das distanzierte Verhältnis der beiden am Schluss, als Thomas Mann nach dem Freitod seines Sohnes sagt: „Das hätte er ihnen (Erika und seiner Mutter ) nicht antun dürfen.“

Wichtig ist zudem der gesellschaftspolitische Hintergrund der Zeit vor und bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch da zeigen sich die Unterschiede zwischen Vater und Sohn. Klaus steht dem Nationalsozialismus schon früh kritisch und ablehnend gegenüber. Kritische Schriften aus den Niederlanden und sein Kabarett mit Schwester Erika, die „Pfeffermühle“ bezeugen das ein ja eindeutig. Sein Vater stellt sich erst spät offen gegen die Nationalsozialisten und Emigriert.

Ein gelungener Leseabend, dem man noch mehr Publikum wünschen möchte.




Vater. Sohn. Mann.

In den Mittelpunkt rückt die nicht unproblematische Generationenfrage der beiden großen deutschen Autoren: auf der einen Seite der „große Alte“, Nobelpreisträger, bedeutendster deutscher Epiker seiner Zeit, der mit seiner Sexualität im Unreinen – auf der anderen Seite der Junge, im Schatten Thomas‘ mit der Frage beschäftigt, was er dem großen Werk des Vaters entgegenzusetzen hat.

Dabei entpuppt sich Klaus schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten als politisch Denkender. Während Thomas Mann zunächst zögerlich erscheint, begreift Klaus schon früh die Konsequenzen der Diktatur für ihn und die Gesellschaft.

Zeitgeschichtliche Stationen der Geschichte des Vaters und des Sohnes Mann sind die wilden 20-er, das Exil in den 30-ern, sowie die Zeit in Amerika und das neue Deutschland in den 40-er Jahren bis zum verzweifelten Ende von Klaus Mann.

Die Lesenden veranschaulichen in szenischer Dichte die zerbrechliche Beziehung von Vater und Sohn: Klaus‘ Ringen um Anerkennung durch den über Gefühle erhabenen „Zauberer“. Gleichzeitig erweist der Vortrag den beiden Schriftstellern respektvoll die ihnen gebührende Ehre.

 

Vorstellung:

SO 13.10.2013 um 19 Uhr

Eintritt: VVK 13 € / 8 € erm.

AK 15 € / 10 € erm.

Kinder bis 14 J. VVK + AK 5 €

Ort: Theater im Depot, Immermannstr. 29, 44147 Dortmund, www.depotdortmund.de

Erarbeitet und vorgetragen von André Wülfing und Michael Em Walter