Malinches Echos: Jenseits einer einzigen Geschichte

Das Performancekollektiv schall&kreck kehrt mit einem beeindruckenden multimedialen Stück im Solo-Format zurück auf die Bühne.
Pauli Nafer
27.01.2025

Nach dem Performance-Parcours what the fem? (2023) bringt schall&kreck mit der deutsch-nicaraguanischen Elisa Marschall als Performerin eine neue Arbeit auf die Bühne: In vier Aufführungen in Düsseldorf und Dortmund rufen sie Malinche und ihr ambivalentes Vermächtnis ins Gedächtnis.

Malinche: Eine zentrale Figur der kolonialen Geschichte

Präsent mit vielen verschiedenen Namen wird diese Frau des indigenen Nahua-Volkes als zentrale Figur der kolonialen Geschichte Lateinamerikas und der Karibik angesehen. Durch ihre Verbindung zu den spanischen Eroberern wurde Malinche zum Symbol des Mestizaje, eines kolonialen Kastensystems, das indigene und afrikanische Wurzeln verdrängte und bis heute die nationale Identität in Ländern wie Mexiko prägt.

Trotz der Vielschichtigkeit ihrer Geschichte wird Malinche nur auf zwei Lesarten reduziert: die der Verräterin und die des stummen Opfers. Das Performancekollektiv schall&kreck hinterfragt beide Perspektiven und legt die Vorurteile sowie die Gewalt offen, die seit Jahrhunderten auf indigene und weibliche Körper projiziert und ausgeübt werden.

Malinches Echo: Ein lebendiges Vermächtnis

Mehr als ein Mythos der Vergangenheit spricht Malinches Echo von jemandem, der noch lebt. Sie bricht unvermittelt und widersprüchlich in andere Räume ein: Sie wohnt in abfälligen Liedern, in der literarischen Figur der romantischen Liebe, in fortbestehenden Stereotypen und spiegelt ein weitergegebenes Trauma, das unauslöschliche Spuren im Erleben der Körper hinterlässt.

Auf der Bühne reisen die Echos von Malinche durch Zeit und Raum. Manchmal scheint ihre Stimme mit ihrem Echo zu verschmelzen, manchmal ihr Echo mit der Stimme von Elisa Marschall – der Performerin, die mit beeindruckender Leichtigkeit zwischen präzisen choreografischen Sequenzen, zurückgenommenen Gesten und heftigen, abrupten Erschütterungen wechselt, die den Raum mit intensiver Spannung füllen. Kostüme, Medienkunst und Sounddesign begleiten diese Aktionen nicht nur, sondern umhüllen sie und verschmelzen mit ihnen, eingebettet in ein Ritual, das von innerer Transformation und Erneuerung erzählt.

Marschall nimmt das Publikum auf eine biografische Reise mit, in der Körper und Stimme eine Vielzahl von Identitäten und einen existenziellen Schock erfahrbar machen. Ihre Stimme ist stark. Der Körper ist zugleich vertrautes und fremdes Territorium. Die Erinnerung verwischt die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gesten wie das Flechten der eigenen Haare oder das Sich-selbst-Einflechten wecken die introspektive Suche nach Heilung und beschwören das Verlangen herauf, im eigenen Körper einen Raum zu finden, in dem die eigene Existenz möglich wird.

Malinche: Eine zentrale Figur der kolonialen Geschichte steht im Mittelpunkt.
Malinche: Eine zentrale Figur der kolonialen Geschichte steht im Mittelpunkt.

Ein globales Regime der Gewalt

Die Botschaft ist klar: Es gibt viele Malinches. Indigene Frauen, Heilerinnen, Kämpferinnen, weychafescimarronas, Verteidigerinnen der Territorien, Aktivistinnen, Queere, Freie, Hexen. Während in Abya Yala – eine von indigenen Völkern und dekolonialen Feminismen zurückgeforderte Bezeichnung für den amerikanischen Kontinent – koloniale Gewalt gegen indigene Frauen ausgeübt wurde, verbrannte man zur gleichen Zeit in Europa Frauen als Hexen. Dieses globale Regime der Gewalt gegen Frauen offenbart eine gemeinsame Unterdrückung, die zeitliche und geografische Grenzen überschreitet.

Zwischen Tanz und medialer Inszenierung verliert dieses Solo seinen Charakter als reine Einzelperformance, sobald verkörperte Erinnerung und der Ruf des Kollektivs in das Geschehen eindringen. Jede Szene erscheint als Akt des Widerstands gegen dominante Erzählungen, binäre Verständnisse und die Simplifizierung historischer Komplexitäten. Malinche wurde oftmals zu einer einzigen Geschichte reduziert – zur Stärkung bestimmter Identitäten, Marginalisierung indigener und schwarzer Lebenswelten und Vereinfachung diasporischer Wege. Mit solchen Darstellungsweisen gilt es in Malinches Echo zu brechen.

Die Performance wurde gezielt für intime Theaterräume entwickelt. Sie verbindet Fragmente auf Deutsch, Spanisch und – in kleinerem Umfang – Náhuatl, die sich nahtlos zu einem mehrsprachigen Gewebe zusammenfügen. In dieser Auffassung werden feministische Kämpfe gewürdigt, und Malinche bleibt als Figur offen, näher bei uns, als wir denken, und lädt dazu ein, einen neuen Mythos zu erträumen, der den alten überwinden kann.




Szenische Forschungsreisen

Fast schon traditionell zu Beginn des Jahres öffnete Jens Heitjohann, der künstlerische Leiter der freien Spielstätte in der Dortmunder Nordstadt, nun bereits zum dritten Mal seine Pforten für eine unterhaltsame und spannende Werkschau von Studierenden des Masterstudiengangs „Szenische Forschung“ an der Ruhr-Universität Bochum. Es herrscht fast so etwas wie Jahrmarktsatmosphäre, denn nicht nur die Bühne wird bespielt, sondern ebenso das Foyer und ein Studio. Zum Auftakt werden am ersten Tag insgesamt neun Projekte vorgestellt. Hans-Peter Krüger besuchte am 24. Januar 2025 den ersten Tag, Michael Lemken berichtet über den zweiten Tag.

Es gibt Installationen, Performances und szenische Anordnungen, in denen es darum geht – wie es auf der Website des Studiengangs heißt – „mittels spielerischer, spekulativer oder subversiver Entwürfe Aspekte der Wirklichkeit zu entdecken und erfahrbar zu machen, die dem Alltag und den Wissenschaften gleichermaßen verborgen bleiben.“ Herausgekommen sind dabei neun unterhaltsame, spannende und auch verstörende Ausflüge in die vielfältige Landschaft performativer Künste: szenische Forschungsreisen, die formal und inhaltlich die Grenzen traditioneller Theaterformen bisweilen auf überraschend kurzweilige Weise überschreiten.

Persönliche und partizipative Projekte

Fast schon programmatisch schreibt Carolin Pfänder gleich zu Beginn ihrer etwa 60-minütigen Performance „Comfort Binge Watching mit Allerliebst“ mittels Overheadprojektor an die Wand: „Ich darf nicht Theater spielen.“ Was folgt, ist eine sehr persönliche, autobiografische Auseinandersetzung der Künstlerin mit Versagensängsten, Furcht vor Fehlern und seelischer Überforderung. Aber C., wie sie sich kurz nennt, hat eine Strategie dagegen: Sie schaut Serien, die, immer nach dem gleichen Muster produziert, ein verlässlicher Anker für das angeschlagene Seelenschiff sind und die Hoffnung auf die heilende Wirkung von Wiederholungen nähren.

Unterfüttert wird diese Performance durch Filmausschnitte von Serien wie „Gilmore Girls“, „Friends“ oder „Big Bang Theory“ sowie durch wissenschaftliche und literarische Texte, die an die Wand projiziert werden. Am Ende formuliert C. schließlich auch so etwas wie eine Sehnsucht: „Wenn es ein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit gäbe, wäre das genau das, was ich will im Leben.“ Eine nachdenkliche, in seiner Dichte manchmal überfordernde, aber doch nie langweilige, verstörende szenische Forschung zum Thema Depression, an deren Ende sie voller Zuversicht an die Wand schreibt: „Ich darf Theater machen.“

Experimantal Toppings:  Alina Mathiak in ihrem Versuch, in die Welt ihres Vaters einzutauchen.
Experimental Toppings: Alina Mathiak in ihrem Versuch, in die Welt ihres Vaters einzutauchen.

Im Foyer sind die Grenzen zwischen Bühne und Publikum aufgelöst. Mitmachen ist angesagt. In Judith Grytzkas partizipativer Installation „Die Ordnung der Dinge“ stehen die Besucher anfangs vor einer Kiste mit unzähligen kleinen Dingen. Daneben stehen zwei leere Setzkästen mit der Anweisung: „Bitte sortieren.“ Es dauert nicht lange, und alle legen tatsächlich Hand an, suchen und verteilen, diskutieren Ordnungsprinzipien, um dann festzustellen, dass Ordnung für jeden etwas anderes ist.

Zum Sortiermaterial gehört auch eine Fotobox mit unzähligen Bildern von mehr oder weniger aufgeräumten Regalen, Schubladen und Schränken, die nach unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen an die Wand geheftet, dann wieder neu aussortiert und umgruppiert werden. Einmal angefangen, fällt es einigen schwer, sich loszureißen von der Ordnungsarbeit an der Installation, die, wie ein Besucher treffend formuliert, einen „verführerischen Suchtcharakter“ in sich trägt.

Ungewöhnliche Performances und Installationen

Alina Mathiak und Melina Hylla haben eine Ecke des Foyers mit einem glitzernden Herzchenvorhang eingerichtet für eine Art Sprechstunde in Sachen Liebe. „Let’s talk about love“ heißt ihr Projekt, in dem sie in Einzelgesprächen Menschen bitten, ihre Gedanken, Fragen und Geschichten zu diesem Herzensthema zu formulieren. Und wenn sie keine Worte finden, können sie auch singen, Geräusche und Töne einsetzen oder einfach schweigen. All das wird aufgenommen und in einer Art Archiv zum Nachhören über die Liebe gespeichert, denn an Liebe, da sind sich die beiden Performerinnen sicher, mangelt es in der Welt.

Inspiriert von Mark Rothkos Gemälde „Orange Red Yellow“ hat Nooshin Seifi im Studio 1 einen Tisch mit orangenen und gelben Tischdecken geschmückt. Rote Servietten verbergen noch das Geschirr. Es wird aufgefordert, Platz zu nehmen und die Servietten zu entfernen. Zum Vorschein kommen nicht etwa gleiche Teller und Löffel, sondern sehr verschiedene Behältnisse und Essbestecke.

Dann wird natürlich gelb-orangefarbene Suppe aus Kürbis und Möhren angeboten, und nacheinander erfolgen die Anweisungen: „Find a solution“, „Never give up“, „It’s never too late“. Eine Irritation gewohnter Vorstellungen setzt ein: Ein leicht verschobenes Setting lässt den üblichen Alltag in einem anderen Licht erscheinen. Die Auseinandersetzung mit ungewohnten Handgriffen lenkt den Gedankenstrom in neue Erzählperspektiven. Das Ergebnis ist eine lebhafte Kommunikation, wie man sie sich nach einer spannenden Theaterinszenierung wünscht.

Dzenny Samardzic nimmt uns mit in ein aus Kinderbettwäsche gestaltetes Märchenerzähler-Zelt. In ihrer Performance „Enti, Erna, Wummi & Co“ geht es um Kuscheltiere. Jeder Besucher darf sich aus einem großen Haufen eines aussuchen, bevor er auf weichen Kissen im Zelt Platz nimmt, um in anheimelnder Atmosphäre Geschichten zu hören, die von einem alten Cassettenrecorder abgespielt werden. Das unterstützt den märchenhaft-nostalgischen Charakter und bietet eine wunderbar ruhige, meditative Viertelstunde, in der die Erinnerungen an die eigene Kindheit und die damit verbundenen Gefühle lebendig werden.

„Zutun“ nennt F*Kemmether ihre aktiv herausfordernde Installation. Einzeln darf der Neugierige in ein kleines Versuchslabor eintreten, wo er aufgefordert wird, Reis, Haferflocken oder Leinsamen umzufüllen – aus Tüten in Gläser oder Plastikbehälter. Vor allem Aufmerksamkeit wird verlangt – nur nichts verschütten! Es geht um Sorgfalt, ruhige Planung und Genauigkeit und letztlich darum, mit den Kräften zu haushalten, was in einer allzu hektischen Welt oft vernachlässigt wird.

2026, so verspricht es Jens Heitjohann in seiner Eröffnungsrede, sollen die „Experimental Toppings“ wieder das Jahr im Theater im Depot eröffnen.

Ein Ruhepol zwischen Trubel und Kunst

Am zweiten Tag der „Experimental Toppings“ fand parallel im Depot der Nachtflohmarkt statt. Während sich in der Haupthalle die Menschen eng an eng durch die Stände drängten, blieb das Theater im Depot eine Art kleiner Ruhepol – ein Ort für ungewöhnliche und intensive künstlerische Erlebnisse.

Den Auftakt machte Johanna Sowka mit ihrer Performance „time jockey“ im Studio 1. Wie lange dauert die Reise eines Regentropfens von der Wolke bis zum Boden? Oder die rote Ampelphase vor meiner Haustür? Sowka misst Zeit und setzt sprachliche Punkte, die durch entstehende Loops von einer Kakophonie zu einem Rhythmus werden.

Persönliche Begegnungen und historische Spurensuche

Danach folgte eine Vater-Tochter-Produktion mit dem Titel „SPF“. Eine ungewöhnliche, aber sehr aufwändig und gelungen inszenierte Performance. Alina Mathiak, Künstlerin, und ihr Vater, Ralf Mathiak, Chemielaborant, stellten die Frage: Wie können Kunst und Wissenschaft miteinander in Verbindung bleiben?

Alina benutzte ihr altes Labormikroskop, mit dem sie als Kind ihrem Vater nacheifern wollte. Im zweiten Teil leitete ihr Vater Ralf das Geschehen: Die Zuschauer:innen durften verschiedene Sonnencremes testen und bewerten. Schließlich kehrte die Performance zurück zu Alina, die trotz ihrer frühen Kontakte zur Lebenswelt ihres Vaters keinen nachhaltigen Zugang dazu fand, da ihr Interesse schon früh auf die Kunst gerichtet war. Eine stille Frage blieb am Ende: Wie wird sich die Beziehung zu ihrem Vater weiterentwickeln?

Der dritte Beitrag des Abends stammte von der südkoreanischen Künstlerin Hakyung Kang und führte die Zuschauer:innen nach Guryongpo, ihre Heimatstadt. Unter dem Titel „When Nine Dragons Ascended“ setzte sich die Performance mit den kolonialen Spuren auseinander, die das kaiserliche Japan dort hinterlassen hat.

Neben einer „Japanischen Straße“ mit traditioneller Architektur standen die „Haenyeo“ im Fokus – sogenannte Seefrauen, die einst von der Insel Jeju nach Guryongpo kamen und noch heute als Taucherinnen Meeresfrüchte ernten. Doch Klimawandel und Verschmutzung haben die Bedingungen drastisch verändert, sodass mittlerweile vor allem Seeigel gesammelt werden. Viele dieser Taucherinnen sind inzwischen über 70 Jahre alt, doch ihre Arbeit zeugt von ungebrochener Stärke und Resilienz.




Dicht und doppelbödig

„Antigone“ von Sophokles/Schimmelpfennig feierte Premiere am Schauspiel Dortmund

Die „Antigone“ des griechischen Dramatikers Sophokles gilt gemeinhin als das klassische Drama um den Konflikt zwischen Staatsraison und Humanität und ist angesichts der gegenwärtigen Kriege in Europa und der Welt aktueller denn je. Roland Schimmelpfennigs Überschreibung des Dramas dient als Grundlage für die Spielfassung der Dramaturgin Marie Senf und der Regisseurin Ariane Kareev. Letztere stellt in ihrer gut durchdachten und soliden Inszenierung vor allem den Konflikt zwischen der Titelheldin und Kreon, zwischen männlichem Machtanspruch und weiblicher Rebellion in den Mittelpunkt. Herausgekommen ist dabei ein bildgewaltiger Abend mit zuweilen ein wenig opernhaft und pathetisch agierenden, gleichwohl hervorragenden Darstellern, einem sensationellen Sprechchor und zwei finnischen Artistinnen, was der Inszenierung nicht nur eine inhaltlich-ästhetisch spannende Ebene hinzufügt, sondern auch eine sehenswerte circensische Note verleiht.

Eine kraftvolle Bühne und überzeugende Darsteller

Schon der erste Eindruck ist gewaltig: Der Palast von Theben (Bühne: Nicole Marianna Wytyczak) ist gestaltet aus langen Tuchbahnen, die von der Decke hängen und wie rotmarmorierte Säulen aussehen – eine Szenerie, in der sich Hart und Weich zu einer symbolischen Verbildlichung des Konflikts zwischen Kreon und Antigone ergänzen. Wir blicken auf den Schauplatz eines soeben beendeten Krieges; der Boden dampft noch und ist heiß wie die Gemüter. Das alles ist kongenial untermalt von archaisch dröhnenden, bedrohlichen Sounds (Yotam Schlezinger).

Das Ensemble und der Dortmunder Sprechchor bei "Antigone". (Foto: (c) Birgit Hupfeld)
Das Ensemble und der Dortmunder Sprechchor bei „Antigone“. (Foto: (c) Birgit Hupfeld)

Die Geschichte ist zweieinhalbtausend Jahre alt und weithin bekannt: Der Königssohn Polyneikes fühlt sich um sein Erbe am Reich geprellt und greift seine Vaterstadt Theben an. Eteokles, sein Bruder, verteidigt sie. Beide töten sich im Kampf, und das Unheil nimmt seinen Lauf, als ihr Onkel Kreon, der neue Herrscher, bei Todesstrafe verbietet, den Leichnam des Polyneikes zu bestatten. Antigone, die Schwester der beiden Toten, missachtet die Verordnung, bestattet ihren Bruder und bekennt sich öffentlich zu der Tat. Kreon lässt sie daraufhin lebendig einmauern. Doch der Widerstand gegen sein konsequentes Urteil formiert sich: Die eigene Familie, die Seherin und selbst das Volk ergreifen Partei für die Rebellin. Als Kreon verunsichert endlich nachgibt, ist es zu spät – am Ende sind alle um ihn herum tot.

Ekkehard Freye gibt den Kreon zunächst wunderbar als nassforschen, mediengewandten Politiker, der eloquent den Rechtsstaat repräsentiert. Linda Elsner als Antigone inszeniert sich nicht minder medienwirksam als Märtyrerin, die sich scheinbar vor dem Tod nicht fürchtet. Beiden Protagonisten folgt man hochinteressiert bei der Entwicklung ihrer Figuren, die nach und nach den sicher geglaubten Boden unter ihren Füßen verlieren. Auch alle anderen Rollen sind sauber gearbeitet und fügen sich nahtlos in den sehr klaren, dicht inszenierten Erzählprozess. Besonders erwähnenswert ist Alexander Darkow als Wächter, der auch den notwendigen Witz nicht vermissen lässt.

Spektakuläre Choreografien und eine starke zweite Ebene

Der Dortmunder Sprechchor ist so gut wie nie. Schlüssig und wirksam ist die Idee, ihn anfangs im Publikum zu platzieren, wodurch die Zuschauer selbst zum Volk von Theben und damit zu einem aktiven Teil des Geschehens werden. Und wie dieser wirklich auf den Punkt überschriebene Chortext inszeniert ist – ich wiederhole mich gern – ist eine Sensation: Auf höchstem Niveau präsent, präzise und wortgewaltig!

Besonders wird dieser Theaterabend durch die Erfindung einer zweiten Ebene. Bespielt wird sie akrobatisch von Anna und Minna Marjamäki, die als Polyneikes und „Spiegelantigone“ – so lesen wir im gut gemachten Programmheft – die „Sphäre der Toten verkörpern“. Gleich zu Beginn werden wir so zu Zeugen von Polyneikes’ verzweifeltem artistischen Versuch, sich aus dem Schattenreich zwischen Leben und Tod zu befreien. Höhepunkt all dieser sehenswerten akrobatischen Choreografien ist das ausdrucksstarke, wortlose Duett zwischen Hochseil und Boden von Antigone und ihrem Spiegel nach der Vollstreckung von Kreons Urteil. Diesen doppelten Boden als kommentierendes Element neben dem Chor zu installieren, erweist sich als bestechende Idee und rundet eine insgesamt sehr sehenswerte Inszenierung auf spektakuläre Weise ab.

 




Don Giovanni im 21. Jahrhundert

Don Juan, auf Italienisch Don Giovanni, ist seit Jahrhunderten eine faszinierende Figur unseres kulturellen Erbes. Mit seinem Charme und seinem Erfolg bei Frauen hat er Menschen in verschiedenen Epochen in seinen Bann gezogen. Doch Don Giovanni ist auch eine Figur, die durch ihre rücksichtslos egozentrische Natur und moralischen Grenzüberschreitungen verstört. Mit skrupelloser Manipulation, Verführung und sogar Gewalt setzt er sich über alle Grenzen hinweg.

W.A. Mozarts weltberühmte Oper „Don Giovanni“, von ihm selbst als „dramma giocoso“ (komische Oper) bezeichnet, brachte diese vielschichtige Figur auf die Opernbühne. Das Libretto von Lorenzo Da Ponte verbindet Humor mit tiefen Emotionen und ernsthaften Themen. In den Partituren finden sich sowohl Leichtigkeit als auch dramatische Intensität.

Die neue Inszenierung der Oper, unter der Regie von Ilaria Lanzino, feierte am 18. Januar 2025 im Opernhaus Dortmund Premiere. Lanzino transportiert die zeitlose Figur Don Giovannis in unsere Gegenwart und beleuchtet dabei auch aktuelle gesellschaftliche Fragen.

Drei Generationen Frauen und ein zeitloser Verführer

Musikalisch wurde die Aufführung souverän von den Dortmunder Philharmonikern unter der Leitung von George Petrou begleitet. Ergänzt wurde die Produktion durch die Statisterie Theater Dortmund und den Opernchor unter der Leitung von Fabio Mancini.

Denis Velev, Ks. Morgan Moody, Artyom Wasnetsov, Opernchor Theater Dortmund. (Foto: Björn Hickmann)
Denis Velev (Don Giovanni), Ks. Morgan Moody (Leporello), Artyom Wasnetsov (Komtur), Opernchor Theater Dortmund. (Foto: Björn Hickmann)

Die Rolle des Don Giovanni wurde eindrucksvoll von Denis Velev verkörpert, der mit starker Stimme und einer gelungenen Mischung aus Charme und komödiantischem Talent überzeugte. Sein Diener Leporello, gespielt von Ks. Morgan Moody, stand ihm in Sachen Bühnenpräsenz in nichts nach. Während Don Giovanni in einer charakteristischen Kostümierung auftrat, trugen die anderen Figuren zeitgenössische Kleidung, die den Brückenschlag zur Moderne unterstrich.

Ein zentrales Thema der Inszenierung waren die drei Frauen aus unterschiedlichen Generationen, die alle auf ihre Weise Opfer von Don Giovannis Taten wurden:

  • Zerlina (Sooyon Lee), die junge und unerfahrene Bauernbraut, steckt in einer komplizierten Beziehung mit ihrem eifersüchtigen Bräutigam Masetto (Daegyun Jeong). Ihre Naivität macht sie anfällig für Don Giovannis Verführungskünste.
  • Donna Anna (Anna Sohn), eine etwa 35-jährige Frau und junge Mutter, entgeht zu Beginn des Stücks nur knapp einer Vergewaltigung durch Don Giovanni. Ihr Vater, der Komtur (beeindruckend verkörpert von Artyom Wasnetsov), wird bei dem Versuch, sie zu retten, getötet. In ihrer langjährigen Beziehung zu Don Ottavio (Sungho Kim) fehlt ihr der emotionale Halt, den sie als junge Ehefrau und Mutter dringend bräuchte.
  • Donna Elvira (Tanja Christine Kuhn), Don Giovannis verlassene Ex-Frau, steht mit ihren rund 60 Jahren für eine Frau, die oft von der Gesellschaft als „nicht mehr begehrenswert“ wahrgenommen wird. Doch ihre Entschlossenheit zur Rache zeigt ihre innere Stärke.

Ein besonderes Highlight der Inszenierung war das Ende, bei dem die Frauen gemeinsam als Medusa, einer mythologischen Figur, die selbst Opfer einer Vergewaltigung war und zur Rächerin wurde, auftraten. Die Statue von Medusa, symbolisiert durch die Stimme des Komturs, bildete eine beeindruckende Schlussszene. Don Giovanni, der bis zuletzt uneinsichtig und ungerührt blieb, wurde schließlich in die Hölle gestoßen.

Moderne Akzente und zeitlose Themen

Besonders eindrucksvoll waren die flackernden Leuchtröhren, die während des Höllensturzes eine spannungsvolle und furchteinflößende Atmosphäre schufen. Zudem verdeutlichte die Inszenierung, etwa im anonymen Rahmen des Maskenballs, auch die verborgenen Sehnsüchte und das Machtspiel zwischen den Figuren.

Die musikalischen Leistungen aller Beteiligten – von Solist*innen bis zum Opernchor – begeisterten das Publikum und verliehen Mozarts Werk eine moderne Strahlkraft.

Weitere Aufführungstermine und Informationen finden Sie unter www.theaterdo.de oder telefonisch unter Tel.: 50 27 222.




Null Zucker – Sprache als Schlüssel zur Identität und Verständigung

„Null Zucker“ ist kein Stück über dialektologische Nahrungsvorschläge, sondern eine eindrucksvolle Auseinandersetzung mit Sprache. Wie verändert sich unsere Perspektive, wenn wir eine neue Sprache lernen? Gewinnen wir etwas hinzu, oder verlieren wir auch einen Teil von uns? Sprache ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern auch ein Machtinstrument. Unter der Regie von Tanju Girişken begaben sich die Schauspieler*innen Mouatouz Alshaltouh, Lukas Beeler und Fabienne-Deniz Hammer auf eine spannende Reise durch Worte und Bedeutungen. Die Premiere fand am 17. Januar 2025 statt.

Im Zentrum der Bühne stand eine aufklappbare Box, die zu Beginn des Stücks das WG-ähnliche Zuhause der Hauptfiguren darstellte. Im späteren Verlauf diente sie als Projektionsfläche für Videoclips, in denen Dortmunder*innen ihre Erfahrungen mit der deutschen Sprache schilderten. Gegen Ende des Stückes wurde die Box auseinandergebaut, symbolisch für die Auflösung von Grenzen und Normen.

Drei Figuren, drei Perspektiven

Mouatouz Alshaltouh verkörperte einen Charakter, der aus einem anderen Land kam und sich die deutsche Sprache mit großem Eifer aneignete. „Ich habe alles gelesen – Kassenbons, Packungsbeilagen, Bücher, Briefe – einfach alles“, berichtete er. Doch mit der neuen Sprache kam auch die innere Zerrissenheit: „Ich schäme mich für den Akzent meines Vaters.“ Sein Denken ist in Arabisch verwurzelt, doch sein Ausdruck erfolgt auf Deutsch. Besonders eindrucksvoll war die Aussage: „Wenn ich Kleist spiele, denke ich auf Arabisch, sage den Text aber auf Deutsch.“

Null Zucker: Fabienne-Deniz Hammer, Mouataz Alshaltouh und Lukas Beeler Foto: (Birgit Hupfeld)
Null Zucker: Fabienne-Deniz Hammer, Mouataz Alshaltouh und Lukas Beeler Foto: (Birgit Hupfeld)

Lukas Beelers Figur brachte eine andere Perspektive ein. Als Schweizer stellte er fest, dass auch innerhalb des Deutschen Unterschiede existieren. Schweizerdeutsch unterscheidet sich in Aussprache und Wortschatz erheblich vom Hochdeutschen, wie bei Wörtern wie „Haus“, „Kind“ oder „Ich“. Seine Figur schilderte die Herausforderungen, die gültige Hochdeutsch-Norm zu erlernen, wie sie etwa in Schauspielschulen unterrichtet wird.

Fabienne-Deniz Hammer spielte eine Figur mit türkischem Migrationshintergrund, die jedoch kaum oder kein Türkisch spricht. Im Laufe des Stückes bedauerte sie diese verpasste Chance. Besonders hob sie die Vorzüge der türkischen Sprache hervor, die geschlechterneutral ist – das Personalpronomen „o“ steht für „er“, „sie“ und „es“. Auch andere Sprachen wie Finnisch, Ungarisch, Koreanisch oder Japanisch sind in dieser Hinsicht ähnlich.

Mehrsprachigkeit als Bereicherung

Trotz der ernsten Themen kam der Humor nicht zu kurz. „Null Zucker“ zeigte auf humorvolle Weise, wie Sprache unsere Identität prägt und uns miteinander verbindet. Ein türkisches Sprichwort fasst dies treffend zusammen: „Eine Sprache, ein Mensch. Zwei Sprachen, zwei Menschen.“

Gegen Ende wurde das Publikum aktiv einbezogen. In einer an eine Radioshow angelehnten Szene wurden die Zuschauer*innen gefragt, ob sie mehrere Sprachen sprechen oder eine neue Sprache lernen. Die Premiere zog ein gemischtes Publikum an, das sich nach der Aufführung noch lebhaft über die Thematik austauschte.

Das Stück ist ein eindrucksvolles Plädoyer für die Wertschätzung der Mehrsprachigkeit und ein Appell, die Sprache des anderen zu lernen – als Schlüssel zur Verständigung und zur Wertschätzung kultureller Vielfalt.

Weitere Informationen unter www.theaterdo.de.




Junges Theater um Biedermänner und Brandstifter

Angelehnt an die Tragikomödie „Biedermann und die Brandstifter“ (Uraufführung 1958) von Max Frisch entwickelte das Workshop-Ensemble Fletch Total 16+ unter der Regie von Ulla Riese eine moderne Fassung des Stoffes, die aktueller nicht sein könnte. Die Premiere fand am 17.01.2025 im Theater Fletch Bizzel in Dortmund statt. Musikalisch untermalt wurde die Inszenierung live von einer Band unter der Leitung von Florian Krebs (Keys). Mit dabei waren außerdem Leo Weichert (Bass), Carlotta Räker (Cello und, gemeinsam mit Christian Fischer als Diener sowie Clara Quebbemann als Polizistin, Teil des mahnenden Chors), Andreas Homann (Saxofon) und Fabian Strunck (Drums).

Die Musik bot eine breite Palette von Rock-Pop, Rap, Jazz bis hin zu Country und wurde von den Schauspielenden auf der minimalistisch gestalteten Bühne als zusätzliches Ausdrucksmittel eingesetzt. Bis auf den deutschen Text „Wir bringen euch den Hass“ waren alle Songs in englischer Sprache. Für die kleinen, aber prägnanten Tanzeinlagen zeigte sich Marie Militzer verantwortlich.

Das Workshop-Ensemble Fletch Total 16+. (Foto: Bianca Brauer)
Das Workshop-Ensemble Fletch Total 16+. (Foto: Bianca Brauer)

Wachsamkeit und Widerstand: Zeitlose Botschaften

Das Stück beginnt mit einem Nachspiel. Haarwasserfabrikant Gottlieb Biedermann (Mareike Sieding) und seine Frau Babette (Gianna Cusano) erwachen in der Hölle und müssen sich vor der Presse rechtfertigen. Warum haben sie die Brandstifter gewähren lassen und sie sogar noch bei ihrer Tat unterstützt?

Bezüge zur heutigen Zeit, geprägt von globalen Zerwürfnissen und gesellschaftlichen Spannungen, wurden subtil eingebaut. So fiel beispielsweise der Begriff „Brandmauer“ im Zusammenhang mit der Abgrenzung gegenüber rechten Parteien – ein Ausdruck, auf den man sich ja eigentlich geeinigt habe.

Mareike Sieding überzeugte als Hauptfigur Biedermann, der trotz offensichtlicher Warnzeichen in der Hoffnung, selbst verschont zu bleiben, keinen Widerstand leistet. Die Rolle des Verdrängungsmeisters füllte sie stark und eindringlich aus. Lisa Goltzsche als Brandstifter Josef Schmitz und Levin Burghardt als sein Komplize Eisenring brillierten mit Frauenpower, Humor und einem feinen Gespür für Ironie. Besonders gelungen war ihre Darstellung, wie sie sich in Biedermanns Haus einschmeichelten und ihn für ihre Zwecke einnahmen.

Das Stück macht deutlich, wie notwendig Wachsamkeit, kritisches Denken und mutiger Widerstand gerade in unserer Zeit sind. Alle jungen Schauspielenden boten eine engagierte, frische Leistung und hinterließen einen bleibenden Eindruck.




Balkansoul – Lost (S)heroes

Eine Musik-Theater-Performance des HER.STORY Kollektivs

Nur ein kleines Stückchen Schokolade.

Politische Versprechungen sind oftmals groß, die Bedürfnisse des Einzelnen manchmal eher klein. So beginnt der Abend nach einer kurzen Vorrede mit einem Rückblick auf den Start der neuen Republik Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Folge mit den vielen Versprechen des damaligen Regierungschefs und späteren Staatspräsidenten Tito, unter anderem Wohlstand für alle zu schaffen. In der Menge wünscht sich ein Mädchen nur mal ein kleines Stückchen Schokolade von dem ganzen Glück.

Später geht dieses Mädchen wie viele andere Menschen, darunter viele Frauen, nach Deutschland. Sie kommen über Belgrad, Zagreb, Athen und Stuttgart nach Dortmund. Die Bundesrepublik benötigt Arbeitskräfte. Nach einigen anderen Anwerbeabkommen, z. B. mit Italien, Spanien und der Türkei, wird 1968 das letzte mit Jugoslawien geschlossen. Sie sind GastarbeiterInnen – und sie empfinden sich auch selbst so. Gekommen als Gäste, um etwas Geld zu verdienen, um besser leben zu können, Geld nach Hause zu schicken, an die Familien. Oft kommen sie allein. Kinder bleiben zurück bei den Großeltern, denn die Eltern müssen arbeiten und können sich nicht so viel kümmern. Und es soll ja nur für kurze Zeit sein.

Berührend ist die Abschiedsszene nach einem Besuch, wenn sich Mutter und Tochter wieder trennen müssen. Es ist ja nur noch bis zum Ende der Schulzeit, dann könne die Tochter nach Deutschland kommen, um zu studieren. Wie viele Jahre sind dann schon ins Land gegangen?

Man lebt fürs Wochenende, für Party und Feiern. Man arbeitet im wahr gewordenen Schokoladentraum, in der Dortmunder Schokoladenfabrik, die es in Brackel gegeben hat und deren Reste erst vor knapp zwei Jahren abgerissen wurden. Vielleicht doch kein Traumjob, denn es ist Akkordarbeit am Fließband, die in einer eindringlichen Szene dargestellt wird.

Von Arbeitskämpfen und neuen Herausforderungen

Zwischendurch werden Arbeitskämpfe ausgetragen. Die jugoslawischen Frauen verdienen weniger als ihre Männer – bei gleicher Arbeit. Und alle verdienen weniger als die deutschen ArbeiterInnen.

Die Migrationsgeschichte geht weiter. Auf die „Gäste“, die schon lange in Deutschland leben und hier auch Familien gründeten, folgen Geflüchtete. Anfang der 1990er Jahre bricht das alte Jugoslawien zusammen. Ein Krieg tobt auf dem Gebiet, der die Menschen vertreibt und zu mehreren Nachfolgestaaten führt. So kommen wieder viele nach Deutschland, diesmal um Schutz zu suchen, und auch etliche von ihnen bleiben.

Balkansoul im Fletch Bizzel. Links im Bild Jasmina Music, rechts Sara-Una Hujic. Foto: (c) Martina Bracke
Balkansoul im Fletch Bizzel. Links im Bild Jasmina Music, rechts Sara-Una Hujic. Foto: (c) Martina Bracke

Fragen nach Heimat, Dualität, dem Brückenbauen und dem Nicht-Vergessen, woher man kommt, werden aufgeworfen. Das Stück, konzipiert von der künstlerischen Leitung des Kollektivs, Jasmina Musić, die mit Sara-Una Hujic auch spielt, behandelt viele Facetten und erzählt Geschichten aus mehreren Generationen. Es basiert auf realen Interviews mit hier lebenden GastarbeiterInnen und MigrantInnen und verwebt deren Lebensgeschichten untereinander und mit eigenen Erfahrungen der Darstellerinnen, denn auch sie stammen in erster oder zweiter Generation vom Balkan.

Manchmal wünscht man sich, die einzelnen Geschichten besser verfolgen zu können, denn die Fäden verwirren sich gelegentlich. Vielleicht sind es aber auch zu viele Fäden, die in einer zu kurzen Stunde entrollt werden – so bleiben einige lose Enden übrig.

Aufgebrochen wird das Bühnengeschehen durch Foto- und Videosequenzen des Künstlers Timo Vogt, ergänzt um nachgestellte Tagesschau-Nachrichten, die auf der Leinwand inszeniert werden. Anekdoten vom Dalai Lama, den man „vielleicht“ bekocht hat, und von „Kloppo“, Jürgen Klopp, den man „ganz bestimmt“ bekocht hat, lockern das Stück stellenweise auf – ebenso wie Erinnerungen an die Satellitenschüssel auf dem Balkon, die man als Kind ausrichten musste. Noch ein kleines bisschen nach …

Balkansoul – die Seele des Balkans

Live und kraftvoll singen die Darstellerinnen, vor allem Jasmina Musić, ihre Lieder. Mit Begeisterung wird die Musikrichtung „Sevdalinka“, kurz „Sevdah“, aus Bosnien – ansatzweise vergleichbar mit dem portugiesischen „Fado“ – eingebracht. Die musikalische Leitung lag bei Dixon Ra, der am Theater Fletch Bizzel schon einige Inszenierungen begleitet hat.

Ein letzter Satz nach Max Frisch bleibt in der Luft hängen: „Es wurden Arbeitskräfte gerufen, aber es kamen Menschen.“

Und auf der Bühne liegen ein langer Weg in Form einer Stoffbahn und ein paar Stücke Schokolade.

Weitere Spieltermine:
Freitag, 7. Februar, 20 Uhr
Samstag, 22. März, 20 Uhr

Theater Fletch Bizzel
Humboldtstr. 45
44137 Dortmund

Mehr unter www.fletch-bizzel.de




Ironisch, bissig, kultig: Geierabend 2025

Satire, Musik und Ruhrpott-Charme in Bestform: Der Geierabend ist wieder da – und begeistert 2025 unter dem Motto „Zart wie Kruppstahl“ mit einem scharf gewürzten Mix aus Humor, Gesellschaftskritik und musikalischem Können. In den historischen Hallen der Zeche Zollern feierte das alternative Karnevalsspektakel am 09. Januar seinen Auftakt und bewies erneut, warum es zu den kulturellen Highlights Dortmunds zählt.

Ein Programm mit Biss und Aktualität

Unter der Regie von Björn Jung und Joey Gerome Porner lieferte das Ensemble eine gut ausbalancierte Mischung aus satirischen Kabarettnummern, musikalischen Highlights und Ruhrgebiets-Slang, die das Publikum auf eine emotionale Achterbahnfahrt mitnahm. Politische und gesellschaftliche Themen wurden mit scharfer Zunge und treffsicherem Humor aufgegriffen: der Selbstoptimierungswahn, die Folgen des neuen Cannabisgesetzes, die Deutsche Bahn, Polizeikürzungen, aber auch der drohende erneute Einfluss von Donald Trump. Besonders beeindruckte eine melancholisch-komödiantische Nummer „Lady Liberty Lost 2.0“, die zwischen Lachen und Nachdenklichkeit balancierte.

Diese Session musste der Steiger (Martin Kaysh) ohne den Präsidenten auskommen. (Foto: (c) Anja Cord)
Diese Session musste der Steiger (Martin Kaysh) ohne den Präsidenten auskommen. (Foto: (c) Anja Cord)

Musikalisch stark begleitet von Stefan „Pele“ Götzer und seinen Kollegen Oleg Bordo, Bettina Hagemann und Andreas Ruhnke, bot das Programm ein breites Spektrum von Rock und Pop bis zu Musical. Die Arrangements waren dabei nicht nur unterhaltsam, sondern auch musikalisch hochwertig.

Neue Gesichter und bewährte Favoriten

Ein besonderer Blickpunkt in diesem Jahr war der Neuzugang Patrick Dollas. Mit seinem komödiantischen Talent und einer Elvis-Tanzeinlage zog er die Aufmerksamkeit auf sich. Ob als „Bundesadler, der auspackt“ oder in anderen Rollen – Dollas zeigte, dass er das Ensemble bereichert.
Neben ihm sorgten altbewährte Charaktere wie Martin Kaysh als charmant-ironischer „Steiger“, Sandra Schmitz als prollige Ruhrpott-Mama oder Silvia Holzhäuser als überkorrekte Frau vom Ordnungsamt für die gewohnt humorvolle Stimmung. Ein schmerzhafter Verlust war jedoch die Abwesenheit des langjährigen „Präsi“ Roman Henri Marczewski aus gesundheitlichen Gründen, dem das Publikum Genesungswünsche schickte.

Fantasievolle Inszenierung mit regionalem Flair

Wie jedes Jahr präsentierte der Geierabend eine neue Partnerstadt. 2025 fiel die Wahl auf Datteln, die als „Stadt der Wasserstraßen“ in einem augenzwinkernden Musical gewürdigt wurde. Neben der fantasievollen Kostümgestaltung und den beeindruckenden Choreografien trugen diese regionalen Anspielungen dazu bei, den typischen Ruhrgebiets-Charme des Programms zu bewahren.
Eine Besonderheit bleibt die Verleihung des „Pannekopp-Ordens“, für den das Publikum abstimmen darf. Nominiert sind 2025 Hans-Joachim Watzke, Geschäftsführer des BVB, wegen seines Sponsoringvertrags mit dem Rüstungskonzern Rheinmetall, und Prof. Ursula Gather, die mit ihrem umstrittenen Projekt „Kunst statt Kollegen“ Schlagzeilen machte. Bei der Premiere unterlag Watzke. Aber ob er am Ende doch die Nase vorn hat? Die weiteren Abstimmungen werden es zeigen.

Fazit: Der Geierabend bleibt Kult

Der Geierabend 2025 überzeugt mit einem scharfzüngigen, abwechslungsreichen Programm, das politischen Biss und musikalisches Können vereint. Die perfekte Balance aus Humor und Gesellschaftskritik macht die Show zu einem Muss für alle Freunde des alternativen Karnevals.
Weitere Aufführungstermine bis zum 04. März 2025 finden in der Zeche Zollern statt. Infos unter www.geierabend.de. Tickets sind bei allen Eventim-VVK-Stellen erhältlich.

Ein Musical über Datteln: (v.l.n.r.) Patrick Dollas, Silvia Holzhäuser, Angelo Enghausen Micaela und Sandra Schmitz. Foto: Anja Cord
Ein Musical über Datteln: (v.l.n.r.) Patrick Dollas, Silvia Holzhäuser, Angelo Enghausen Micaela und Sandra Schmitz. Foto: Anja Cord

 

Die Tücken der Selbstbedienungskasse. mit dem Ensemble des geierabends. (Foto: Anja Cords)
Die Tücken der Selbstbedienungskasse. mit dem Ensemble des geierabends. (Foto: Anja Cord)

 

Auch die Polizei in NRW muss sparen. (v.l.n.r.) Patrick Dollas und Silvia Holzhäuser. (Foto: Anja Cord)
Auch die Polizei in NRW muss sparen. (v.l.n.r.) Patrick Dollas und Silvia Holzhäuser. (Foto: Anja Cord)

 

Jessica Schmottke (Sandra Schmitz) durfte natürlich auch nicht fehlen. (Foto: Anja Cord)
Jessica Schmottke (Sandra Schmitz) durfte natürlich auch nicht fehlen. (Foto: Anja Cord)

 

Ebenfalls ein fester Bestandteil: Oppa (Angela Enghausen Micaela) und Nicki (Sandra Schmitz). Foto: Anja Cord
Ebenfalls ein fester Bestandteil: Oppa (Angela Enghausen Micaela) und Nicki (Sandra Schmitz). Foto: Anja Cord

 

Hat eine Stelle in Dortmund gefunden. Miss Liberty (Sandra Schmitz) flieht wieder vor Trump. (Foto: Anja Cord)
Hat eine Stelle in Dortmund gefunden. Miss Liberty (Sandra Schmitz) flieht wieder vor Trump. (Foto: Anja Cord)

 




Der Tag nach dem Tag, an dem niemand starb – Premiere im Studio

Auf der Bühne erleben wir Umut. Die Hoffnung. „Meine Hoffnung“, wie Umuts Mutter zu ihrem Sohn immer sagte. Doch Umut ist nicht der erhoffte Sohn, der in das traditionelle Familienbild passt. Umut ist die Frau, die einmal ein Sohn war, sich aber nicht wie einer fühlt. Sie lebt in Istanbul, schlägt sich durch und geht anschaffen. Umut ist die Frau, die die Hoffnung hat, in ihrer Familie und Gesellschaft so akzeptiert zu werden, wie sie ist.

Ein Monolog voller Intensität

Umuts Geschichte, Träume und Sehnsüchte werden in einem abwechslungsreichen Monolog auf der Bühne des Studios im Schauspielhaus sichtbar. Ein Schminktisch mit mehreren Perücken, eine Couch und ein Fenster nach draußen schaffen verschiedene Spielsituationen. Eine Leinwand im Hintergrund bietet Raum für Einspielungen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer im ausverkauften Haus werden teilweise direkt angesprochen.

Umut erzählt von ihrer Kindheit, Besuchen bei der Familie, dem ersten Kuss, Freiern, die zahlen oder nicht zahlen, Menschen, die sie schützen, und von Gewalt. Das Stück spielt in Istanbul, einer traditionell geprägten Gesellschaft, in der Transsexuelle auf Anerkennung hoffen. Doch bei Demonstrationen und Pride-Paraden werden Wasserwerfer und Schlagstöcke eingesetzt. Dokumentarische Sequenzen zeigen Paraden in den Straßen Istanbuls, Menschen mit Regenbogenfahnen, die von harten Wasserstrahlen verfolgt werden. Ein Aushang vor dem Theatersaal weist darauf hin, dass verstörende Bilder gezeigt werden.

Güler Işik, Regisseurin Füsun Demirel und Şirvan Güler nach der premiere im Studio des Schauspielhauses Dortmund. (Foto: (c) Martina Bracke)
Güler Işik, Regisseurin Füsun Demirel und Şirvan Güler nach der premiere im Studio des Schauspielhauses Dortmund. (Foto: (c) Martina Bracke)

Auch der Titel „Der Tag nach dem Tag, an dem niemand starb“ verdeutlicht, dass Gewalt allgegenwärtig ist für transsexuelle Menschen. Und diese Gewalt fordert Opfer. Oft, so Umut, werden Täter nicht zur Verantwortung gezogen. Sie töten, wie man „eine Fliege erschlägt“.

Ein Monolog, gespielt von zwei Schauspielerinnen (Güler Işik und Şirvan Güler), ermöglicht Interaktion und verleiht dem Text Dynamik. Die beiden geben Umut eine Mischung aus Leichtigkeit und überbordendem Lebens- und Liebeshunger. Dies zeigt sich in musikalischen Sequenzen und Tänzen, die das Publikum zum Mitklatschen und Mitsingen animieren.

Eine eindringliche Inszenierung

Die Inszenierung von Füsun Demirel, einer türkischen Theater- und Filmschauspielerin, die in Italien Schauspiel studiert hat, funktioniert hervorragend. Sie spricht Gefühle an, nutzt den Raum für den dialogischen Monolog und bindet filmische Teile nahtlos ein. Die beiden Darstellerinnen, die ihr viertes Stück auf die Bühne bringen, spielen engagiert und souverän. Dafür erhalten sie am Ende stehende Ovationen.

Die Vorlage stammt aus dem Jahr 2012 und wurde von der türkischen Theaterautorin und Schauspielerin Ebru Nihan Celkan geschrieben. Geboren 1979 in Istanbul, widmet sie sich seit 2005 dem Theater, schreibt, spielt, inszeniert und gibt Workshops. Sie war Teil eines UN-Programms zur Förderung der Frauenrechte. Das Stück wurde in der Türkei an mehreren Theatern gespielt und ist in einem Sammelband des Neofelis-Verlags auf Deutsch erhältlich.

In Deutschland wurden die Aufführungen am Wochenende im Schauspielhaus Dortmund vermutlich erstmals gezeigt – in türkischer Sprache mit deutschen Übertiteln. Diese Übertitel waren bei der Premiere jedoch nicht immer synchron, was es dem nicht türkischsprachigen Publikum erschwerte, dem Geschehen zu folgen.

Die beiden Aufführungen bleiben vorerst die einzigen. Die Produktion wurde vom Migrantinnenverein Dortmund in Kooperation mit dem Taranta Babu e. V. und dem Dietrich-Keuning-Haus realisiert, gefördert durch das Programm „Transkulturelle Impulse“ des NRW-Landesbüros Darstellende Künste. Ayşe Kalmaz, Vertreterin des Migrantinnenvereins, der mit Theaterstücken Frauenperspektiven und Frauenrechte in den Fokus rückt, zeigte sich jedoch zuversichtlich, dass eine Wiederaufnahme 2025 bei einem queeren Festival möglich ist.

Es bleibt zu wünschen, dass noch mehr Menschen Umuts Geschichte erleben und die Hoffnung weitertragen, dass alle Teile der Gesellschaft sichtbar, wahrgenommen und akzeptiert werden. Denn: „Schau, meine Augen sind nicht anders als deine. Mein Lachen ist voller Freude… Ich bin Umut.“ Eine Hoffnung.

 




Der Geierabend 2025 wird „Zart wie Kruppstahl“

Am 9. Januar 2025 startet der Ruhrpottkarneval mit seinem neuen Motto „Zart wie Kruppstahl“ in die kommende Session. Bis zum 4. März, dem Tag vor Aschermittwoch, werden die Geier in 34 Vorstellungen ihr satirisches Programm auf die Bühne bringen. Doch eine besondere Herausforderung wartet: ein Sonntag mitten in der Session wird gleichzeitig Tag der Bundestagswahl sein.

Neue Gesichter beim Geierabend 2025

Für Fans gibt es eine schlechte Nachricht: Der Präsident alias Roman Marczewski muss aus gesundheitlichen Gründen pausieren. ars tremonia wünscht ihm alles Gute. Dennoch bringt die Session 2025 auch frischen Wind.

Ein neues Gesicht ist Stefan „Pele“ Götzer, der das musikalische Konzept übernimmt. Sein Repertoire reicht von Punk über Musical bis hin zu selbstgeschriebenen Schlagern. Bekannt wurde er durch seine Band Astra Kid und als Theatermusiker. Martin Kaysh alias „Steiger“ lobt ihn: „Pele bringt alle Voraussetzungen mit: Er stammt aus der Gegend, kennt die Themen und hat ein großes Verständnis über die Musik hinaus.“

Proben für einen Sketch zum 50. Jahrestag der immer noch nicht überwundenen Gebietsreform in NRW. Auf der Bühne (v. li.) Patrick Dollas, Sebastian Thrun, Silvia Holzhäuser, -Angelo Enghausen Micaela und Sandra Schmitz.
Proben für einen Sketch zum 50. Jahrestag der immer noch nicht überwundenen Gebietsreform in NRW. Auf der Bühne (v. li.) Patrick Dollas, Sebastian Thrun, Silvia Holzhäuser, – Angelo Enghausen Micaela und Sandra Schmitz.

Zudem verstärkt Patrick Dollas das Ensemble auf der Bühne. Dollas, der zuvor lange beim Schlosstheater Moers aktiv war, zeichnet sich durch seine Vorliebe für skurrile und satirische Projekte aus. Auch hinter den Kulissen gibt es Verstärkung: Die erfahrenen Autoren Thomas Rogel und Markus Hennig, bekannt durch ihre Arbeit für Jan Böhmermann, Carolin Kebekus und die heute-show, bereichern das Team.

Satirische Highlights und politische Herausforderungen

Welche Themen hat der Geierabend 2025 im Fokus? Neben internationalen Ereignissen wie der US-Wahl stehen auch regionale Themen im Mittelpunkt. Der BVB, die Gebietsreform von 1975 sowie Sparmaßnahmen bei der Polizei werden satirisch beleuchtet. Ob der Hype um die Dubai-Schokolade aufgegriffen wird, ist noch offen.

Eine besondere Herausforderung stellt die Bundestagswahl am 23. Februar dar – ein Sonntag mitten in der Session. An diesem Tag wird nicht nur gewählt, sondern auch gespielt. Martin Kaysh verkündet: „Wir laden alle ein zur großen Wahlparty auf der Zeche. Wie wir das ins Programm einbinden, wird noch entschieden.“

Spielplan und Tickets finden Interessierte unter www.geierabend.de.

Das Ensemble:

  • Martin Kaysh
  • Sebastian Thrun
  • Silvia Holzhäuser
  • Patrick Dollas
  • Sandra Schmitz
  • Angelo Enghausen Micaela

Regie:

  • Joey Gerome Porner
  • Björn Jung

Musikalische Leitung:

  • Stefan „Pele“ Götzer