Postapokalyptische Einsamkeit – György Kurtágs „Fin de Partie“

„Fin de Partie“ – Endspiel. Neben „Warten auf Godot“ wohl das bekannteste Werk von Samuel Beckett. Unvergessen ist auch die Inszenierung von Kay Voges im Dortmunder Schauspielhaus vor über zehn Jahren mit Frank Genser (Clov) und Uwe Schmieder (Hamm), die auf Tournee durch Europa ging.



Bei der Aufführung im Opernhaus Dortmund am 01. März 2024 handelte es sich um die szenische Deutsche Erstaufführung, beziehungsweise Zweit-Inszenierung der Oper des ungarisch-französischen Komponisten György Kurtág. Dabei vertonte Kurtág nicht den kompletten Text, sondern ausgewählte Szenen und Monologe.

Fin de Partie - (v.l.n.r.) Hamm (Frode Olsen), Clov (Morgan Moody) und Nagg Leonardo Cortellazzi (Foto: (c) Thomas M. Jauk)
Fin de Partie – (v.l.n.r.) Hamm (Frode Olsen), Clov (Morgan Moody) und Nagg Leonardo Cortellazzi (Foto: (c) Thomas M. Jauk)

„Fin de Partie“ schrieb Beckett in den 50er Jahren, als die beiden Großmächte USA und UdSSR mit Nuklearwaffen experimentierten. Ironischerweise ist die Gefahr eines Atomkrieges mit dem Ukraine-Krieg nicht geringer geworden, die Dystopie einer Welt, die durch Nuklearwaffen unbewohnbar wird, ist wieder in den Köpfen der Menschen gelangt.

Welche Art von Katastrophe die Menschheit fast vernichtet hat, lässt Becket offen. Hamm (Frode Olsen) ist einer der wenigen Überlebenden in seinem Haus am Meer. Er ist an einem Rollstuhl gefesselt und kann nicht mehr laufen. Sein Diener Clov (Morgan Moody) steht ihm zur Seite, sein Handicap ist, dass er nicht sitzen kann. Hamms Eltern Nell (Ruth Katharina Peeck) und Nagg (Leonardo Cortellazzi) haben keine Beine mehr und werden von Hamm wie Abfall behandelt. Obwohl sie voneinander abhängig sind, machen die Vier sich das Leben schwer. Selbst als Nell stirbt nimmt niemand Notiz. Später im Stück entlässt Hamm Clov, der letztendlich auch gehen will. Zurück bleibt Hamm, der sich seiner Einsamkeit bewusst wird.

Ein absurdes Theaterstück und ein zeitgenössischer Komponist: Wer Mozart-Arien erwartet oder wilde Handlungsstränge, der wird sicher enttäuscht sein, aber der Rest kann sich auf ein intensives Kammerspiel und ein Orchester, das kammmusikartig zusammenspielt, freuen. Denn Kurtág benutzt das große Orchester nicht für überladene Gesten, sondern lässt spannende Kombinationen erklingen, die zu dem Endzeit-Stück passen. Die Musik ist ein klanglicher Minimalismus, der aber in den Monologen manchmal von arien-haften Elementen durchbrochen wird.

So ein besonderes Stück verdient auch eine besondere Inszenierung. Regisseur Ingo Kerkhof lädt die BesucherInnen auf die Bühne. So sitzen alle fast direkt bei den SängerInnen und können beinahe den grünen Rasen betreten, der den Ort der Handlung begrenzt. Erst dahinter befindet sich hinter einem Gaze-Vorhang das Orchester unter der Leitung von Johannes Kalitzke.

Aber im Mittelpunkt stehen die SängerInnen, vor allem Frode Olsen und Morgan Moody, die als Hamm beziehungsweise Clov den größten Anteil haben. Olsen singt und spielt sehr eindringlich den Hausherrn im Rollstuhl, der letztlich erkennen muss, dass die alte hergebrachte Struktur gescheitert ist. Auch Moody spielt die Rolle des Clov, der gefangen ist zwischen Loyalität und Rebellion mit Bravour. Mit Frode Olsen und Leonardo Cortellazzi (Nagg) sind zwei Mitwirkende der Mailänder Uraufführung Teil der szenischen deutschen Erstaufführung an der Oper Dortmund.

„Fin de Partie“ von Kurtág kam nicht umsonst auf den vierten Platz der größten Werke der klassischen Musik des 21. Jahrhunderts bei einer Umfrage der britischen Zeitung „The Guardian“. Daher ist es (nicht nur) für Liebhaber klassischer zeitgenössischer Musik ein Muß.

Weitere Termine finden Sie unter: https://www.theaterdo.de/produktionen/detail/fin-de-partie/




Kritischer Kunstblick auf Konflikte und die Nutzung von Sprache

Im Dortmunder U ist im Schaufenster des Museums Ostwall auf der Ebene 5 vom 01.03. bis zum 16.06.2024 die Ausstellung „Lautfiguren“ des israelischen Multimediakünstlers Dani Gal zu sehen und erleben.



Gal ist 1975 in Jerusalem geboren und lebt seit längerer Zeit in Berlin.

In seinen Arbeiten setzt sich der Künstler mit der Beziehung zwischen Bild, Ton und Text bei der Konstruktion eines kulturellen Gedächtnisses und dessen medialen Verbreitung auseinander. Wer wird daran gehindert, seine Geschichte zu erzählen? Aus welcher Position heraus wird gesprochen? Wie wirken sich unterschiedliche Voraussetzungen auf die Bedeutung des Gesagten aus und was hat das für Folgen? Er „spielt“ und speziellen Arrangements mit Video, Sprache und Musik.

In die Arbeit „The Shooting of Officer” (nach einem Buch über fatale Missverständnisse in der Luftfahrtkommunikation) etwa bekommt der Satz des Arbeitstitels in einer Leuchtfigur je nach Betrachtungswinkel eine ganz unterschiedliche Bedeutung.

Das Werk „Personal Curves“ (Personalkurven) mit 35 großen Messingformen an einer schwarzen Wand gehören zu den noch nie gezeigten neuen Arbeiten Dani Gals in der Ausstellung. Sie geht auf die „Personal Curves“ des Leipziger Phonetikers und Linguisten Eduard Sievers aus dem Jahr 1915 zurück.

Die im Original kleineren, von Menschen in zwei Händen gehaltenen Messingdrahtformen, sollen sich während diese den Text (damals von Schiller) lasen, angeblich in der intendierten Tonalität und Betonung des Autors angepasst haben. Die Frage der Belegbarkeit bleibt unbeantwortet.

Der neue Kurzfilm „Three Works for Piano” (2020) beleuchtet kritisch die Rolle des Schweigens, Verstummens und des Zuhörens in politisch gewollten nationalen Narrativen.

Das Setting des Videos bildet ein „Café“, in dem ein Interview nachgestellt wird. Die Geschichte beruht auf einem wahren Fall. Ein ehemaliger Soldat der israelischen Armee beteuert nicht seine Unschuld, sondern gibt sich dort explizit die Schuld an einem brutalen Vorfall in Hebron gegen einen Palästinenser. Er berichtet, dass ihm von seinem Vorgesetzten und der Öffentlichkeit nicht geglaubt wurde.

Unterteilt wird das Interview durch die eindringlich lebendige Rekonstruktion dreier historischer Klavieraufführungen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts. 1. John Cages Werk „4‘33“ (Ende der 1970-iger Jahre in Tel Aviv). Dort wurde die beabsichtigte Stille der Arbeit durch spontane Darbietung eines nationalistischen Liedes durch das israelische Publikum unterbrochen.

2. Die Konfrontation des Publikums mit einer geladenen Pistole durch den radikalen Pianisten George Antheil (Budapest 1923) oder 3. Der ersten dokumentierten Kunstperformance einer Klavierzerstörung durch die Wiener Gruppe 1959. Alles vermittelt durch Zeitzeugen.

Ein Vorhang (L’inhumaine -Die Unmenschliche) mit kubistischen Motiven (eine Requisite aus der Konzertszene mit Antheil aus Gals Film) unterteilt den Ausstellungsraum.

Davor platziert ist ein interessantes Möbelstück mit zwei nebeneinander liegenden Schallplattenspieler samt Schallplatten. Die Mixed-Media Arbeit und Ton (2024) mit dem Titel „Furniture Music Etc. Ect.“ konfrontiert die französische „Möbelmusik“ (Musik im Hintergrund) des Komponisten Erik Satie (1866 – 1925) mit der „Furniture Music Etcetera“ von John Cage in zufälligen Variationen.

An der Seite in Marmor gemeißelt steht als Mahnung aus den 1930iger Jahren in den Bars von Italien „Politische Diskussionen sind verboten“.

Die Ausstellung wird am 29. Februar 2024 um 18.30 Uhr eröffnet.

Am Mittwoch, dem 17.04.2024 findet von 17.00 – 18.00 U eine  spezielle Führung durch Kuratorin Stefanie Weißhorn-Ponert statt.

Am Mittwoch, dem 15.05.2024 ist von 18:00 – 20.00 Uhr ein Filmscreening mit Dani Gal vorgesehen. Dort wird sein neuester Film „Dark Continent“ (2023) – der sich mit kolonial geprägter Geschichte beschäftigt – vorgestellt.




Theater im Depot als Experimentallabor

Ein ungewöhnliches Stück hatte im Theater im Depot am 23. Februar 2024 sein Dortmund-Debut: Alles in Strömen von Polar Publik. Eine Mischung zwischen akustischem Experimentallabor, philosophisches Thema und Musik.



Worum ging es bei „Alles in Strömen“? Im Mittelpunkt stehen die Theorien von Hartmut Rosa und seinen Resonanzen. Im Zentrum von Rosas Resonanztheorie steht der Begriff der Resonanz. Resonanz entsteht, wenn eine Person eine tiefe und positive Beziehung zu etwas oder jemandem entwickelt. Dies kann sowohl in Bezug auf Objekte, wie Kunstwerke oder Natur, als auch in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen geschehen. Wenn eine Person resonante Beziehungen eingeht, fühlt sie sich verstanden, geschätzt und erlebt eine Art „Schwingung“ zwischen sich selbst und der Welt.

Da Resonanzen im akustischen raum entstehen, waren im Theatersaal viele beleuchtete Snaredrums zu sehen, die auf die Musik von Oxana Omelchuk und Axel Lindner leicht zu vibrieren begannen.

Die Resonanztheorie von Rosa versuchten vor allem Fiona Metscher (bekannt aus Produktionen von trafique) und Jimin Seo dem Publikum näherzubringen. Denn sie teilt sich in vier Abschnitte auf: ein gegenüber, Selbstwirksamkeit, Transformation und Unverfügbarkeit. Zusätzlich hatten die BesucherInnen auch Kopfhörer bekommen, auf denen Geschichten erzählt wurden, die für die erzählende Person eine Art von Resonanz gewesen war.

Trotzdem wirkte die Mischung von Philosophievorlesung, akustischen Experimenten und Musik etwas zu verkopft. Begriffe wie „Selbstwirksamkeit“ oder „Transformation“ blieben zu abstrakt. Dennoch ist der Versuch, ein Theaterstück mit Experimenten (die auch mal nicht funktionieren können) aufzuwerten, keine schlechte Idee.




Borcherts Nachkriegsdrama expressiv auf die Bühne gebracht

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) Dortmund präsentierte am 23.02.2024 die Premiere des Nachkriegsdramas „Draußen vor der Tür“ (ab 14 Jahre) von Wolfgang Borchert (1921-1947) unter der Regie von KJT-Intendant Andreas Gruhn. Fast das gesamte Ensemble war an der Aufführung des schweren Stoffes beteiligt. Das Bühnenbild war düster gehalten, und auf der großen Wand wurde Videosequenzen (von Stalingrad, der Elbe und andere) im Hintergrund projiziert.



Das Drama zwischen Traum und Wirklichkeit wurden mit dem speziellen Kostümfundus aus der damaligen Zeit unterstrichen. Die Elbe bekam in Persona von Sar Alina Scheer im grünen zotteligen Kostüm einen selbstbewussten Auftritt. Verletzungen als Folge des Krieges wurden dem Publikum schonungslos gezeigt.

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Auch Gott (Rainer Kleinespel) weist jede Verantwortung für den Krieg und das Elend von Beckmann  (Jan Westphal) zurück. (Foto: Birgit Hupfeld)
Auch Gott (Rainer Kleinespel) weist jede Verantwortung für den Krieg und das Elend von Beckmann (Jan Westphal) zurück. (Foto: Birgit Hupfeld)

Kriegsheimkehrer Beckmann, synonym für all die physisch und psychisch traumatisierte Soldaten, kehrt aus der Gefangenschaft nach Hamburg zurück.

Nichts ist dort mehr wie es war. Seine Frau hat einen neuen Mann, sein kleiner Sohn ist tot, sein Vater war ein Nazi und hat sich mit seiner Mutter selbst „entnazifiziert“, also umgebracht. Niemand will mehr etwas von dem Kriegsgrauen und Schuld hören. Das Leben muss weitergehen. Er fühlt sich als Fremder „draußen vor der Tür“.

Beckmann, intensiv gespielt von Jan Westphal, mit Gasmaskenbrille, schäbigen Soldatenmantel und kurzgeschorenen Haaren, möchte sich verzweifelt mehrfach im Traum das Leben nehmen. Der „Andere“ als lebensbejahend- optimistischer Jasager, wurde kongenial von Thomas Ehrlichmann dargestellt. Dieser versucht mit aller Energie, Beckmann zum Weiterleben zu bewegen. Ein Rat ist, die Verantwortung und damit Schuld an dem gewissenlosen Oberst (Andreas Ksienzyk) abzugeben. Der kann mit dem Begriff „Verantwortung“ nichts anfangen. Das geht natürlich nicht. Auch Gott (Rainer Kleinespel) kann nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Im Gegensatz zu den anderen Personen der Handlung kann Beckmann nicht mit seiner Verantwortung und Schulgefühlen als ehemaliger Unteroffizier ruhig sein Leben fortsetzen. Glaube, Liebe, Hoffnung schwinden immer mehr. Auch der kleine Funken Menschlichkeit, die er beim fremden Mädchen (Annika Hauffe) spürt, bleibt nur ein ganz kurzer Lichtblick. Es ist die Frau des Einbeinigen, deren Verlust des Beines und spätere Freitod er sich schuldig fühlt. Der einzige Kriegsgewinnler ist der fette Tod (Andreas Ksienzyk).

Wie soll es weitergehen? Was gibt noch einen Sinn? Er bekommt keine Antworten.

Eine starke Leistung des gesamten KJT-Ensembles. Den Schauspieler*innen gelang es, sich glaubhaft in verschiedenen Rollen und Charaktere hineinzuversetzen, die sie auf die Bühne bringen mussten.

Ein Bühnenstück von (leider) zeitloser Aktualität, wie die gegenwärtigen Kriege und Spannungen zeigen. Es kann eine Mahnung sein, sich nicht für terroristische Anschläge oder Angriffskriege instrumentalisieren zu lassen.

Wie Wolfgang Borchert es in einem Prosatext so deutlich sagt: Dann gibt es nur eins. Sag nein!

Infos zu weiteren Aufführungsterminen erhalten Sie wie immer unter www.theaterdo.de oder Tel.: 0231/ 50 27 222




Jugendclub 18Plus-Projekt – „Nichts. Was im Leben wichtig ist“

Im Studio des Dortmunder Schauspiels hatte der neue Jugendclub 18Plus am 22.02.2024 mit ihrer Projektarbeit „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ von Janne Teiler (nach der deutschen Übersetzung von Sigrid C. Engeler. Bühnenfassung Andreas Erdmann) seine Premiere. Regie führte Sarah Jasinszczak.



Das Bühnenbild war mit sechs großen roten Buchstaben „NICHTS“ und einem Papierberg im Hintergrund von Sandra Kania nicht nur auffällig gestaltet, sondern die einzelnen Buchstaben konnten auch multifunktional von den acht schauspielenden Personen (18–20 Jahre) bei der Aufführung genutzt werden.

Jugendclub18Plus. Simon Thomae, Sarah Gißübel, Philo Schwippert, Valdrina Jusufi, Lisa Winkelmann, Louis Koppelkamp, Stella Hanke, Ari Trapani
Foto: (c) Birgit Hupfeld

Die Geschichte ist in einer Kleinstadt in Dänemark angesiedelt. Der Junge Pierre Anthon sträubte sich schon damals in der achten Klasse gegen jede Art von Bedeutung. Er konfrontierte seine Mitschüler*innen von einem Pflaumenbaum aus mit logisch scharfen Argumenten, die das tradierte (kapitalistische) Wertsystem provokativ in Frage stellte. Die Altersgenossen wollten ihn schließlich mit einem „Berg aus Bedeutung“ in einem Sägewerk vom Gegenteil Überzeugung. Jeder und jede von ihnen musste einen Gegenstand von größter persönlicher Bedeutung ablegen. Der oder die Opfernde durfte festlegen, wer als nächstes welches Opfer zu bringen hatte. Die Situation eskalierte immer mehr bis zum schrecklichen Ende…

Acht Jahre später vergeht immer noch kein Tag, an dem die ehemaligen Schüler*innen nicht daran denken und das Geschehen für das Publikum die Vorgänge nacherzählen.

Als Ich-Erzählerin Agnes (Stella Hanke) hatte neben Pierre Anthon (Louis Koppelkamp) dabei eine besondere Funktion. Die sechs anderen Schauspieler*innen hatte stellten die ihnen zugeordneten unterschiedlichen Charaktere ebenfalls glaubwürdig dar. Eindrucksvoll auch die Szenen im Zeitraffer. Das Studio mit seiner Nähe zum Publikum war genau der richtige Ort für das Bühnenstück. Es wurde auch Life-Musik von Simon Thomae in seiner Rolle als ehemaliger Mitschüler Jan-Johan (Gitarrist) gespielt.

Wegen seiner nihilistischen Aussagen war der Roman umstritten.

Die Fragen nach dem Sinn des Lebens sind gerade heute wie schon damals von existentieller Bedeutung. Ein wichtiges Thema für die junge Bühne in unserer Zeit.

Sinn in seinem begrenzten Leben muss jeder Einzelne selber suchen und finden. Wir haben nur das Eine.

Informationen zu weiteren Aufführungsterminen erhalten Sie wie immer unter www.theaterdo.de oder Tel.: 0231/50 27 222




Überarbeitetes Handlungsballett voll Dynamik und Esprit

„Der Traum der roten Kammer“ in einer Neufassung von Xin Peng Wang

Ballettintendant Xin Peng Wang hat in seinem zwanzigsten Jahr in Dortmund sein persönlichstes Handlungsballett, „Der Traum der roten Kammer“ (Musik Michael Nyman), nach einem großen historischen chinesischen Roman für das Publikum neu überarbeitet. Aus dem riesigen Werk aus der „Herz seiner Heimat“ mit offenem Schluss hat Xin Peng Wang ein atemberaubendes Ballett mit dem Hintergrund einer unglücklichen Liebesgeschichte und über dreihundert Jahre chinesische Geschichte choreografiert. Ars tremonia war am 16.02.2024 dabei.



Grandios mit der emphatischen und dynamischen Musik von Michael Nyman begleitet wurde das Handlungsballett von der Dortmunder Philharmoniker unter Leitung von Olivia Lee-Gundermann.

Daria Suzi, Simon Jones, Amanda Vieira, Ensemble, Statisterie
Foto: (c) Leszek Januszewski 
Daria Suzi, Simon Jones, Amanda Vieira, Ensemble, Statisterie
Foto: (c) Leszek Januszewski 

Mit modernen technischen Effekten wurde schon der Prolog (Geschichte des Steins) dargestellt. Die Legende vom Stein, der wegen seiner sperrigen Form nicht für die Pfosten des Himmels genutzt wird und enttäuscht in der Welt des roten Staubs das Schicksal eines Menschen wird.

Pao Yü, ein Sprössling einer mächtigen Kia-Dynastie im China des 17. Jahrhunderts, wird der Legende nach mit einem Zauberstein aus Jade im Mund (Symbol für „das Gute im Menschen“) geboren. Eindringlich wird sein Konflikt zwischen der Liebe zu seiner aus dem verarmten Zweig der Familie stammenden Cousine Lin Dai Yü und der vorgesehenen Vernunftehe mit der Cousine Pao Tschai dargestellt. Die Geliebte ist kränklich, sensibel, geistreich und teilt mit ihm seine Träumereien. Nachdem Pao Yü sich tragisch für die falsche Frau entscheidet, stirbt Lin Dai Yü und Pao Yü wendet sich verzweifelt dem Buddhismus zu. Es folgt der Niedergang der Dynastie.

Es folgt ein rasanter emotionaler Ritt durch über dreihundert Jahre chinesische Geschichte. Eindrucksvolle Bilder erzählen von starren Hierarchien, Riten und Mythen, brutalen Machtwechseln (zum Beispiel der Kulturrevolution)) bis zur die Gegenwart Chinas als Wirtschaftsgigant.

Begleitet wird die Zeitreise von einer Art Modeschau mit farbenprächtigen Kostümen.

Im Epilog sehen wir einen armen Obdachlosen (Widergeburt von Pao Yü?) vor einem alten Baum. Der blüht manchmal im Winter. Menschen gehen zumeist achtlos an ihm vorbei. Man sieht ihn durch die Pforte der Leere verschwinden…

Am Ende ist der Traum der roten Kammer eine Art Metapher als letzte Zuflucht für eine kalte und gesichtslose Gesellschaft des 21. Jahrhunderts

Viel Symbolik, wunderbare Kostüme, einer bis in die wichtigen Nebenrollen mit Esprit und starken Gesten begeisternde Ballett-Company zeichneten die Aufführung aus.

Vor allem Simon Jones als Pao Yü und Samuel Bassler vom NRW Juniorballett als „sein Stein“ überzeugten bei ihrem dynamischen, fast symbiotischen Ballett-Zusammenspiel. Großen Respekt vor dem öfter akrobatisch anmutenden modernen Balletttanz voll Präzision. Das traf auch auf die Rollen der beiden Kontrahentinnen Nin Dai Yü (Amanda Vieira) und Pao Tschai (Daria Suzi) zu.

Infos zu weiteren Aufführungsterminen erhalten sie wie immer unter www.theaterdo.de oder Tel.:0231/ 50 27 222




Experimental Toppings 2024 – Neues aus der Szenischen Forschung

Zum zweiten Mal findet im Theater im Depot das Festival „Experimental Toppings“ statt, eine Zusammenarbeit zwischen dem Studiengang Szenische Forschung an der Ruhr-Universität Bochum und dem Theater. Vom 02. bis 04. Februar 2024 wurden Forschungsstände, Wiederaufnahmen und Neuproduktionen präsentiert.



Leider war es mir nicht möglich, am Freitag die Arbeiten von Mira-Alina Schmidt und Camilia Scholtbach zu sehen, da ich leider auf einem anderen Termin war.

Da „Willkommend“ von Marina Fervenza & Viro sowie „cogito moves“ von Saskia Schalenbach das ganze Festival über liefen, hier ein paar Anmerkungen. Die Video-Installation „cogito moves“ zeigte Scans von menschlichen Gehirnen beim Denken. Lassen sich Gedanken nachweisen und wenn ja, sind sie ein Beweis für meine Existenz?

Für die Audioinstallation „Willkommend“ wurde im Theaterfoyer ein Tisch freigeräumt. Hier erzählten die beiden KünstlerInnen über ihre Erfahrungen in ihrer 3-wöchigen Residenz am Künstlerhaus Helleweg, dazu gab es Stimmen der Bewohner von Versmold und Bockhorst.

Kann man aus Müll Kunst machen? Sicher. Kann man daraus die Zukunft lesen? Vielleicht. Neele Ruckdeschel und Ruth Gordon bildeten das Duo „witches’wednesday“ und ermutigten die BesucherInnen aus dem sammelten Müll eine eigene Skulptur zu errichten, die Ruckdeschel dann interpretierte. Es konnte aber auch ein Sinnbild für die Beliebigkeit von Kunstexpertisen sein…

Nooshin Seifi führte uns BesucherInnen mittles Augenmasken in die Dunkelheit. Gruselige Geräusche, kaum hörbare Gesprächsfetzen brachten uns die Situation von Blinden und Sehbehinderten etwas näher. Seifi ging es im Besonderen um Personen, die durch Gummischosse ihr Augenlicht verloren.

Am Samstagabend überraschte uns Judith Grytzka mit einer frischen Inszenierung von „Lysistrata“. Der antiken Geschichte über einen Sexstreik von Frauen gegen ihre kriegslüsternen Männer. Ich musste erneut feststellen, dass die antiken griechischen Stücke immer noch eine große Relevanz für unser heute haben. An der Performance auf der Bühne waren beteiligt: Marina Fervenza, Lea Maline Hiller und Annalena Volk. Erstaunlich war, dass der Rant über die Lage der Frau (also wie sie zu sein hat) im Stück, fast gleich ist mit der Brandrede, die Gloria gegen Ende im „Barbie“-Film von sich gibt.  

Der Sonntagabend war eine Melange einer realen Figur, Andrew Tate und einer fiktiven Figur aus der Bibel, Samson. Cornelius Heuten und Christian Minwegen verschmolzen beide Figuren zu einer extremen misogynen Figur „Samson Tate“. Die Figure des biblischen Samson ist im laufe der Geschichte sehr unterschiedlich bewertet worden, durch seine letzte Tat, die Zerstörung eines Philistertempels mit Tausenden Toten gilt er auch als Prototyp des Selbstmordattentäters. Andrew Tate ist ein ehemaliger Kickboxer, der in den sozialen Medien durch seine chauvinistischen und frauenfeindlichen Äußerungen zu einer Berühmtheit geworden ist. Heuten und Minwegen verknüpfen beider Lebensläufe aus dem „Buch der Richter“ und dem realen Leben zu einer extrem unsympathischen Figur Samson Tate. Dabei ist ein wichtiger Punkt, dass das Gift, was diese Figur verspritzt, weitere Generationen vergiftet werden.




Die Tür nebenan – Witzig-kluge Beziehungskomödie im Dortmunder U

Das Dortmunder Theater im U hatte am 27.01.2024 wieder einmal  „austroPott“ mit der Premiere des neuen Zweipersonenstück „Die Tür nebenan“ von Fabrice Roger-Lacan (Deutsch von Pamela Knaack) zu Gast.



Viele Menschen haben sicherlich „Der Kontrabass“ oder auch „Kunst“ von „austroPott“ in guter Erinnerung, die immer noch auf dem Spielplan stehen.

In der neuen Komödie leben zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten in enger Nachbarschaft. Sie (Monika Bujinski) ist eine Psychologin, und er (Michael Kamp) in der Werbebranche für den Verkauf von Joghurt zuständig.

Jede Begegnung von ihnen endet schnell in einem Desaster. Anstatt auf dem Hausflur suchen sie im Internet nach der großen Liebe. Ist die möglicherweise nicht weit weg?

Die Protagonisten sind im wahren Leben ein gut eingespieltes Ehepaar und das spürt man auf der Theaterbühne.

Mit viel Witz, ironischen Anspielungen sowie lebendigem Gestik-Mimik Spiel verkörperten sie die beiden Charaktere mit ihren Widersprüchen, Vorurteile und der Suche nach Liebe.

Trotz schlagfertiger und aufreibender Wortgefechte suchen beide immer wieder die Nähe. Dem Publikum werden die Abgründe des modernen Singledaseins gezeigt. Klug, komisch, zwischendurch anrührend und dabei ohne übertriebene Sentimentalität.

Die Musikauswahl und Untermalung wurden passgenau eingesetzt.

Bei den häufigen Bühnenbildwechsel und Verschiebungen wurde den beiden Schauspieler*innen auch physisch einiges abverlangt.

Eine im besten Sinne unterhaltsame Boulevard-Komödie.

Tickets und Infos zu weiteren Aufführungsterminen erhalten Sie unter www.austropott.de oder Tel.: 0231/ 99 320 430




Der Ring des Nibelungen – alle gegen Wotan

Tja, er hat es halt verkackt, der gute Wotan. Dabei hat er doch nur das Beste gewollt. Aber wie heißt es doch so schön: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Dafür bekommt er nun Feuer von allen Seiten. Alberich, Fricka, Brünnhilde, die Kinder der Riesen: Alle haben ein Hühnchen mit Wotan zu rupfen. Denn es ist schon peinlich für einen Gott der Verträge, wenn man sich selbst nicht an Abmachungen hält.



Während es bereits zahlreiche Analysen des Werkes von Richard Wagner gibt, die sich auf die ökonomischen Aspekte des „Rings“ beziehen, so setzt sich Autor Necati Öziri mit den zwischenmenschlichen Dingen auseinander. Intendantin Julia Wissert inszenierte das Stück.

Sarah Quarshie (Erda) und das Ensemble. (Foto: (c) Birgit Hupfeld)
Sarah Quarshie (Erda) und das Ensemble. (Foto: (c) Birgit Hupfeld)

Der Beginn des Stückes ist sehr launig, denn Arda (Tamer Tahan) erklärt erst einmal seinem fiktiven Onkel, was eigentlich die „Nibelungensage“ ist. Schließlich hat er Zweifel, ob er als Gastarbeiterkind und bildungsfern aufgewachsen überhaupt „mitmachen kann“. Nach einer kleinen Zusammenfassung übernimmt Erda (Sarah Quarshie) die Bühne und liest der Menschheit die Leviten, spart dabei auch nicht mit aktuellen Bezügen. „Ihr verschanzt euch auf eurer Burg Walhall hinter hohen Mauern, hinter Zäunen aus Feuer du aus Furcht vor den Heimlosen, die euch heimsuchen, gewährt ihr nur noch den Toten den Eintritt in euer Reich.“

Danach waren die „Götter“ an der Reihe. Alberich (Adi Hrustenović), der als hässlich gebrandmarkte Zwerg machte den Anfang.  Er sprach für die „Einsamen, die Anstrengenden, die Unsympathischen“. Als nächstes sprach die Walküre und Tochter Wotans, Brünnhilde (Nika Mišković). Um Nachschub für Wotans Armee der toten Helden zu sammeln, müssen die Walküren dafür sorgen, „dass die Völker dieser Welt sich weiterhin bekriegen“. Diese Sinnlosigkeit ist sie satt und kündigt an, auf Alberichs Schiff mit den „Verlierern der Geschichte“ zu gehen.

Die Kinder der Riesen, die sich für den Bau der Burg Walhall kaputtgeschuftet hatten und beim Lohn von Wotan betrogen wurden (statt der Göttin der Jugend bekamen sie verfluchtes Gold) forderten von Wotan die Jugend zurück. Die Live-Komponistinnen Isabelle Papst und Maike Küster spielten auf das Schicksal der Gastarbeiter an, die sich in Deutschland und anderen Ländern kaputtgeschuftet hatten.

Auch Wotans Ehefrau Fricka (Antje Prust), auf der Bühne nackt und somit verletzlich,  hatte mit ihm ein Hühnchen zu rupfen, was ihr sichtlich schwerfiel. Denn sie liebt ihn eigentlich immer noch, obwohl er sich von ihr entfernte, wie sie beklagt. Auch die Tatsache, dass Wotan eine Geliebte hat (Brünhilde ist das Kind von Erda und Wotan), macht ihr nicht so sehr zu schaffen wie die Tatsache, dass sie in seinen Augen „verschwindet“, weil sie zu alt geworden ist.

Zum Schluss darf sich Wotan (Alexander Darkow) rechtfertigen. Seine Argumente, er habe schließlich aus dem Chaos etwas aufgebaut, seiner Familie ein Heim geschaffen. Er verhält sich wie der typische „alte, weiße Mann“, der weder seine Fehler eingestehen will, noch akzeptiert, dass sich die Welt gerade verändert. Frustriert, dass seine Arbeit und Mühen nicht von der Nachfolgegeneration gewürdigt werden. Letztlich steckt er „seine“ Welt selbst in Brand.

Julia Wissert gelang ein durch den „Ring“ eine gelungene Inszenierung des alten, germanischen Mythos. Wagner-fern und Dank Öziri auf aktuelle Themen konzentriert. Ragnarök, also die Götterdämmerung, wird kommen und Wotan und die alten Götter und ihre Ordnung hinwegfegen. Sie halten sich leider bis zum Schluss an die Macht und sorgen für Not und Elend. Die angeblichen Verlierer der Weltgeschichte sammeln sich und keine Burg Walhall wird sie aufhalten.

Ein gelungenes Spektakel, auch dank der Livemusik von Isabelle Papst, Maika Küster und Yotam Schlezinger, die die Bühne teilweise ordentlich gerockt haben.

Wer also den „Ring“ mal ohne Wagnerianisches Pathos in weniger Zeit erleben möchte oder überhaupt mal wissen möchte, worum es beim „Ring“ geht, sollte auf jeden Fall eine Vorstellung besuchen.

Infos unter www.theaterdo.de




Operndrama um Treue, Verrat und falsche Heldenmythen

ars tremonia durfte am 19.01.2024 die zweite Aufführung des lyrischen Dramas „La Montagne Noire“ (Der schwarze Berg) in vier Akten und fünf Bildern der französischen Komponistin Augusta Holmès (1847 – 1903) in der Oper Dortmund miterleben.



Diese in Vergessenheit geratene Oper ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Sie ist von einer willensstarken und durchsetzungsfähigen Frau komponiert, die zudem auch noch das Libretto dazu verfasst. Da gibt es nicht so viele.

Anna Sohn (Héléna), Alisa Kolosova (Dara), Opernchor Theater Dortmund
(c) Björn Hickmann
Anna Sohn (Héléna), Alisa Kolosova (Dara), Opernchor Theater Dortmund
(c) Björn Hickmann

Die Regisseurin Emily Hehl ist mit ihrer Inszenierung in die Tiefen der ursprünglichen Fassung dieser Oper mit ihrem Bezug zur slawischen Literatur, epischen Gedichten und slawischen Volksliedern eingedrungen. Denn „La Montagne Noire“ stellt keine rein fiktive Dichtung dar. Symbole und Metaphern spielen eine große Rolle.

Neben der Dortmunder Philharmoniker unter der souveränen Leitung von Motonori Kobayashi wurde deshalb von Anfang an extra eine (blinde) Gusla-Spielerin eingeführt. Die Tradition der Gusla ist hängt unmittelbar mit den alten epischen Volksliedern des Balkans und der Identitätsbildung der Montenegriner zusammen. Durch sie blickt das Publikum wie durch einen Filter auf das Geschehen. Eine wichtige unterstützende Funktion hat wieder einmal der Opernchor Theater Dortmund (und Projekt Extrachor) sowie die Statisterie des Theaters.

Hintergrund bildet der Unabhängigkeitskampf des christlich-orthodoxe Montenegro gegen das (muslimische) Osmanische Reich. Die montenegrinischen Krieger Mirko (Sergey Radchenko) und Aslar (Mandla Mndebele) schwören sich nach erfolgreicher Heimkehr ewige Treue und werden quasi „Blutsbrüder“. Das Ritual wird von dem Gründer der serbisch-orthodoxen Kirche Sava (Denis Velvet) durchgeführt.

Als sich Mirko in die gefangene Türkin Yamina (Aude Extrémo) verliebt, verlässt er seine Heimat. Er schwankt lange zwischen Yaminas orientalischer Verführung und der Loyalität zum Land, Aslar, seiner Verlobten Héléna (Anna Sohn) und Mutter Dara (Alisa Kolosova). Aslar will den Verrat des Bruders nicht hinnehmen, worauf beide am Ende den Tod finden.

Der Nachwelt wird auch Mirkos Tod als „ehrenvoll und heldenhaft im kriegerischen Kampf“ überliefert, obwohl er eigentlich mit seinem Bruder, Nation und Religion gebrochen hat.

Die beteiligten Ensemble-Mitglieder konnten nicht nur durch ihre starken Stimmen überzeugen, sondern konnten sich auch gut in ihre jeweiligen Charaktere und ihre Situation einfühlen.

Das in der vollständigen Opernfassung Yamina als starke und freie Frau überlebt, kann durchaus als Kritik der Komponistin an patriarchalen Strukturen zu ihrer Lebenszeit gesehen werden.

Musikalisch bietet die Oper eine anspruchsvolle Bandbreite von intensiv romantisch-gefühlvoll bis hin zu einem dramatischen Feuerwerk.

Die Komponistin war stark von Richard Wagner beeindruckt und beeinflusst. Das wird etwa an dem sich durchziehenden Gusla-Motiv oder dem relativ großen Pathos-Anteil deutlich.

Infos zu weiteren Aufführungsterminen finden Sie wie immer unter www.theaterdo.de oder Tel.:0231/ 50 27 222