Don Giovanni im 21. Jahrhundert

Don Juan, auf Italienisch Don Giovanni, ist seit Jahrhunderten eine faszinierende Figur unseres kulturellen Erbes. Mit seinem Charme und seinem Erfolg bei Frauen hat er Menschen in verschiedenen Epochen in seinen Bann gezogen. Doch Don Giovanni ist auch eine Figur, die durch ihre rücksichtslos egozentrische Natur und moralischen Grenzüberschreitungen verstört. Mit skrupelloser Manipulation, Verführung und sogar Gewalt setzt er sich über alle Grenzen hinweg.

W.A. Mozarts weltberühmte Oper „Don Giovanni“, von ihm selbst als „dramma giocoso“ (komische Oper) bezeichnet, brachte diese vielschichtige Figur auf die Opernbühne. Das Libretto von Lorenzo Da Ponte verbindet Humor mit tiefen Emotionen und ernsthaften Themen. In den Partituren finden sich sowohl Leichtigkeit als auch dramatische Intensität.

Die neue Inszenierung der Oper, unter der Regie von Ilaria Lanzino, feierte am 18. Januar 2025 im Opernhaus Dortmund Premiere. Lanzino transportiert die zeitlose Figur Don Giovannis in unsere Gegenwart und beleuchtet dabei auch aktuelle gesellschaftliche Fragen.

Drei Generationen Frauen und ein zeitloser Verführer

Musikalisch wurde die Aufführung souverän von den Dortmunder Philharmonikern unter der Leitung von George Petrou begleitet. Ergänzt wurde die Produktion durch die Statisterie Theater Dortmund und den Opernchor unter der Leitung von Fabio Mancini.

Denis Velev, Ks. Morgan Moody, Artyom Wasnetsov, Opernchor Theater Dortmund. (Foto: Björn Hickmann)
Denis Velev (Don Giovanni), Ks. Morgan Moody (Leporello), Artyom Wasnetsov (Komtur), Opernchor Theater Dortmund. (Foto: Björn Hickmann)

Die Rolle des Don Giovanni wurde eindrucksvoll von Denis Velev verkörpert, der mit starker Stimme und einer gelungenen Mischung aus Charme und komödiantischem Talent überzeugte. Sein Diener Leporello, gespielt von Ks. Morgan Moody, stand ihm in Sachen Bühnenpräsenz in nichts nach. Während Don Giovanni in einer charakteristischen Kostümierung auftrat, trugen die anderen Figuren zeitgenössische Kleidung, die den Brückenschlag zur Moderne unterstrich.

Ein zentrales Thema der Inszenierung waren die drei Frauen aus unterschiedlichen Generationen, die alle auf ihre Weise Opfer von Don Giovannis Taten wurden:

  • Zerlina (Sooyon Lee), die junge und unerfahrene Bauernbraut, steckt in einer komplizierten Beziehung mit ihrem eifersüchtigen Bräutigam Masetto (Daegyun Jeong). Ihre Naivität macht sie anfällig für Don Giovannis Verführungskünste.
  • Donna Anna (Anna Sohn), eine etwa 35-jährige Frau und junge Mutter, entgeht zu Beginn des Stücks nur knapp einer Vergewaltigung durch Don Giovanni. Ihr Vater, der Komtur (beeindruckend verkörpert von Artyom Wasnetsov), wird bei dem Versuch, sie zu retten, getötet. In ihrer langjährigen Beziehung zu Don Ottavio (Sungho Kim) fehlt ihr der emotionale Halt, den sie als junge Ehefrau und Mutter dringend bräuchte.
  • Donna Elvira (Tanja Christine Kuhn), Don Giovannis verlassene Ex-Frau, steht mit ihren rund 60 Jahren für eine Frau, die oft von der Gesellschaft als „nicht mehr begehrenswert“ wahrgenommen wird. Doch ihre Entschlossenheit zur Rache zeigt ihre innere Stärke.

Ein besonderes Highlight der Inszenierung war das Ende, bei dem die Frauen gemeinsam als Medusa, einer mythologischen Figur, die selbst Opfer einer Vergewaltigung war und zur Rächerin wurde, auftraten. Die Statue von Medusa, symbolisiert durch die Stimme des Komturs, bildete eine beeindruckende Schlussszene. Don Giovanni, der bis zuletzt uneinsichtig und ungerührt blieb, wurde schließlich in die Hölle gestoßen.

Moderne Akzente und zeitlose Themen

Besonders eindrucksvoll waren die flackernden Leuchtröhren, die während des Höllensturzes eine spannungsvolle und furchteinflößende Atmosphäre schufen. Zudem verdeutlichte die Inszenierung, etwa im anonymen Rahmen des Maskenballs, auch die verborgenen Sehnsüchte und das Machtspiel zwischen den Figuren.

Die musikalischen Leistungen aller Beteiligten – von Solist*innen bis zum Opernchor – begeisterten das Publikum und verliehen Mozarts Werk eine moderne Strahlkraft.

Weitere Aufführungstermine und Informationen finden Sie unter www.theaterdo.de oder telefonisch unter Tel.: 50 27 222.




Null Zucker – Sprache als Schlüssel zur Identität und Verständigung

„Null Zucker“ ist kein Stück über dialektologische Nahrungsvorschläge, sondern eine eindrucksvolle Auseinandersetzung mit Sprache. Wie verändert sich unsere Perspektive, wenn wir eine neue Sprache lernen? Gewinnen wir etwas hinzu, oder verlieren wir auch einen Teil von uns? Sprache ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern auch ein Machtinstrument. Unter der Regie von Tanju Girişken begaben sich die Schauspieler*innen Mouatouz Alshaltouh, Lukas Beeler und Fabienne-Deniz Hammer auf eine spannende Reise durch Worte und Bedeutungen. Die Premiere fand am 17. Januar 2025 statt.

Im Zentrum der Bühne stand eine aufklappbare Box, die zu Beginn des Stücks das WG-ähnliche Zuhause der Hauptfiguren darstellte. Im späteren Verlauf diente sie als Projektionsfläche für Videoclips, in denen Dortmunder*innen ihre Erfahrungen mit der deutschen Sprache schilderten. Gegen Ende des Stückes wurde die Box auseinandergebaut, symbolisch für die Auflösung von Grenzen und Normen.

Drei Figuren, drei Perspektiven

Mouatouz Alshaltouh verkörperte einen Charakter, der aus einem anderen Land kam und sich die deutsche Sprache mit großem Eifer aneignete. „Ich habe alles gelesen – Kassenbons, Packungsbeilagen, Bücher, Briefe – einfach alles“, berichtete er. Doch mit der neuen Sprache kam auch die innere Zerrissenheit: „Ich schäme mich für den Akzent meines Vaters.“ Sein Denken ist in Arabisch verwurzelt, doch sein Ausdruck erfolgt auf Deutsch. Besonders eindrucksvoll war die Aussage: „Wenn ich Kleist spiele, denke ich auf Arabisch, sage den Text aber auf Deutsch.“

Null Zucker: Fabienne-Deniz Hammer, Mouataz Alshaltouh und Lukas Beeler Foto: (Birgit Hupfeld)
Null Zucker: Fabienne-Deniz Hammer, Mouataz Alshaltouh und Lukas Beeler Foto: (Birgit Hupfeld)

Lukas Beelers Figur brachte eine andere Perspektive ein. Als Schweizer stellte er fest, dass auch innerhalb des Deutschen Unterschiede existieren. Schweizerdeutsch unterscheidet sich in Aussprache und Wortschatz erheblich vom Hochdeutschen, wie bei Wörtern wie „Haus“, „Kind“ oder „Ich“. Seine Figur schilderte die Herausforderungen, die gültige Hochdeutsch-Norm zu erlernen, wie sie etwa in Schauspielschulen unterrichtet wird.

Fabienne-Deniz Hammer spielte eine Figur mit türkischem Migrationshintergrund, die jedoch kaum oder kein Türkisch spricht. Im Laufe des Stückes bedauerte sie diese verpasste Chance. Besonders hob sie die Vorzüge der türkischen Sprache hervor, die geschlechterneutral ist – das Personalpronomen „o“ steht für „er“, „sie“ und „es“. Auch andere Sprachen wie Finnisch, Ungarisch, Koreanisch oder Japanisch sind in dieser Hinsicht ähnlich.

Mehrsprachigkeit als Bereicherung

Trotz der ernsten Themen kam der Humor nicht zu kurz. „Null Zucker“ zeigte auf humorvolle Weise, wie Sprache unsere Identität prägt und uns miteinander verbindet. Ein türkisches Sprichwort fasst dies treffend zusammen: „Eine Sprache, ein Mensch. Zwei Sprachen, zwei Menschen.“

Gegen Ende wurde das Publikum aktiv einbezogen. In einer an eine Radioshow angelehnten Szene wurden die Zuschauer*innen gefragt, ob sie mehrere Sprachen sprechen oder eine neue Sprache lernen. Die Premiere zog ein gemischtes Publikum an, das sich nach der Aufführung noch lebhaft über die Thematik austauschte.

Das Stück ist ein eindrucksvolles Plädoyer für die Wertschätzung der Mehrsprachigkeit und ein Appell, die Sprache des anderen zu lernen – als Schlüssel zur Verständigung und zur Wertschätzung kultureller Vielfalt.

Weitere Informationen unter www.theaterdo.de.




Junges Theater um Biedermänner und Brandstifter

Angelehnt an die Tragikomödie „Biedermann und die Brandstifter“ (Uraufführung 1958) von Max Frisch entwickelte das Workshop-Ensemble Fletch Total 16+ unter der Regie von Ulla Riese eine moderne Fassung des Stoffes, die aktueller nicht sein könnte. Die Premiere fand am 17.01.2025 im Theater Fletch Bizzel in Dortmund statt. Musikalisch untermalt wurde die Inszenierung live von einer Band unter der Leitung von Florian Krebs (Keys). Mit dabei waren außerdem Leo Weichert (Bass), Carlotta Räker (Cello und, gemeinsam mit Christian Fischer als Diener sowie Clara Quebbemann als Polizistin, Teil des mahnenden Chors), Andreas Homann (Saxofon) und Fabian Strunck (Drums).

Die Musik bot eine breite Palette von Rock-Pop, Rap, Jazz bis hin zu Country und wurde von den Schauspielenden auf der minimalistisch gestalteten Bühne als zusätzliches Ausdrucksmittel eingesetzt. Bis auf den deutschen Text „Wir bringen euch den Hass“ waren alle Songs in englischer Sprache. Für die kleinen, aber prägnanten Tanzeinlagen zeigte sich Marie Militzer verantwortlich.

Das Workshop-Ensemble Fletch Total 16+. (Foto: Bianca Brauer)
Das Workshop-Ensemble Fletch Total 16+. (Foto: Bianca Brauer)

Wachsamkeit und Widerstand: Zeitlose Botschaften

Das Stück beginnt mit einem Nachspiel. Haarwasserfabrikant Gottlieb Biedermann (Mareike Sieding) und seine Frau Babette (Gianna Cusano) erwachen in der Hölle und müssen sich vor der Presse rechtfertigen. Warum haben sie die Brandstifter gewähren lassen und sie sogar noch bei ihrer Tat unterstützt?

Bezüge zur heutigen Zeit, geprägt von globalen Zerwürfnissen und gesellschaftlichen Spannungen, wurden subtil eingebaut. So fiel beispielsweise der Begriff „Brandmauer“ im Zusammenhang mit der Abgrenzung gegenüber rechten Parteien – ein Ausdruck, auf den man sich ja eigentlich geeinigt habe.

Mareike Sieding überzeugte als Hauptfigur Biedermann, der trotz offensichtlicher Warnzeichen in der Hoffnung, selbst verschont zu bleiben, keinen Widerstand leistet. Die Rolle des Verdrängungsmeisters füllte sie stark und eindringlich aus. Lisa Goltzsche als Brandstifter Josef Schmitz und Levin Burghardt als sein Komplize Eisenring brillierten mit Frauenpower, Humor und einem feinen Gespür für Ironie. Besonders gelungen war ihre Darstellung, wie sie sich in Biedermanns Haus einschmeichelten und ihn für ihre Zwecke einnahmen.

Das Stück macht deutlich, wie notwendig Wachsamkeit, kritisches Denken und mutiger Widerstand gerade in unserer Zeit sind. Alle jungen Schauspielenden boten eine engagierte, frische Leistung und hinterließen einen bleibenden Eindruck.




Balkansoul – Lost (S)heroes

Eine Musik-Theater-Performance des HER.STORY Kollektivs

Nur ein kleines Stückchen Schokolade.

Politische Versprechungen sind oftmals groß, die Bedürfnisse des Einzelnen manchmal eher klein. So beginnt der Abend nach einer kurzen Vorrede mit einem Rückblick auf den Start der neuen Republik Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Folge mit den vielen Versprechen des damaligen Regierungschefs und späteren Staatspräsidenten Tito, unter anderem Wohlstand für alle zu schaffen. In der Menge wünscht sich ein Mädchen nur mal ein kleines Stückchen Schokolade von dem ganzen Glück.

Später geht dieses Mädchen wie viele andere Menschen, darunter viele Frauen, nach Deutschland. Sie kommen über Belgrad, Zagreb, Athen und Stuttgart nach Dortmund. Die Bundesrepublik benötigt Arbeitskräfte. Nach einigen anderen Anwerbeabkommen, z. B. mit Italien, Spanien und der Türkei, wird 1968 das letzte mit Jugoslawien geschlossen. Sie sind GastarbeiterInnen – und sie empfinden sich auch selbst so. Gekommen als Gäste, um etwas Geld zu verdienen, um besser leben zu können, Geld nach Hause zu schicken, an die Familien. Oft kommen sie allein. Kinder bleiben zurück bei den Großeltern, denn die Eltern müssen arbeiten und können sich nicht so viel kümmern. Und es soll ja nur für kurze Zeit sein.

Berührend ist die Abschiedsszene nach einem Besuch, wenn sich Mutter und Tochter wieder trennen müssen. Es ist ja nur noch bis zum Ende der Schulzeit, dann könne die Tochter nach Deutschland kommen, um zu studieren. Wie viele Jahre sind dann schon ins Land gegangen?

Man lebt fürs Wochenende, für Party und Feiern. Man arbeitet im wahr gewordenen Schokoladentraum, in der Dortmunder Schokoladenfabrik, die es in Brackel gegeben hat und deren Reste erst vor knapp zwei Jahren abgerissen wurden. Vielleicht doch kein Traumjob, denn es ist Akkordarbeit am Fließband, die in einer eindringlichen Szene dargestellt wird.

Von Arbeitskämpfen und neuen Herausforderungen

Zwischendurch werden Arbeitskämpfe ausgetragen. Die jugoslawischen Frauen verdienen weniger als ihre Männer – bei gleicher Arbeit. Und alle verdienen weniger als die deutschen ArbeiterInnen.

Die Migrationsgeschichte geht weiter. Auf die „Gäste“, die schon lange in Deutschland leben und hier auch Familien gründeten, folgen Geflüchtete. Anfang der 1990er Jahre bricht das alte Jugoslawien zusammen. Ein Krieg tobt auf dem Gebiet, der die Menschen vertreibt und zu mehreren Nachfolgestaaten führt. So kommen wieder viele nach Deutschland, diesmal um Schutz zu suchen, und auch etliche von ihnen bleiben.

Balkansoul im Fletch Bizzel. Links im Bild Jasmina Music, rechts Sara-Una Hujic. Foto: (c) Martina Bracke
Balkansoul im Fletch Bizzel. Links im Bild Jasmina Music, rechts Sara-Una Hujic. Foto: (c) Martina Bracke

Fragen nach Heimat, Dualität, dem Brückenbauen und dem Nicht-Vergessen, woher man kommt, werden aufgeworfen. Das Stück, konzipiert von der künstlerischen Leitung des Kollektivs, Jasmina Musić, die mit Sara-Una Hujic auch spielt, behandelt viele Facetten und erzählt Geschichten aus mehreren Generationen. Es basiert auf realen Interviews mit hier lebenden GastarbeiterInnen und MigrantInnen und verwebt deren Lebensgeschichten untereinander und mit eigenen Erfahrungen der Darstellerinnen, denn auch sie stammen in erster oder zweiter Generation vom Balkan.

Manchmal wünscht man sich, die einzelnen Geschichten besser verfolgen zu können, denn die Fäden verwirren sich gelegentlich. Vielleicht sind es aber auch zu viele Fäden, die in einer zu kurzen Stunde entrollt werden – so bleiben einige lose Enden übrig.

Aufgebrochen wird das Bühnengeschehen durch Foto- und Videosequenzen des Künstlers Timo Vogt, ergänzt um nachgestellte Tagesschau-Nachrichten, die auf der Leinwand inszeniert werden. Anekdoten vom Dalai Lama, den man „vielleicht“ bekocht hat, und von „Kloppo“, Jürgen Klopp, den man „ganz bestimmt“ bekocht hat, lockern das Stück stellenweise auf – ebenso wie Erinnerungen an die Satellitenschüssel auf dem Balkon, die man als Kind ausrichten musste. Noch ein kleines bisschen nach …

Balkansoul – die Seele des Balkans

Live und kraftvoll singen die Darstellerinnen, vor allem Jasmina Musić, ihre Lieder. Mit Begeisterung wird die Musikrichtung „Sevdalinka“, kurz „Sevdah“, aus Bosnien – ansatzweise vergleichbar mit dem portugiesischen „Fado“ – eingebracht. Die musikalische Leitung lag bei Dixon Ra, der am Theater Fletch Bizzel schon einige Inszenierungen begleitet hat.

Ein letzter Satz nach Max Frisch bleibt in der Luft hängen: „Es wurden Arbeitskräfte gerufen, aber es kamen Menschen.“

Und auf der Bühne liegen ein langer Weg in Form einer Stoffbahn und ein paar Stücke Schokolade.

Weitere Spieltermine:
Freitag, 7. Februar, 20 Uhr
Samstag, 22. März, 20 Uhr

Theater Fletch Bizzel
Humboldtstr. 45
44137 Dortmund

Mehr unter www.fletch-bizzel.de




Ironisch, bissig, kultig: Geierabend 2025

Satire, Musik und Ruhrpott-Charme in Bestform: Der Geierabend ist wieder da – und begeistert 2025 unter dem Motto „Zart wie Kruppstahl“ mit einem scharf gewürzten Mix aus Humor, Gesellschaftskritik und musikalischem Können. In den historischen Hallen der Zeche Zollern feierte das alternative Karnevalsspektakel am 09. Januar seinen Auftakt und bewies erneut, warum es zu den kulturellen Highlights Dortmunds zählt.

Ein Programm mit Biss und Aktualität

Unter der Regie von Björn Jung und Joey Gerome Porner lieferte das Ensemble eine gut ausbalancierte Mischung aus satirischen Kabarettnummern, musikalischen Highlights und Ruhrgebiets-Slang, die das Publikum auf eine emotionale Achterbahnfahrt mitnahm. Politische und gesellschaftliche Themen wurden mit scharfer Zunge und treffsicherem Humor aufgegriffen: der Selbstoptimierungswahn, die Folgen des neuen Cannabisgesetzes, die Deutsche Bahn, Polizeikürzungen, aber auch der drohende erneute Einfluss von Donald Trump. Besonders beeindruckte eine melancholisch-komödiantische Nummer „Lady Liberty Lost 2.0“, die zwischen Lachen und Nachdenklichkeit balancierte.

Diese Session musste der Steiger (Martin Kaysh) ohne den Präsidenten auskommen. (Foto: (c) Anja Cord)
Diese Session musste der Steiger (Martin Kaysh) ohne den Präsidenten auskommen. (Foto: (c) Anja Cord)

Musikalisch stark begleitet von Stefan „Pele“ Götzer und seinen Kollegen Oleg Bordo, Bettina Hagemann und Andreas Ruhnke, bot das Programm ein breites Spektrum von Rock und Pop bis zu Musical. Die Arrangements waren dabei nicht nur unterhaltsam, sondern auch musikalisch hochwertig.

Neue Gesichter und bewährte Favoriten

Ein besonderer Blickpunkt in diesem Jahr war der Neuzugang Patrick Dollas. Mit seinem komödiantischen Talent und einer Elvis-Tanzeinlage zog er die Aufmerksamkeit auf sich. Ob als „Bundesadler, der auspackt“ oder in anderen Rollen – Dollas zeigte, dass er das Ensemble bereichert.
Neben ihm sorgten altbewährte Charaktere wie Martin Kaysh als charmant-ironischer „Steiger“, Sandra Schmitz als prollige Ruhrpott-Mama oder Silvia Holzhäuser als überkorrekte Frau vom Ordnungsamt für die gewohnt humorvolle Stimmung. Ein schmerzhafter Verlust war jedoch die Abwesenheit des langjährigen „Präsi“ Roman Henri Marczewski aus gesundheitlichen Gründen, dem das Publikum Genesungswünsche schickte.

Fantasievolle Inszenierung mit regionalem Flair

Wie jedes Jahr präsentierte der Geierabend eine neue Partnerstadt. 2025 fiel die Wahl auf Datteln, die als „Stadt der Wasserstraßen“ in einem augenzwinkernden Musical gewürdigt wurde. Neben der fantasievollen Kostümgestaltung und den beeindruckenden Choreografien trugen diese regionalen Anspielungen dazu bei, den typischen Ruhrgebiets-Charme des Programms zu bewahren.
Eine Besonderheit bleibt die Verleihung des „Pannekopp-Ordens“, für den das Publikum abstimmen darf. Nominiert sind 2025 Hans-Joachim Watzke, Geschäftsführer des BVB, wegen seines Sponsoringvertrags mit dem Rüstungskonzern Rheinmetall, und Prof. Ursula Gather, die mit ihrem umstrittenen Projekt „Kunst statt Kollegen“ Schlagzeilen machte. Bei der Premiere unterlag Watzke. Aber ob er am Ende doch die Nase vorn hat? Die weiteren Abstimmungen werden es zeigen.

Fazit: Der Geierabend bleibt Kult

Der Geierabend 2025 überzeugt mit einem scharfzüngigen, abwechslungsreichen Programm, das politischen Biss und musikalisches Können vereint. Die perfekte Balance aus Humor und Gesellschaftskritik macht die Show zu einem Muss für alle Freunde des alternativen Karnevals.
Weitere Aufführungstermine bis zum 04. März 2025 finden in der Zeche Zollern statt. Infos unter www.geierabend.de. Tickets sind bei allen Eventim-VVK-Stellen erhältlich.

Ein Musical über Datteln: (v.l.n.r.) Patrick Dollas, Silvia Holzhäuser, Angelo Enghausen Micaela und Sandra Schmitz. Foto: Anja Cord
Ein Musical über Datteln: (v.l.n.r.) Patrick Dollas, Silvia Holzhäuser, Angelo Enghausen Micaela und Sandra Schmitz. Foto: Anja Cord

 

Die Tücken der Selbstbedienungskasse. mit dem Ensemble des geierabends. (Foto: Anja Cords)
Die Tücken der Selbstbedienungskasse. mit dem Ensemble des geierabends. (Foto: Anja Cord)

 

Auch die Polizei in NRW muss sparen. (v.l.n.r.) Patrick Dollas und Silvia Holzhäuser. (Foto: Anja Cord)
Auch die Polizei in NRW muss sparen. (v.l.n.r.) Patrick Dollas und Silvia Holzhäuser. (Foto: Anja Cord)

 

Jessica Schmottke (Sandra Schmitz) durfte natürlich auch nicht fehlen. (Foto: Anja Cord)
Jessica Schmottke (Sandra Schmitz) durfte natürlich auch nicht fehlen. (Foto: Anja Cord)

 

Ebenfalls ein fester Bestandteil: Oppa (Angela Enghausen Micaela) und Nicki (Sandra Schmitz). Foto: Anja Cord
Ebenfalls ein fester Bestandteil: Oppa (Angela Enghausen Micaela) und Nicki (Sandra Schmitz). Foto: Anja Cord

 

Hat eine Stelle in Dortmund gefunden. Miss Liberty (Sandra Schmitz) flieht wieder vor Trump. (Foto: Anja Cord)
Hat eine Stelle in Dortmund gefunden. Miss Liberty (Sandra Schmitz) flieht wieder vor Trump. (Foto: Anja Cord)

 




Der Tag nach dem Tag, an dem niemand starb – Premiere im Studio

Auf der Bühne erleben wir Umut. Die Hoffnung. „Meine Hoffnung“, wie Umuts Mutter zu ihrem Sohn immer sagte. Doch Umut ist nicht der erhoffte Sohn, der in das traditionelle Familienbild passt. Umut ist die Frau, die einmal ein Sohn war, sich aber nicht wie einer fühlt. Sie lebt in Istanbul, schlägt sich durch und geht anschaffen. Umut ist die Frau, die die Hoffnung hat, in ihrer Familie und Gesellschaft so akzeptiert zu werden, wie sie ist.

Ein Monolog voller Intensität

Umuts Geschichte, Träume und Sehnsüchte werden in einem abwechslungsreichen Monolog auf der Bühne des Studios im Schauspielhaus sichtbar. Ein Schminktisch mit mehreren Perücken, eine Couch und ein Fenster nach draußen schaffen verschiedene Spielsituationen. Eine Leinwand im Hintergrund bietet Raum für Einspielungen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer im ausverkauften Haus werden teilweise direkt angesprochen.

Umut erzählt von ihrer Kindheit, Besuchen bei der Familie, dem ersten Kuss, Freiern, die zahlen oder nicht zahlen, Menschen, die sie schützen, und von Gewalt. Das Stück spielt in Istanbul, einer traditionell geprägten Gesellschaft, in der Transsexuelle auf Anerkennung hoffen. Doch bei Demonstrationen und Pride-Paraden werden Wasserwerfer und Schlagstöcke eingesetzt. Dokumentarische Sequenzen zeigen Paraden in den Straßen Istanbuls, Menschen mit Regenbogenfahnen, die von harten Wasserstrahlen verfolgt werden. Ein Aushang vor dem Theatersaal weist darauf hin, dass verstörende Bilder gezeigt werden.

Güler Işik, Regisseurin Füsun Demirel und Şirvan Güler nach der premiere im Studio des Schauspielhauses Dortmund. (Foto: (c) Martina Bracke)
Güler Işik, Regisseurin Füsun Demirel und Şirvan Güler nach der premiere im Studio des Schauspielhauses Dortmund. (Foto: (c) Martina Bracke)

Auch der Titel „Der Tag nach dem Tag, an dem niemand starb“ verdeutlicht, dass Gewalt allgegenwärtig ist für transsexuelle Menschen. Und diese Gewalt fordert Opfer. Oft, so Umut, werden Täter nicht zur Verantwortung gezogen. Sie töten, wie man „eine Fliege erschlägt“.

Ein Monolog, gespielt von zwei Schauspielerinnen (Güler Işik und Şirvan Güler), ermöglicht Interaktion und verleiht dem Text Dynamik. Die beiden geben Umut eine Mischung aus Leichtigkeit und überbordendem Lebens- und Liebeshunger. Dies zeigt sich in musikalischen Sequenzen und Tänzen, die das Publikum zum Mitklatschen und Mitsingen animieren.

Eine eindringliche Inszenierung

Die Inszenierung von Füsun Demirel, einer türkischen Theater- und Filmschauspielerin, die in Italien Schauspiel studiert hat, funktioniert hervorragend. Sie spricht Gefühle an, nutzt den Raum für den dialogischen Monolog und bindet filmische Teile nahtlos ein. Die beiden Darstellerinnen, die ihr viertes Stück auf die Bühne bringen, spielen engagiert und souverän. Dafür erhalten sie am Ende stehende Ovationen.

Die Vorlage stammt aus dem Jahr 2012 und wurde von der türkischen Theaterautorin und Schauspielerin Ebru Nihan Celkan geschrieben. Geboren 1979 in Istanbul, widmet sie sich seit 2005 dem Theater, schreibt, spielt, inszeniert und gibt Workshops. Sie war Teil eines UN-Programms zur Förderung der Frauenrechte. Das Stück wurde in der Türkei an mehreren Theatern gespielt und ist in einem Sammelband des Neofelis-Verlags auf Deutsch erhältlich.

In Deutschland wurden die Aufführungen am Wochenende im Schauspielhaus Dortmund vermutlich erstmals gezeigt – in türkischer Sprache mit deutschen Übertiteln. Diese Übertitel waren bei der Premiere jedoch nicht immer synchron, was es dem nicht türkischsprachigen Publikum erschwerte, dem Geschehen zu folgen.

Die beiden Aufführungen bleiben vorerst die einzigen. Die Produktion wurde vom Migrantinnenverein Dortmund in Kooperation mit dem Taranta Babu e. V. und dem Dietrich-Keuning-Haus realisiert, gefördert durch das Programm „Transkulturelle Impulse“ des NRW-Landesbüros Darstellende Künste. Ayşe Kalmaz, Vertreterin des Migrantinnenvereins, der mit Theaterstücken Frauenperspektiven und Frauenrechte in den Fokus rückt, zeigte sich jedoch zuversichtlich, dass eine Wiederaufnahme 2025 bei einem queeren Festival möglich ist.

Es bleibt zu wünschen, dass noch mehr Menschen Umuts Geschichte erleben und die Hoffnung weitertragen, dass alle Teile der Gesellschaft sichtbar, wahrgenommen und akzeptiert werden. Denn: „Schau, meine Augen sind nicht anders als deine. Mein Lachen ist voller Freude… Ich bin Umut.“ Eine Hoffnung.

 




Der Geierabend 2025 wird „Zart wie Kruppstahl“

Am 9. Januar 2025 startet der Ruhrpottkarneval mit seinem neuen Motto „Zart wie Kruppstahl“ in die kommende Session. Bis zum 4. März, dem Tag vor Aschermittwoch, werden die Geier in 34 Vorstellungen ihr satirisches Programm auf die Bühne bringen. Doch eine besondere Herausforderung wartet: ein Sonntag mitten in der Session wird gleichzeitig Tag der Bundestagswahl sein.

Neue Gesichter beim Geierabend 2025

Für Fans gibt es eine schlechte Nachricht: Der Präsident alias Roman Marczewski muss aus gesundheitlichen Gründen pausieren. ars tremonia wünscht ihm alles Gute. Dennoch bringt die Session 2025 auch frischen Wind.

Ein neues Gesicht ist Stefan „Pele“ Götzer, der das musikalische Konzept übernimmt. Sein Repertoire reicht von Punk über Musical bis hin zu selbstgeschriebenen Schlagern. Bekannt wurde er durch seine Band Astra Kid und als Theatermusiker. Martin Kaysh alias „Steiger“ lobt ihn: „Pele bringt alle Voraussetzungen mit: Er stammt aus der Gegend, kennt die Themen und hat ein großes Verständnis über die Musik hinaus.“

Proben für einen Sketch zum 50. Jahrestag der immer noch nicht überwundenen Gebietsreform in NRW. Auf der Bühne (v. li.) Patrick Dollas, Sebastian Thrun, Silvia Holzhäuser, -Angelo Enghausen Micaela und Sandra Schmitz.
Proben für einen Sketch zum 50. Jahrestag der immer noch nicht überwundenen Gebietsreform in NRW. Auf der Bühne (v. li.) Patrick Dollas, Sebastian Thrun, Silvia Holzhäuser, – Angelo Enghausen Micaela und Sandra Schmitz.

Zudem verstärkt Patrick Dollas das Ensemble auf der Bühne. Dollas, der zuvor lange beim Schlosstheater Moers aktiv war, zeichnet sich durch seine Vorliebe für skurrile und satirische Projekte aus. Auch hinter den Kulissen gibt es Verstärkung: Die erfahrenen Autoren Thomas Rogel und Markus Hennig, bekannt durch ihre Arbeit für Jan Böhmermann, Carolin Kebekus und die heute-show, bereichern das Team.

Satirische Highlights und politische Herausforderungen

Welche Themen hat der Geierabend 2025 im Fokus? Neben internationalen Ereignissen wie der US-Wahl stehen auch regionale Themen im Mittelpunkt. Der BVB, die Gebietsreform von 1975 sowie Sparmaßnahmen bei der Polizei werden satirisch beleuchtet. Ob der Hype um die Dubai-Schokolade aufgegriffen wird, ist noch offen.

Eine besondere Herausforderung stellt die Bundestagswahl am 23. Februar dar – ein Sonntag mitten in der Session. An diesem Tag wird nicht nur gewählt, sondern auch gespielt. Martin Kaysh verkündet: „Wir laden alle ein zur großen Wahlparty auf der Zeche. Wie wir das ins Programm einbinden, wird noch entschieden.“

Spielplan und Tickets finden Interessierte unter www.geierabend.de.

Das Ensemble:

  • Martin Kaysh
  • Sebastian Thrun
  • Silvia Holzhäuser
  • Patrick Dollas
  • Sandra Schmitz
  • Angelo Enghausen Micaela

Regie:

  • Joey Gerome Porner
  • Björn Jung

Musikalische Leitung:

  • Stefan „Pele“ Götzer



Freeze – Ein modernes Tanztheaterstück zur Schneekönigin

Mit Freeze präsentierte die Junge Tanztheaterwerkstatt ein eindrucksvolles Stück über Solidarität, Verantwortung und Freundschaft. Inspiriert von Motiven des Märchens Die Schneekönigin erzählt es die Geschichte der 15-jährigen Kai, die plötzlich verschwindet. Am 15. Dezember wurde das Werk im Fritz-Henßler-Haus uraufgeführt.

Die Geschichte von Kai und der Schneekönigin

Warum verschwinden Jugendliche? Familienkonflikte, psychische Belastungen, Drogenmissbrauch oder die Suche nach Abenteuern? Im Märchen Die Schneekönigin führen magische Spiegelsplitter dazu, dass Kai die Welt nur noch negativ sieht und sich von der Schneekönigin angezogen fühlt. Freeze greift diese Motive auf und überträgt sie in eine moderne, gesellschaftskritische Erzählung.

Die 15-jährige Kai, eine Schülerin mit albanischen Wurzeln, verschwindet plötzlich. Ihre Klassenkamerad*innen beginnen nach einiger Zeit, sich Gedanken zu machen: Wo ist Kai geblieben? Erinnerungen werden ausgetauscht, Suchen organisiert und Elemente des ursprünglichen Märchens neu interpretiert. So wirft Gerda im Original ihre roten Schuhe in einen Fluss, um Antworten zu bekommen. In Freeze wurde der Fluss von den Jugendlichen durch kreative blaue Plakate dargestellt – ein eindrucksvolles Bild.

Die Spiegelstücke der Schneekönigin verletzen Kai. (Foto: CDD20/ Pixabay)

Die Schneekönigin tritt in dieser Neuinterpretation als Dreiergruppe auf. Sie verkörpert nicht nur negative Emotionen, sondern auch Verlockungen wie Clubbesuche, Drogen und das Streben, zu den „coolen Kids“ zu gehören. Kai wird von diesen Einflüssen angezogen – doch welche Konsequenzen hat das?

Die Botschaft hinter Freeze

Im Märchen rettet Gerda ihren Freund Kai aus den Fängen der Schneekönigin. In Freeze gibt es jedoch eine weitere Ebene: Die Wahrheit könnte auch sein, dass die Klassengemeinschaft Kai nie wirklich akzeptiert hat, weil sie einen Migrationshintergrund hat. In einem Abschiedsbrief schreibt Kai, dass sie einfach ein neues Leben sucht.

Trotz der ernsten Thematik hat das Stück auch humorvolle Momente, wie die Szene, in der Kai erzählt, sie dürfe auf die „Magic High“. Musikalisch wurde ein abwechslungsreiches Programm geboten: Neben Popmusik erklangen Vivaldis Vier Jahreszeiten, ebenso wie Livemusik auf Gitarre, Klavier und Querflöte.

Ein gelungener Abend, bei dem 20 talentierte Performerinnen eine spannende und tiefgehende Neuinterpretation der Schneekönigin auf die Bühne brachten.

Mitwirkende: Team: Birgit Götz, Helen Greve-Groß, Laura Gebauer, Inge Nosal & Bhavdeep Kumar Projektleitung: Stella Pischke Performerinnen: Imani Abdoulaye, Frida Averesch, Lotti Brockmann, Salia Dresp, Merith Hopf, Karolina Jurczak, Emma Kassing, Glory Kumih, Olivia Langner, Viola Langner, Marlitt Larsen, Emily Merkel, Karla Müller, Sarah Neuß, Lili Rinscheidt, Martha Schröder, Marla Tenholt, Sarah Thirukumar, Charlotte Voges, Luise Voges




Weihnachtswahnsinn am Kaminfeuer – „Merry Crisis“ im Schauspielhaus

Ein Kaminfeuer flackert virtuell an der Wand, ein mannshoher Nussknacker flankiert die Bühne, auf der Teddybären sich zwischen einem Sessel und einem Zweisitzer mit Holzbeinen ohne Stehlampe tummeln (Ausstattung: Constanze Kriester). Im sog. „Institut“, dem kleinen Bühnenraum im Erdgeschoss des Schauspielhauses, erwarten rund fünfzig Gäste einen weihnachtlichen Leseabend

In Pyjamas mit langen Morgenmänteln und Pantoffeln nehmen die beiden Schauspielerinnen Marlena Keil und Nika Mišković die Bühne ein und starten direkt mit Ringelnatz. In seinem Gedicht schneit es auch Erbsensuppe mit Speck in die Taschen der Arbeitslosen. Also ganz so gemütlich und heimelig wird der Abend nicht, er ist aber auch mit „Merry Crisis“ betitelt.

In die nächste weihnachtliche Krise eilen die beiden Lesenden nahezu übergangslos. Aufführungen von Krippenspielen mit Sechsjährigen in der Rolle der Jungfrau und Zweitklässlern als gestandenen Männern, mit stolzen Eltern und „Lasagne-Gestank“ im Saal nimmt der amerikanische Autor David Sedaris aufs Korn. Fast können einem die beschriebenen Kinder leid tun, aber die erwachsenen Gäste des Abends amüsieren sich bei dieser scharfen Beurteilung. Auch Charles Dickens‘ Klassiker  „Der Weihnachtsabend“ wird in die Schulaufführungen eingepasst, aber durch die Schauspielerinnen auf der Bühne professionell akzentuiert, bevor wieder die Kritik Sedaris an schlechtem Schultheater zelebriert wird und für weitere Erheiterung sorgt.

Nach einer Mitmachsequenz – alle versuchen „Oh Tannenbaum“ zu singen – leidet man mit dem Tannenbaum nach Hans Christian Andersen, bevor Marlena Keil und Nika Mišković lebhaft in ihren offensichtlichen Lieblingstext einführen. Gevatter Tod übernimmt die Rolle des verhinderten „Schneevaters“ – des quasi Weihnachtsmanns in der Scheibenwelt der Romane von Terry Pratchett.

Danach lässt sich diesmal bestens gestimmt und hörbar harmonischer von allen „Jingle Bells“ intonieren.

In der Pause ist der alkoholfreie Punsch schnell ausgetrunken, doch für einen Glühwein mit Alkohol reicht es, der seinen Weg auch auf die Bühne findet – nur ein „wönziger Schluck“. Nein, die Feuerzangenbowle ist nicht dabei, aber durchaus gelockert geht es mit Ringelnatz und der „Weihnachtsgans Auguste“ von Friedrich Wolf weiter. Dazwischen ein Ausflug mit dem lange nicht mehr gehörten Ephraim Kishon und seiner besten Ehefrau von allen zum humorig-dramatischen Geschenkeequivalent, dem jüdischen Passahfest, zu dem bei Kishon mindestens elf zauberhafte Stehlampen gehören.

Merry Crisis_Nika Miskovic und Marlena Keil (Copyright Charlot Kühn)
Merry Crisis_Nika Miskovic und Marlena Keil (Copyright Charlot Kühn)

Ein Abend zwischen Weihnachtsgans und Wahnsinn, ganz wie auf dem Programmzettel angekündigt. Ein Wahnsinn, zusammengestellt und eingerichtet von Hazal Saracoglu, den alle gut nachvollziehen konnten und über den man – betrifft uns bestimmt nur entfernt – herzlich lachen, mindestens aber kräftig schmunzeln konnte.

Das Geständnis von Nika Mišković, das dies ihr erster Leseabend überhaupt und dann noch auf deutsch gewesen sei, wird mit zusätzlichem anerkennenden Applaus belohnt.

Der Saal wagt sich im letzten Mitmachteil des Abends noch an „All I want for Christmas“ heran und alle sollen ihre innere Mariah Carey finden. Die bleibt jedoch im durchaus lauten Chor weitestgehend unhörbar.

Egal. Alle hatten Spaß und gehen vergnügt in ihren eigenen alltäglichen Weihnachtswahnsinn oder zu gemütlichem Kaminfeuer mit zauberhafter Stehlampe.

Weihnachtswahnsinn mit Charme – „Merry Crisis“ im Schauspielhaus

Ein virtuelles Kaminfeuer flackert an der Wand, ein mannshoher Nussknacker flankiert die Bühne, und Teddybären tummeln sich zwischen einem Sessel und einem Zweisitzer mit Holzbeinen – ganz ohne Stehlampe (Ausstattung: Constanze Kriester). Im sogenannten „Institut“, dem kleinen Bühnenraum im Erdgeschoss des Schauspielhauses, erwarten rund fünfzig Gäste einen weihnachtlichen Leseabend.

In Pyjamas, langen Morgenmänteln und Pantoffeln betreten die beiden Schauspielerinnen Marlena Keil und Nika Mišković die Bühne und eröffnen den Abend direkt mit einem Gedicht von Joachim Ringelnatz. Hier schneit es auch Erbsensuppe mit Speck in die Taschen der Arbeitslosen – ein Vorbote dafür, dass es an diesem Abend nicht ausschließlich gemütlich und heimelig zugehen wird. Schließlich trägt die Veranstaltung den Titel „Merry Crisis“.

Fast übergangslos stürzen sich die beiden Schauspielerinnen in die nächste weihnachtliche Krise: David Sedaris nimmt in seiner Erzählung Krippenspiele mit Sechsjährigen als Jungfrauen und Zweitklässlern als gestandene Männer aufs Korn – inklusive stolzer Eltern und „Lasagne-Gestank“ im Saal. Während man den beschriebenen Kindern fast Mitleid entgegenbringen könnte, sorgt Sedaris‘ scharfsinnige Beobachtung beim Publikum für reichlich Gelächter. Auch Charles Dickens‘ „Der Weihnachtsabend“ wird im Rahmen dieser Schulaufführungen humorvoll eingebaut und von den Schauspielerinnen mit professioneller Akzentuierung aufgegriffen, bevor Sedaris’ bissige Kritik an schlechtem Schultheater erneut für Erheiterung sorgt.

Nach einer Mitmachsequenz – alle versuchen gemeinsam „Oh Tannenbaum“ zu singen – bewegt Hans Christian Andersens trauriger Tannenbaum die Zuschauer, bevor Marlena Keil und Nika Mišković mit offensichtlicher Begeisterung einen Text aus Terry Pratchetts Scheibenwelt einleiten. Hier übernimmt Gevatter Tod die Rolle des verhinderten „Schneevaters“, quasi des Weihnachtsmanns dieser skurrilen Fantasy-Welt. Schließlich gelingt es, diesmal spürbar harmonischer, gemeinsam „Jingle Bells“ anzustimmen.

Zwischen Glühwein und literarischem Wahnsinn

In der Pause ist der alkoholfreie Punsch schnell ausgetrunken, doch für einen Glühwein mit Alkohol reicht es – der findet sogar den Weg auf die Bühne, wenn auch nur in Form eines „wönzigen Schlucks“. Eine Feuerzangenbowle gibt es zwar nicht, doch locker und beschwingt geht es nach der Pause mit weiteren literarischen Perlen weiter.

Mit Ringelnatz und Friedrich Wolfs „Weihnachtsgans Auguste“ kommt der Abend erneut in Fahrt, bevor ein Ausflug zu Ephraim Kishons humorigen Anekdoten folgt. Gemeinsam mit „der besten Ehefrau von allen“ widmet sich Kishon dem jüdischen Passahfest, bei dem natürlich mindestens elf zauberhafte Stehlampen nicht fehlen dürfen.

Der Abend entwickelt sich wie angekündigt: ein Wahnsinn zwischen Weihnachtsgans und Chaos. Hazal Saracoglu, die den Abend zusammengestellt und eingerichtet hat, trifft mit dieser Mischung aus Humor, Ironie und Gesellschaftskritik genau den Nerv des Publikums. Immer wieder sorgt die Vorstellung für Lacher, aber auch für nachdenkliche Momente, die das Publikum herzlich schmunzeln lassen.

Besonderen Applaus erntet Nika Mišković, die gesteht, dass dies ihr erster Leseabend überhaupt – und dann auch noch auf Deutsch – gewesen sei. Im letzten Mitmachteil wagen sich alle gemeinsam an „All I Want for Christmas“. Die innere Mariah Carey lässt sich zwar im Chor nicht wirklich heraushören, doch das tut der ausgelassenen Stimmung keinen Abbruch.

Am Ende verlassen die Gäste den Abend gut gelaunt – bereit für ihren eigenen weihnachtlichen Wahnsinn oder vielleicht für ein entspanntes Kaminfeuer mit der ein oder anderen zauberhaften Stehlampe.

 




Ein Mops kommt in die Oper

Loriot bricht eine Lanze für Richard Wagner im Dortmunder Opernhaus

Im nächsten Jahr wird in Dortmund „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner wiederaufgenommen. „Der Ring“, wie das Mammutwerk unter Eingeweihten kurz heißt, umfasst einen Zyklus von vier Opern, die sich allesamt an der berühmtesten deutschen Heldensage abarbeiten. „Der Ring an einem Abend“ in Loriots Fassung ist da schon mal so etwas wie ein Vorgeschmack, der Trailer sozusagen zum kommenden Wagner-Marathon: ein unterhaltsamer Kurztrip in die blutig-bunte Nibelungenwelt, leidenschaftlich präsentiert vom Gesangspersonal des Opernhauses, von den präzise abgestimmten Dortmunder Philharmonikern und einem gut aufgelegten Götz Alsmann als Erzähler.

Ein Vorgeschmack auf Wagners Mammutwerk

Das Orchester wird an diesem Abend nicht in den Graben verbannt – die ganze Bühne füllt es aus, flankiert auf der rechten Seite von vier ansehnlichen Harfen, auf der linken Seite von dem berühmten Sofa, mit dem Loriot in seinen öffentlichen Auftritten sozusagen zu einer symbiotischen Einheit verschmolzen war. „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos“, behauptete der Altmeister der Komik stets, und dementsprechend ist auch das besagte Tier an diesem Abend präsent, wenn schon nicht leibhaftig, so doch als Aufdruck auf dem Sofakissen. Eine Stehlampe vervollständigt das kleinbürgerliche Ambiente am Rande der großen Opernwelt. Die Instrumentalisten sind fein frackiert in festlichem Schwarz; Siegfried und die Heldenschar tragen keine Rüstung, sondern Abendanzug, die Walküren lange Kleider, Brünnhilde statt Kettenhemd ein Glitzerkleid – Wotan immerhin eine Augenklappe. Und der Blick? Notwendigerweise geradeaus, mit großen Augen und ausdrucksstarker Mimik, in der wir vielleicht die Wagnersche Bedeutungstiefe erahnen sollen. Ein wenig steif wirkt das schon. Sei’s drum – es wird ja keine Oper gegeben, wir nehmen teil an einer konzertanten Variante der Wagnerschen Fantasien. Und mit dieser Vereinbarung lässt sich der Abend durchaus genießen: Bühnenfestspiel meets Wohnzimmerecke!

Loriots Humor trifft auf die Welt der Oper

Nun ist das mit Wagner ja immer so eine Sache: Die einen vergöttern ihn, die anderen verdammen ihn. Da scheint es keine Zwischentöne zu geben – Wagner polarisiert wie wohl kein anderer Komponist des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus gibt es aber auch Zeitgenossen, die den Erfinder des Gesamtkunstwerks gar nicht kennen, die nie etwas gehört haben von Leitmotiven oder dem berühmten Tristanakkord. Insbesondere für diese Unbeleckten hat Loriot seinen Text geschrieben, für all jene, die möglicherweise von der Wucht und der Humorlosigkeit einer kompletten „Ring“-Inszenierung völlig erschlagen wären. In verständlicher und humorvoller Sprache, die in krassem Gegensatz zu den von Wagner selbst verfassten archaisierenden Arien-Versen steht, erzählt Loriot auf seine unnachahmlich klar-komische Art die Geschichte der Nibelungen, entwirrt kurzweilig und verständlich die komplizierten Familienstränge und spart auch nicht mit kleinen witzigen Seitenhieben auf den Opernbetrieb. Wobei sich der bekennende Opernliebhaber Loriot nie despektierlich lustig macht – vielmehr versucht er, auf vergnügliche Weise den Unentschlossenen, den Zweifelnden, vielleicht sogar den Wagnermuffeln das Werk des Komponisten näherzubringen.

Götz Alsmann in Erzähllaune bei Loriots "Ring an einem Abend" (Foto: (c) Anke Sundermeier)
Götz Alsmann in Erzähllaune bei Loriots „Ring an einem Abend“ (Foto: (c) Anke Sundermeier)

Götz Alsmann seinerseits setzt diesen Text kongenial im Sinne Loriots um. Lässig betritt er die Bühne, wirft eine Kusshand ins Publikum und eine ins Orchester, tritt lässig hinters Rednerpult und inszeniert schon den ersten Satz in perfektem Timing: „Die Täter im gewaltigsten Drama der Musikgeschichte sind eigentlich ganz nette Leute.“ Vereinzelte Lacher, aber der Ton ist gesetzt. Das vollbesetzte Opernhaus lauscht fortan gespannt und amüsiert. Götz Alsmann ist ein charmanter Erzähler, streut gelegentlich kleine Extemporés ein und spielt gekonnt auf der Klaviatur seiner Entertainerqualitäten.

Ein Abend zwischen Unterhaltung und Wagner-Erlebnis

Zwischen den Leseeinheiten gibt es immer wieder Wagner – komprimiert, der „Ring“ in Ausschnitten. Dabei ist es großartig zu hören und zu sehen, wie die Solist:innen sich ins Zeug legen, wie sie, an die Rampe gebannt, die fehlende Bewegungsfreiheit wettmachen durch wirklich tollen Gesang. Insbesondere Mandla Mndebele als Wotan und Artyom Wasnetsov als Hagen liefern eine großartige Performance. Begleitet werden sie dabei von den wunderbar aufspielenden Dortmunder Philharmonikern unter der Leitung von Gabriel Feltz.

Alles in allem ein gelungener Abend, der nach immerhin drei Stunden dennoch manche, die mit Wagners Kunst weniger anfangen können, etwas enttäuscht zurückließ: „Zu viel Wagner, zu wenig Loriot“, hört man von einigen. Insofern ist ein Leben ohne Wagner sicherlich möglich – ob es sinnlos wäre, mag ein jeder nach dem Besuch dieses konzertanten „Ring“-Konzentrats selbst entscheiden.

Hans-Peter Krüger