Drei Sekunden Gegenwart – Kunst im flüchtigen Moment
Wie lange dauert das Jetzt? Neurowissenschaftler sagen: etwa drei Sekunden. Dann wird der Augenblick schon zur Erinnerung. Die Ausstellung „DREI SEKUNDEN“ im Künstlerhaus Dortmund widmet sich genau diesem kurzen Zeitfenster – und dem, was verschwindet, kaum dass es da ist.
Von Wellen und unsichtbarer Musik
Julius von Bismarck zeigt in Den Himmel muss man sich wegdenken (2014) eine Riesenwelle im Sturm, die wie eine abstrakte Landschaft wirkt. Mit einer Hochgeschwindigkeitskamera eingefangen, wird aus einem Sekundenbruchteil ein meditatives Bild. William Engelen hingegen macht Musik hörbar, wo keine ist: In À la Gould „spielen“ Pianisten Bachs Goldberg-Variationen auf einer unsichtbaren Tastatur. Zu hören sind nur Atem, Rascheln und Bewegung. Es ist eine poetische Umkehrung von Glenn Goulds Suche nach Perfektion.
Staub, Leere und vergängliche Netze
Igor Eškinja präsentiert Silhouetten aus Staub. Abbilder von Besuchern, die sich langsam auflösen. Sabrina Fritsch lässt in einem überdimensionalen Setzkasten viele Fächer leer und platziert in einigen feine Malereien, die nur im Streiflicht schemenhaft Körper andeuten. Monika Grzymala spannt ein Netz aus Klebeband durch den Raum, das mit der Zeit zerfällt.
Die Gegenwart besteht aus etwa drei Sekunden. Das Künstlerhaus Dortmund zeigt verschiedene Positionen dazu.
Körper als Zeichenstift und Licht aus der Zukunft
Moonjoo Kim machte bei der Eröffnung mit Body print ihren Körper zum Zeichenwerkzeug: Mit Tinte und wiederholten Bewegungen hinterließ sie Spuren von Zeit und Präsenz. Gregor Schneider fotografierte menschenleere Orte in Neurath, deren Himmel von violett-pinkem Gewächshauslicht verfremdet wird. Unheimlich und real zugleich.
Digitale Himmel
Das Künstlerkollektiv Troika entfernte bei Apple-Desktop-Hintergründen alle Landschaften und ließ nur den Himmel stehen. Obsolete Landscapes hinterfragt so den digitalen Umgang mit Natur und die Idee, dass sie ersetzbar sei.
„DREI SEKUNDEN“ zeigt: Gerade im Verschwinden liegt die Intensität des Erlebens. Die Ausstellung läuft noch bis zum 14. September 2025 im Künstlerhaus Dortmund.
Ein besonderes Orchestererlebnis beim 3. Konzert für junge Leute
Zwei Orchester zum Preis von einem? Nicht ganz – aber fast. Denn am 3. Juli 2025 standen im Dortmunder Konzerthaus das Dortmunder Jugendorchester (DOJO) und die Dortmunder Philharmonikergemeinsam auf der Bühne. Unter der Leitung von Olivia Lee-Gundermann präsentierten sie Sergej Prokofjews 7. Sinfonie – ein Werk voller leiser Töne und emotionaler Tiefe.
Schon mit den ersten Takten verschmolzen die Klänge der jungen Musiker:innen mit denen der erfahrenen Profis. Die musikalische Einheit wirkte so selbstverständlich, als würde dieses generationenübergreifende Orchester schon seit Jahren gemeinsam musizieren. Die harmonische Verbindung war nicht nur hör-, sondern förmlich spürbar.
Foto des Programmflyers des 3. Konzertes für junge Leute.
Ein Glücksgriff war auch die Programmauswahl: Prokofjews 7. Sinfonie – sein letztes vollendetes Werk – gilt als poetisches Vermächtnis. Anstelle eines triumphalen Finales entfaltet sich hier eine zarte, transparente Melancholie, die an einen stillen Rückblick erinnert. Eine Komposition, die weniger durch Dramatik als durch Feinfühligkeit beeindruckt – und genau diesen Charakter ließen die Musiker:innen eindrucksvoll lebendig werden.
Für einen temperamentvollen Kontrast sorgte schließlich die Zugabe: Der mitreißende erste Satz aus Arturo Márquez’ „Danzón Nr. 2“ brachte rhythmische Energie und tänzerische Leichtigkeit ins Konzerthaus – ein gelungener Abschluss eines außergewöhnlichen Konzertabends.
Poro – Händels Kammeroper im königlichen Gewand
Die Oper Poro markierte für Georg Friedrich Händel eine Art Comeback. Nachdem die Royal Academy of Music in Schwierigkeiten geraten war, gründete Händel 1729 gemeinsam mit dem Impressario Johann Jakob Heidegger eine neue Opernkompanie am King’s Theatre in London. Zwei Jahre später, 1731, feierte Poro Premiere – eine Oper, die ganz im Zeichen des Humanismus steht. Sie zählt heute zu den weniger häufig gespielten Werken Händels, umso erfreulicher war es, dass das Klangvokal Musikfestival dieses Juwel am 19. August 2025 in einer konzertanten Aufführung im Konzerthaus Dortmund präsentierte.
Worum geht es in Poro?
Die Handlung spielt im alten Indien zur Zeit Alexanders des Großen. König Poro wurde von Alexander besiegt und lebt versteckt. Seine Geliebte Cleofide versucht, ihn zu schützen. Alexander wiederum zeigt Interesse an Cleofide – politisch wie persönlich –, was bei Poro Misstrauen und Eifersucht weckt. Um ihre Treue zu prüfen, gibt er sich als einfacher Offizier aus.
(v.l.n.r.) Martyna Pastuszka ([oh!] Orkiestra ), Julia Lezhneva (Cleofide),, Rémy Brès-Feuillet als Gandarte , Lucile Richardot (Erissena) und Timothy Edlin (Timogene). (Foto: (c) Oliver Hitzegrad)Es folgen Intrigen, Missverständnisse und ein beinahe tödlicher Konflikt. Doch Cleofide bleibt standhaft. Am Ende zeigt Alexander sich als großmütiger Sieger: Er vergibt Poro und gibt ihm und Cleofide ihre Freiheit und ihr Reich zurück. Die Oper endet mit einem versöhnlichen Schluss – Gnade statt Rache, Menschlichkeit statt Machtgehabe.
Kalkutta liegt nicht am Ganges – und Alexander war nie dort
Wie viele Werke der Barockoper ist auch Poro kein historisches Tatsachenstück, sondern ein moralisches Drama. Der Fokus liegt auf dem Ideal des aufgeklärten Herrschers: Alexander zeigt Stärke nicht durch Gewalt, sondern durch Großmut. Seine Vergebung – auch gegenüber dem Verräter Timagene – unterstreicht seine Größe, nicht seine Schwäche.
Hugo Hymas sang den Alexander. (Foto: (c) Oliver Hitzegrad)
Historisch ist einiges allerdings anders gelaufen: Alexander besiegte König Poros tatsächlich am Fluss Hydaspes (heute im heutigen Pakistan), doch er erreichte nie den Ganges. Seine Truppen weigerten sich, weiterzuziehen. Auch Cleofide, Poros Geliebte, ist eine reine Erfindung der Opernliteratur.
Ein musikalisches Erlebnis
Musikalischer Mittelpunkt der Aufführung war weniger der Titelheld, sondern Cleofide. Die russische Sopranistin Julia Lezhneva brillierte in dieser Rolle mit technischer Präzision, feiner Phrasierung und emotionaler Tiefe. Ihre Stimme spannte den Bogen von zarter Innigkeit bis zu entschlossener Stärke – mehrfach quittiert mit spontanen Bravo-Rufen aus dem Publikum.
Max Emanuel Cenčić überzeugte als Poro mit seiner wandlungsfähigen Countertenorstimme und einer tiefgründigen Darstellung des innerlich zerrissenen Königs.
Max Emanuel Cenčić als „Poro“. (Foto: (c) Oliver Hitzegrad)
Als Alexander glänzte der britische Tenor Hugo Hymas mit klarer Diktion und charismatischer Bühnenpräsenz – er verkörperte den humanistischen Herrscher mit Eleganz und Feinsinn. Lucile Richardot gab Poros Schwester Erissena mit warmer Stimme und subtiler Charakterzeichnung. Rémy Brès-Feuillet als Gandarte verlieh der Rolle heldische Stärke, ohne die lyrischen Nuancen zu vernachlässigen.
In der Rolle des zwielichtigen Timagene überzeugte Timothy Edlin mit klarer Linienführung und dramatischem Ausdruck.
Insgesamt hatten die Sängerinnen und Sänger Spaß daran, durch Gesten und Mimik der konzertanten Aufführung noch mehr Leben einzuhauchen, sehr zur Freude des Publikums.
Das polnische Ensemble [oh!] Orkiestra unter der Leitung von Martyna Pastuszka sorgte für den klanglichen Rahmen dieser konzertanten Aufführung. Mit feinem Gespür für barocke Klangfarben und dramatische Zuspitzung brachte Pastuszka Händels Musik zum Leuchten – ausbalanciert zwischen dramatischer Geste und fein ziselierter Detailarbeit.
DIS/CONNECT – Netzwerke, Muster, Brüche
Netzwerke sind allgegenwärtig: sichtbar und unsichtbar, geordnet und chaotisch. Sie verbinden Menschen, Städte, Maschinen und Informationen – aber auch Naturphänomene, wirtschaftliche Strukturen und politische Entwicklungen. Die Ausstellung DIS/CONNECT im Künstlerhaus Dortmund nimmt diese Netzwerke in den Blick und zeigt, wie sie entstehen, sich verändern – und manchmal auch scheitern. Die gezeigten fotografischen Arbeiten machen deutlich: Zwischen Ordnung und Chaos, Struktur und Zufall entsteht eine fragile Balance, die unsere Gegenwart prägt.
Die beteiligten Künstler:innen greifen das Thema auf ganz unterschiedliche Weise auf – dokumentarisch, poetisch, experimentell oder politisch. Dabei verbinden sich persönliche Perspektiven mit gesellschaftlichen Beobachtungen, technische Verfahren mit gestalterischer Freiheit.
Zwischen Gewalt, Erinnerung und visuellen Codes
Elmar Mauch setzt sich in seiner Serie Nur die Toten mit unterschwelliger männlicher Aggression auseinander. Aus gefundenen Alltagsfotos schafft er mittels Collage irritierende Szenen, die gesellschaftlich tief verankerte Gewaltmuster sichtbar machen.
Auch Daniela Risch hinterfragt Sehgewohnheiten – allerdings auf formaler Ebene. Sie verwendet fotografische Techniken entgegen ihrer üblichen Funktion und schafft so Kunstwerke, die sich einer Reproduzierbarkeit weitgehend entziehen, da sie zu Unikaten werden.
Das Plakatmotiv der Ausstellung „Dis/connect“ im Künstlerhaus. Titelgrafik (c) Debora Ando)
Markus Kaesler reagiert mit seiner fortlaufenden Serie vanitas auf den Krieg in der Ukraine. Für jeden Tag des Krieges zerstört er ein Foto und verwandelt das Silber der ursprünglichen Aufnahme in ein abstraktes Bild. Die Arbeiten wirken wie stille Mahnmale – konkret im Anlass, aber offen in ihrer Wirkung.
Landschaften des Umbruchs
Die Auswirkungen menschlichen Handelns auf Umwelt und Natur stehen im Fokus mehrerer Arbeiten:
Marike Schuurman dokumentiert mit Toxic künstlich geschaffene Seen in ehemaligen Braunkohletagebaugebieten. Ihre Polaroids, in giftigem Wasser entwickelt, zeigen die trügerische Schönheit dieser Orte – zwischen Zerstörung und neuer Nutzung.
Ein ganz anderes Naturphänomen untersucht das Duo Sabine Bungert & Stefan Dolfen. Ihre Serie zeigt, wie die invasive Pflanze Kudzu ganze Landschaften im Süden der USA überwuchert. Was auf den ersten Blick märchenhaft wirkt, ist in Wahrheit Ausdruck ökologischer Kontrolle und Unkontrollierbarkeit zugleich.
Gabriele Engelhardt richtet ihren Blick auf Rohstoffe und industrielle Überbleibsel. In ihrer Serie raw material verwandelt sie Materialberge aus Recyclingprozessen in fotografische Skulpturen. So entstehen eindrucksvolle Bilder, die Fragen nach Wert, Kreislauf und Verantwortung aufwerfen.
Stadt, Struktur und Utopie
Die gebaute Umwelt – und ihre Versprechen – ist ebenfalls Thema der Ausstellung:
Anna Thiele zeigt in ihren Fotografien die Architektur von Einfamilienhaussiedlungen am Rande Berlins. Der Traum vom Eigenheim wirkt hier gleichförmig und dennoch widersprüchlich: modular, verdichtet – und merkwürdig menschenleer.
Norman Behrendt nimmt sich in Exit den Notausstiegen der Berliner U-Bahn an. Diese architektonischen Elemente, meist unbeachtet, werden bei ihm zu rätselhaften Portalen – Ausdruck einer unter der Oberfläche lauernden Unsicherheit im städtischen Raum.
Auch Florian Bong-Kil Grosse richtet seinen Blick auf urbane Alltagsmomente: In einer Serie von Schwarzweißfotos beobachtet er Menschen mit Zeitungen aus der Vogelperspektive. Der einheitliche Bildausschnitt und die rhythmische Hängung der Bilder verleihen dem scheinbar Banalen eine fast choreografische Wirkung.
Arbeit, Identität und gesellschaftliche Dynamiken
Katharina Gruzei zeigt in ihrer Serie Bodies of Work eindrucksvolle Bilder aus einer Donau-Schiffswerft. Die industriellen Arbeitsräume werden bei ihr zu futuristisch anmutenden Szenen – fast schwerelos, zwischen Gegenwart und Imagination.
Lee Chang Ming hingegen begibt sich in seine persönliche Vergangenheit: Er verarbeitet Erfahrungen aus dem Militärdienst in Singapur. Der dortige Dschungel, einst kolonial geprägt, wird für ihn zu einem Ort queerer Selbstverortung und ökologischer Vielfalt – abseits normierter Identitäten.
In Mirages thematisiert Duy-Phuong Le Nguyen den Kontrast zwischen Hochglanzwerbung und Wirklichkeit. In nächtlichen Aufnahmen zeigt er Leuchtreklamen in Vietnam, die luxuriöses Wohnen versprechen – aber inmitten einer Realität stehen, in der viele Menschen kaum Zugang zu diesen Verheißungen haben.
Ein Netz aus Perspektiven
Die Ausstellung DIS/CONNECT bringt vielfältige Sichtweisen zusammen – fotografisch, formal, inhaltlich. Die gezeigten Arbeiten greifen das Thema Netzwerk auf, indem sie Beziehungen herstellen: zwischen Menschen und Orten, Vergangenheit und Gegenwart, Sichtbarem und Unsichtbarem. Dabei wird deutlich: Das Verbindende ist oft auch das Trennende – und gerade darin liegt die Spannung unserer Zeit.
Fotograf:innen
Norman Behrendt, Sabine Bungert & Stefan Dolfen, Gabriele Engelhardt, Florian Bong-Kil Grosse, Katharina Gruzei, Markus Kaesler, Duy Phuong Le Nguyen, Lee Chang Ming, Elmar Mauch, Daniela Risch, Marike Schuurman, Anna Thiele
Zeitraum: 13. Juni – 13. Juli 2025 Eröffnung: Samstag, 14. Juni 2025, 20:00 Uhr
Öffnungszeiten:
13.–15. Juni: Fr–So, 11:00–18:00 Uhr
16. Juni – 13. Juli: Do–So, 16:00–19:00 Uhr
Donnerstag, 19. Juni (Feiertag): regulär geöffnet
Zeitgleich findet in der ersten Etage des Künstlerhaus die Ausstellung „Schwarzseite Projekt“ statt. Die zweite Ausgabe des Projektes zeigt 19 Positionen aus acht Ländern, die unterschiedliche Ansätze, Themen und Techniken zeigen.
Was nach dem Tod passiert
Im Stück „Nach dem Ende“ von BKM Performance thematisierten die beiden Schauspielerinnen auf der Bühne des Theaters im Depot, was passiert, wenn jemand stirbt. Die Premiere fand am 12. Juni 2025 statt.
Das Theaterkollektiv BKM Performance existiert seit 2018 und steht für ortsspezifische, partizipative und innovative Projekte. Auch in diesem Stück rückten Malin Baßner und Sofie Ruffing ein Thema ins Zentrum, das oft verdrängt wird: den Tod. Doch bei „Nach dem Ende“ ging es nicht um die Seele oder eine mögliche Wiedergeburt, sondern ganz konkret um den Körper – um den toten Körper, die Leiche. Oder wie Malin Baßner bevorzugt sagt: „der Vorstorbene“. Um diesen ranken sich Mythen, falsche Vorstellungen und gesellschaftliche Tabus.
Zwischen Leichenwaschung und letzten Wünschen
Auf der Bühne standen drei grasbewachsene Hügel, die eine friedliche, fast symbolische Atmosphäre erzeugten. Die Performance selbst war reduziert, aber eindrücklich – und im Mittelteil besonders dokumentarisch, fast wie ein sachliches Lehrvideo.
Sofie Ruffing (links) und Malin Baßner zeigten, was mit dem Körper nach dem Tod passiert. (Foto: (c) BKM Performance)
Malin Baßner und Sofie Ruffing haben beide Erfahrung im Bestattungswesen; Malin Baßner arbeitet sogar heute noch in Teilzeit bei einem Bestattungsunternehmen. So war es nicht verwunderlich, dass im Mittelteil des Stücks plötzlich ein Sarg hereingerollt wurde und Sofie Ruffing darin Platz nahm. Zwei Zuschauer*innen wurden gebeten zu assistieren und halfen beim symbolischen Waschen und Ankleiden des Körpers. Dabei erklärte Malin Baßner ruhig und anschaulich, wie eine Versorgung Verstorbener abläuft – samt der kleinen Tricks, die dabei zur Anwendung kommen.
Danach erklärte Sofie Ruffing ebenso klar, welche Prozesse beim Verwesen eines Körpers ablaufen. Nicht ganz angenehme, wenn man darüber nachdenkt, aber es hat schon etwas, zur „Schnapspraline“ zu werden. Außen hart, innen flüssig.
Durch das Stück regten die beiden Schauspielerinnen das Publikum dazu an, sich bewusst mit der Frage auseinanderzusetzen, was nach dem eigenen Tod passiert – und wie der letzte Abschied gestaltet sein sollte.
Eigentlich ist das ein Thema, das eher in den dunklen November gehört – doch mit dieser Idee und Spielfreude schafften es Malin Baßner und Sofie Ruffing, dass auch im heißen Juni über den eigenen Tod nachgedacht werden konnte.
Nach dem Ende – und vor dem Nachdenken
„Nach dem Ende“ ist ein stilles, eindringliches Stück, das sich einem Thema widmet, das im Alltag oft verdrängt wird. Gerade deshalb ist es wichtig, dass es auch auf einer Dortmunder Bühne sichtbar wird – mit Respekt, Mut und einer Prise schwarzem Humor.
Von Karl zu Karl – Musik für Kaiser, Kirche und Krone
Karl der Große und Karl IV. haben beide eine Beziehung zu Dortmund – darauf wies Torsten Mosgraber, der Leiter des Klangvokal Festivals, vor Beginn des Konzerts hin. Karl der Große gab einst den Anstoß zur Gründung Dortmunds, während Kaiser Karl IV. die Stadt später besuchte – und dabei nicht ohne eine Reliquie wieder abzog.
Am 12. Juni 2025 sang das Tiburtina Ensemble in der Marienkirche ein Konzertprogramm mit Musik aus den Epochen dieser beiden Herrscher. Der aus sechs Sängerinnen bestehende tschechische Chor trat an diesem Abend zwar mit einer Stimme weniger auf, doch der musikalischen Ausdruckskraft tat dies keinen Abbruch: Es entstand ein eindrucksvolles, klanglich reiches Erlebnis.
Musikalische Zeitreise vom Frühmittelalter zur Gotik
Das Programm verband Musik aus der Zeit Karls des Großen mit Werken aus der Epoche Karls IV. – zwei Epochen, in denen sich Reichsidee, Frömmigkeit und kulturelle Blüte gegenseitig befruchteten. Die vorgetragenen Gesänge, Tropen, Responsorien und Motetten zeichneten ein vielstimmiges Porträt europäischer Musikgeschichte – von der Strenge karolingischer Liturgie bis hin zur emotional aufgeladenen Mehrstimmigkeit des Spätmittelalters.
das Tiburtina Ensemble in der MArienkirche. (Foto: (c) Céline-Christine Spitzner)
Neben dem eindringlichen Gesang, der sowohl vielstimmig als auch in solistischen oder Duett-Formationen erklang, bereicherte Ensembleleiterin Barbora Kabátková einige Stücke durch ihr Spiel auf zwei mittelalterlichen Harfen.
Vor allem der erste Konzertteil war geprägt von klösterlicher Schlichtheit und spiritueller Tiefe – eine Einladung zur Kontemplation und inneren Einkehr. Doch das Tiburtina Ensemble verstand es ebenso, die sakrale Musik der Gotik mit ihren Anfängen der Mehrstimmigkeit eindrucksvoll zur Geltung zu bringen – und so den klanglichen Bogen zwischen mystischer Innerlichkeit und geistlicher Pracht wirkungsvoll zu spannen.
Champagner, Polka und Operettenglanz nicht nur im Zeichen der Familie Strauss
Das Programm trug den Titel „6 Sträuße“ – und da es am 06.06.2025 im Opernhaus Dortmund stattfand, war schnell klar: Es ging weder um Blumensträuße noch um die gleichnamigen Vögel, sondern in erster Linie um die berühmte österreichische Musiker- und Dirigentenfamilie Strauss. Daneben hatten sich auch Richard Strauss und Oscar Straus „hineingemogelt“ – beide weder verwandt noch verschwägert mit der namensgebenden Dynastie.
Durch das Programm führte der unterhaltsame Götz Alsmann. Dabei fiel auf: Tatsächlich kamen nur fünf „Sträuße“ musikalisch zu Gehör – doch dazu später mehr.
Im Zentrum des Abends stand klar die Operette „Die Fledermaus“ von Johann Strauss (Sohn), die aktuell auch auf dem Spielplan des Hauses steht. So erklang die spritzige Ouvertüre, es wurde dem Champagner gehuldigt – jenem „Gesellen“, der in der Operette bekanntlich an allem schuld ist.
Auch Werke von Johann Strauss’ jüngeren Brüdern Josef und Eduard kamen zur Aufführung: Kleine, schwungvolle Polkas, temperamentvoll interpretiert von den Dortmunder Philharmonikern unter der Leitung von Motonori Kobayashi.
Für einen stilistischen Kontrast sorgten die Kompositionen von Richard Strauss. Von ihm spielte das Orchester unter anderem die Arie „Großmächtige Prinzessin“ aus Ariadne auf Naxos, die stimmungsvolle „Mondscheinmusik“ aus Capriccio sowie vier Orchesterlieder – ein Ausflug in die spätromantische Klangwelt mit modernen Anklängen.
Götz Alsmann, der in Dortmund bereits mit „Der Ring an einem Abend“ große Erfolge feierte, überzeugte erneut als charmanter Erzähler. Mit Witz und Wissen berichtete er über die „Sträuße“ und erzählte, wie „Die Fledermaus“ in seiner Familie zu einem jährlichen Ritual wurde.
Auch als Sänger trat Alsmann in Erscheinung: Mit „Ich hab’ ein Bad genommen“ aus Oscar Straus’ Operette Die lustigen Nibelungen lieferte er eine heitere musikalische Einlage.
Und was war mit Johann Strauss Vater? Dessen Abwesenheit im regulären Programm erklärte Alsmann augenzwinkernd mit seinem „unmoralischen Liebesleben“ – ließ es sich aber nicht nehmen, dessen bekanntestes Werk, den „Radetzky-Marsch“, dennoch zu präsentieren. Als Zugabe erklang dieser natürlich ein zweites Mal.
Besonders hervorgehoben sei auch Sungho Kim, der in seiner Rolle als Alfred aus der Fledermaus glänzte und mehrfach mit Auftritten das Programm bereicherte.
Weitere Aufführungen finden am 21.06.2025 um 19:30 Uhr sowie am 29.06.2025 um 18:00 Uhr statt. Mehr Informationen unter: www.theaterdo.de
Ein musikalisches Denkmal für Palestrina
Zwei Tage, zwei Welten: Am 3. Juni pulsierende westafrikanische Rhythmen mit Habib Koité im domicil – am 4. Juni geistliche Klanglandschaften der Renaissance in der Marienkirche. Der britische Vokalchor Stile Antico widmete sein Programm ganz dem Werk Giovanni Pierluigi da Palestrinas und entführte das Publikum in eine Welt voll klanglicher Klarheit und spiritueller Tiefe. Ein Abend, der zur inneren Einkehr einlud – mit geschlossenen Augen und offenen Ohren.
Das Konzert fand im Rahmen des Klangvokal Musikfestivals Dortmund statt, das jedes Jahr internationale Vokalensembles und Solist:innen in die Stadt bringt. Die stimmungsvolle Atmosphäre der Marienkirche bildete den idealen Raum für dieses besondere Programm.
Palestrina (ca. 1525–1594), Hofkapellmeister in Rom, gilt als Inbegriff der katholischen Kirchenmusik nach dem Konzil von Trient. Seine Kompositionen stehen für Ausgewogenheit, Klarheit und spirituelle Tiefe – und genau diese Qualitäten brachte das zwölfköpfige Ensemble in beeindruckender Weise zur Geltung. Die sorgfältig zusammengestellte Werkauswahl reichte von bekannten Motetten wie Sicut cervus oder Tu es Petrus bis hin zu Auszügen aus der berühmten Missa Papae Marcelli.
Stile Antico brachten den Zuhörenden die Musik der Spätrenaissance Palestrinas näher. (Foto: (c) Fiona Bischof)
Doch das Programm blieb nicht bei Palestrina allein: Auch Stücke seiner Zeitgenossen wie Josquin Desprez (Salve Regina) oder Tomás Luis de Victoria (Trahe me post te) fanden ihren Platz – ebenso wie selten aufgeführte Werke etwa von Felice Anerio oder Gregorio Frances. Besonders spannend: Der Ausflug in die Gegenwart mit A Gift of Heaven, einer Komposition der Britin Cheryl Frances-Hoad. Hier zeigte sich, wie geistliche Musik auch heute noch neue Wege gehen kann.
Stile Antico: Klangliche Perfektion
Was Stile Antico so besonders macht: Ein ausgewogener, klarer Chorklang, bei dem jede Stimme ihren Platz hat, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Fein nuancierte Dynamik, perfekte Intonation und ein Höchstmaß an Präzision prägten den Abend.
Der Auftritt in der Marienkirche war nicht nur ein Tribut an einen der wichtigsten Komponisten der Musikgeschichte, sondern auch ein Plädoyer für die zeitlose Schönheit der Vokalmusik. Wer dabei war, dürfte tief beeindruckt gewesen sein – und vielleicht auch ein kleines bisschen geerdeter aus diesem musikalischen Raum der Stille herausgetreten sein.
Westafrikanischer Groove im domicil
Am 3. Juni 2025 machte ein Weltstar Halt im Dortmunder domicil: Der malische Musiker Habib Koité trat im Rahmen des Festivals Klangvokal mit seinem neuen Ensemble Mandé Sila auf. Mit über 400.000 verkauften Alben und mehr als 1.700 Konzerten weltweit zählt Koité zu den bekanntesten Musikern des afrikanischen Kontinents. Er war bereits an internationalen Projekten wie Desert Blues mit Touareg-Musikern und Acoustic Africa mit Künstlern wie Vusi Mahlasela und Dobet Gnahoré beteiligt.
Der Name Mandé Sila bedeutet „Der Weg des Manding-Reiches“ und steht sinnbildlich für die kulturelle und musikalische Vielfalt Westafrikas. Das Ensemble zelebriert diese Vielfalt, indem es traditionelle Musikformen bewahrt und zugleich neue klangliche Perspektiven erschließt. Begleitet wurde Koité von drei herausragenden Musikern: Aly Keïta aus der Elfenbeinküste am Balafon, Lamine Cissokho aus dem Senegal an der Kora und Mama Koné aus Mali, langjähriger Begleiter Koités an Djembe, Kalebasse und elektronischen Pads.
Mandé Sila (v.l.n.r.) Aly Keïta, Habib Koité, Lamine Cissokho und Mama Koné. (Foto: (c) Celine-Christine Spitzner)
Karibische Assoziationen und westafrikanische Lebensfreude
Besonders Aly Keïta begeisterte mit seinem virtuosen Spiel auf dem Balafon und zog immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich. Die hellen, schnarrenden Klänge erinnerten an karibische Musik – kein Zufall, denn das Balafon gilt als Vorläufer von Instrumenten wie der Marimba. Durch die traurige Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels gelangten viele musikalische Traditionen Westafrikas in die Karibik, wo sie sich weiterentwickelten.
Doch auch Lamine Cissokho und Mama Koné überzeugten mit Spielfreude und Virtuosität an Kora und Percussion. Habib Koité selbst benötigte nicht mehr als seine akustische Gitarre und seine charismatische Ausstrahlung, um das Publikum in seinen Bann zu ziehen.
Das Konzert war wie geschaffen dafür, sich vom Rhythmus mitreißen zu lassen – was viele im Publikum auch begeistert taten. Für einen Abend verwandelte sich das Dortmunder domicil in eine westafrikanische Tanzfläche voller Energie und Lebensfreude.
Tragischer Held im Zentrum der Götterdämmerung
Wenn sich die Oper selbst auf die Bühne hebt, wird der Mythos greifbar. In Richard Wagners Götterdämmerung – dem letzten Teil seines monumentalen Ring des Nibelungen – verschränkt Bühnenbildner Bert Neumann das Spiel mit einer Bühne auf der Bühne. Die Dortmunder Premiere fand am 18. Mai 2025 statt.
Nichts ist größer als die Natur. Der Raub des Rheingolds – das aus dem Rhein geborgene Gold – bringt das Gleichgewicht der Welt aus dem Lot. Die Entfremdung von der Natur zeigt sich in der unstillbaren Gier nach Macht und technischer Beherrschung. Doch die Natur ist mehr als Kulisse: Sie ist Richterin. Sie straft jene, die sie ausbeuten, und eröffnet am Ende die Möglichkeit eines Neubeginns. Auch Wotan, der oberste Gott, bleibt davon nicht verschont. Sein Speer, Symbol seiner Herrschaft, wird durch Siegfried zerbrochen, und mit ihm die in ihn eingeritzten Runen, die einst die Ordnung der Welt festschrieben. Obwohl Wotan in der Götterdämmerung selbst nicht erscheint, ist sein Sturz im vierten Teil vollzogen. Die Saat der Machtgier geht auf.
Konwitschnys Siegfried: Naiv, getrieben, tragisch
In Peter Konwitschnys Inszenierung liegt der Fokus ganz auf Siegfried (Daniel Frank). Der Regisseur rückt weniger den göttlichen Weltenbrand in den Mittelpunkt als das private Drama eines naiven Helden. Siegfrieds Weg vom liebenden Idealisten bis zum ahnungslosen Verräter zeigt eine Figur, die an ihrer Unschuld ebenso zugrunde geht wie an der Welt, die ihn formt. Der Gedächtnisverlust durch einen Zaubertrank und der Verrat an Brünnhilde stehen exemplarisch für einen moralischen Verfall, der am Ende alle betrifft, Menschen wie Götter.
Ein Bild aus frühreren, glücklichen Tagen. Brünnhilde (Stéphanie Müther ) udn Siegfried (Daniel Frank). (Foto: (c) Thomas M. Jauk)
Konwitschnys Siegfried ist kein übermenschlicher Held, sondern ein tragischer Irrläufer in einer verlogenen Welt. In einer Szene taucht er in einer Art Asterix-Kostüm auf, was zum Glück ein seltener Ausflug ins Alberne bleibt. Die Kostüme insgesamt sind zeitgenössisch und unprätentiös gehalten.
Brünnhilde ist der emotionale Kern des Abends. Der Verlust von Siegfrieds Liebe ist für sie mehr als eine Kränkung, es ist der Zusammenbruch ihrer Wirklichkeit. Stéphanie Müther bringt diese Brüche stimmlich wie darstellerisch eindrucksvoll zum Ausdruck. Ihre Brünnhilde vereint Wut, Trauer und letztlich Erlösungskraft in einer vielschichtigen Interpretation.
Auch die übrigen Rollen sind hervorragend besetzt: Barbara Senator überzeugt als naive, leicht lenkbare Gutrune; Samuel Youn gestaltet den manipulativ-kalten Hagen mit beeindruckender Präsenz, und Joachim Goltz gibt dem schwankenden König Gunther eine tragische Tiefe.
Die Dortmunder Philharmoniker unter Generalmusikdirektor Gabriel Feltz liefern ein klanglich detailreiches und dramatisch dichtes Fundament, das der Inszenierung Kraft und Tiefe verleiht.
Am Ende gab es einige vereinzelte Buhrufe für die Regie – doch der überwältigende Applaus für Sänger:innen, Orchester und Ensemble machte deutlich: Diese Götterdämmerung war keine Apokalypse, sondern eine durchdachte theatrale Reflexion – über Macht, Irrtum, Liebe und den letzten Klang der Welt.