„Under Pressure – Die Zukunft war gestern“ im Schauspielhaus Dortmund

Wölfe heulen – und sie sind niemals schwach. Manchmal ist das Leben zum Heulen. Und nicht besonders einfach. Und was bringt die Zukunft? „Life is shit and then you die“? Zehn Jugendliche begeben sich auf eine Forschungsreise – durch ein Portal in eine ungewisse, andere Welt.

Drei zunächst graue Objekte und zwei Zelte bilden das Bühnenbild, die Darstellenden tragen graue Kostüme. Einheitlich und einförmig – und doch individuell durch farbig geschminkte Gesichtspartien. Die grauen Elemente dienen als Auf- und Abgänge, sind aber auch große Projektionsflächen für bewegte Bilder. Immer wieder wird eine Nachrichtensendung eingeblendet.

Individuelle Westen ergänzen bald die Kostüme. Keine homogene Masse. (Bühne und Kostüme: Slynrya Kongyoo.)

Gedanken zur Zukunft zwischen Krise und Hoffnung

Auf ihrer Forschungsreise führen sie Tagebuch, machen sich Gedanken um ihre persönliche Zukunft – und das große Ganze. Sie sind gesellschaftlich und politisch, lokal und global hochaktuell. Das Dortmunder Weihnachtsbaum-Szenario aus dem Jahr 2024 findet Erwähnung, vor allem jedoch das Klima und andere Krisen.

Das ensemble vom Jugendclub 16Plus. (Foto: (c) Lena liedmann)
Das Ensemble vom Jugendclub 16Plus. (Foto: (c) Lena Liedmann)

Eine Fülle von Themen, mit denen sich die Jugendlichen des Jugendclubs 16Plus des Schauspielhauses Dortmund in der neuesten Ausgabe unter der Leitung von Sarah Jasinszczak seit Beginn der Spielzeit auseinandergesetzt haben. Sie haben eigene Texte und Songs verfasst, die nun auf der Bühne gespielt, gesungen und vertanzt (Choreografie: Birgit Götz) werden.

Eine Begegnung mit Aliens. Putin, Musk und Trump ziehen mit Einkaufswagen auf Shoppingtour und kaufen sich eine neue Welt, die sie „great“ machen wollen. Auch immer wieder: persönliche Gefühle. Wie ist es in der Zukunft? Man verlässt Trampelpfade, geht durch unberührten Schnee oder fährt mit einem Zug ins Neue, ins Ungewisse. Angst? Sicherlich. Aber auch freudige Erwartung.

Sehr amüsant ist die Drucker-Szene – eine schöne Wortspielerei. Und wenn man ins Publikum horcht, kommen vor allem die Gesangs- und Tanzszenen besonders gut an. Auch wenn die Spielfläche dafür gern ein wenig größer hätte sein dürfen.

Zum Abschluss ein an James Krüss und seine „sonderbare Stadt Tempone“ erinnernder Text, in dem es von der Gegenwart rückwärts geht. So können einige Fehlentwicklungen quasi rückgängig gemacht werden – doch es bedeutet auch: „Die Zeit läuft und läuft, bis wir plötzlich nicht mehr da sind.“

Ein ausgefüllter Theaterabend mit gut aufgelegten Darstellenden, mit poetischen, persönlichen, nachdenklichen und humorvollen Texten. Zum Abschluss gab es jede Menge verdienten Applaus für eine starke Leistung.

Weitere Termine:

14.05.2025, 20 Uhr, Studio des Schauspielhauses Dortmund
Das Stück läuft zudem beim „UnruhR-Festival“ der Jugendclubs in Duisburg im Juni.

Für die neue Spielzeit ist wieder ein Stück zu einem selbst gewählten Thema geplant. Infos folgen.




Das Festival, das Seminar heißen musste – The Long Road to the Director’s Chair

Zweihundertzwanzig Frauen, darunter fünfzehn Regisseurinnen, zehn Männer. Um die sechzig Filme. Fünfzig Jahre verschollen.
Erst 2023 fand sich in einem norwegischen Archiv das dokumentarische Bildmaterial zum ersten Frauenfilmfestival, das 1973 in Berlin im „Arsenal“ stattfand, wieder. Die Tonspur tauchte erst später auf. Behutsam wurde das Material aufgearbeitet – von der norwegischen Filmemacherin Vibeke Løkkeberg, die damals drehte, und anderen. Aber das Festival musste ein Seminar sein, denn ein evangelisches Bildungswerk war der Geldgeber. Sei’s drum. Es wurden internationale Filme gezeigt, Regisseurinnen kamen unter anderem aus den USA und Italien, und es wurde diskutiert.
Über Abtreibung und den weiblichen Körper. Über Respekt – und vor allem Respektlosigkeit – in der von Männern dominierten Film- und Fernsehbranche. Über gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit. Klingeln die Ohren? Sind das nicht auch heute noch Themen? Es klingt so bekannt. Sind wir also nicht weiter?

Ein Blick zurück – und wie viel Gegenwart darin steckt

Nun, im anschließenden Podiumsgespräch kommt diese Frage auch auf. Christiane Schäfer-Winkelmann, die damals dabei war, damals beim WDR gearbeitet hatte und sich heute vor allem als Produzentin engagiert (z. B. Fliegende Bilder am Dortmunder U), Stefanie Schulte Strathaus, Vorstand im Arsenal – Institut für Film und Videokunst Berlin, die über dieses Festival auch ihre Magisterarbeit in den Achtzigerjahren schrieb, und Dr. Maxa Zoller, künstlerische Leiterin des Internationalen Frauen* Filmfests Dortmund+Köln, reflektieren dieses erste Festival, ergänzen und kommen zu dem Schluss: Wir sind heute durchaus weiter – aber ein Rollback sei spürbar.
Vielleicht darf Frau heute eher zeigen, dass sie etwas kann, und muss ihre Technikkenntnisse nicht mehr verstecken, damit Männer mit ihr zusammenarbeiten. Vielleicht muss Frau auch nicht verheiratet sein, um mehr Respekt zu bekommen. Fräulein Paul wird nicht mehr Paulinchen genannt. Und vielleicht gilt Frau nicht mehr automatisch als aggressiv, hysterisch oder lesbisch, wenn sie weiß, was sie will.
Aber. Jede kennt ein Aber. Ich bin sicher.

Sprachen über das erste Frauenfilmfestival (v.l.n.r.) Christiane Schäfer-Winkemann, Stefanie Schulte Strathaus und die aktuelle Festivalleiterin Maxa Zollen (Foto: (C) Martina bracke)
Sprachen über das erste Frauenfilmfestival (v.l.n.r.) Christiane Schäfer-Winkelmann, Stefanie Schulte Strathaus und die aktuelle Festivalleiterin Maxa Zollen (Foto: (C) Martina bracke)

Warum begehen wir heute immer noch einen Equal Pay Day? Dieses Jahr am 7. März.
Warum sitzen im aktuellen Bundestag wieder anteilig noch weniger Frauen als zuvor? 32,4 % jetzt – 34,8 % zuvor. Der Anteil in den Fraktionen reicht von 61,2 % bis zu 11,8 %.
Warum reden alle immer noch über § 218? „Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland gemäß § 218 Strafgesetzbuch (StGB) grundsätzlich für alle Beteiligten strafbar.“ (BMFSFJ). Es gelten Ausnahmen.

Der Einblick in das damalige Festival, die Arbeit und die Diskussionen als Ausgangspunkt auch für Netzwerkarbeit war sehenswert und hörenswert. Protagonistinnen zu kennen und zu treffen – ebenso.
Im Anschluss konnte die filmische Ebene weiter vertieft werden, denn es folgten vier Kurzfilme, zusammengestellt von Dr. Maxa Zoller, unter anderem mit Werken der Festival-Erfinderinnen Helke Sander und Claudia von Alemann. Experimentell, subjektiv, dokumentarisch. Spannend.

Das Programm lief am Sonntag, 06.04.2025, im Roxy-Kino an der Münsterstraße.




Wie viele Zähne hat eine Schnecke? – Das Gewicht der Ameisen

Wie viele Zähne hat eine Schnecke?
Aber halt – geht es nicht um Ameisen? Sagt ja schon der Titel des Theaterstücks, das am Sonntag Premiere im KJT, dem Kinder- und Jugendtheater an der Sckellstraße, hatte. Und was hat es mit der Pizza auf sich?

Aber erst einmal sehen wir ein minimalistisches Bühnenbild, das sich in so ziemlich alles verwandeln kann. Ein weißer Kreis bedeckt den Boden, ein weiterer Kreis bildet den Hintergrund. Lichteffekte und wenige Möbel auf Rollen sind Werbeplakat und Schrank oder Schreibtisch und Krankenbett zugleich. Die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler stehen außerhalb der Kreise, in ihrer Nähe einige Requisiten – vor allem Perücken.

Wo wir uns gerade befinden in dem Stück des kanadischen Autors David Paquet, ergibt sich aus den Texten der Darstellenden, die fast alle mehrere Rollen spielen, und aus einem beschreibenden Off-Text, den meistens Thomas Ehrlichmann spricht.
Das harmoniert im gesamten Stück ausgezeichnet als Teil der Inszenierung (Regie: Annette Müller) und ermöglicht sowohl einem sehenden als auch einem nichtsehenden Publikum, der Handlung zu folgen.

Turbulent geht es bereits los: Der Direktor (Harald Schwaiger) erklärt über ein Mikrofon seiner Schule, man habe es unter die letzten zehn der schlechtesten Schuleinrichtungen geschafft. Ihm sei das egal, er gehe in einem Jahr in Rente.
Aber vielleicht ist es ihm doch nicht so egal, denn er ruft die „Woche der Zukunft“ aus. In dieser Woche soll auch eine Schülersprecherin oder ein Schülersprecher gewählt werden. Die erste Kandidatin wird zwangsverpflichtet. Nachdem sie mit einem Werbeplakat auf der Schultoilette gekämpft hat, soll Jeanne (Sar Adina Scheer) antreten. Die hat erst wenig Lust, doch dann nimmt sie die Herausforderung an.
Ihr Gegner ist Olivier (Jan Westphal), ein belesener Junge, der auf der Suche nach Fakten ein Buch über unnützes Wissen erhält.

Bianka Lammert, Harald Schwaiger, Jan Westphal, Sar Adina Scheer, Thomas EhrlichmannFoto: (c) Birgit Hupfeld
Bianka Lammert, Harald Schwaiger, Jan Westphal, Sar Adina Scheer, Thomas Ehrlichmann
Foto: (c) Birgit Hupfeld

Beide suchen sich Unterstützung – mal mehr, mal weniger erfolgreich –, müssen sich mit (Alb-)Träumen und Realitäten auseinandersetzen, mit Gerechtigkeiten und Ungerechtigkeiten und mit unerwarteter Konkurrenz.

Zwischen Lachen und Lebensfragen

Schon zu Beginn reizen Text und Darstellung zu den ersten Lachern. Die Inszenierung zeigt eine Leichtigkeit, und die Schauspielerinnen (in vielen kuriosen Rollen: Bianka Lammert) und Schauspieler sind extrem gut aufgelegt. Dabei geht es um schwergewichtige Themen: Umwelt und Politik, das Erwachsenwerden, die eigene Haltung, die Ohnmacht, selbst etwas ändern zu können.
Jede und jeder trägt sein eigenes Päckchen. Aber verzagen? Und dann ist neben dem Ich auch noch das Wir. Da geht noch was. „Nichtstun hat Konsequenzen. Wer nichts sagt, sagt ja.“

Die Figuren erleben Rückschläge und Motivation, kommen zu (be)merkenswerten Erkenntnissen: „Optimismus ist ein Muskel, den musst du trainieren, sonst verkümmert er.“
Es wird gesungen, gelacht – und noch ist offenbar nicht alles verloren.
Am Ende schwappt der Text ein wenig zu deutlich noch einmal viele Botschaften ins Publikum. Das ist aber auch der einzige kleine Kritikpunkt.

Ansonsten eine beeindruckende Inszenierung eines topaktuellen Stücks mit hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspielern.

Und wie viele Zähne hat nun eine Schnecke? Das kann man in Büchern oder im Netz herausfinden. Man kann aber auch einfach in das Stück gehen und sich die Antworten auf weitere Fragen holen:
Ist der Direktor auch nur ein Mensch?
Was ist mit dem Gewicht der Ameisen?
Und was ist nun mit der Pizza?

Für Jugendliche ab zwölf – und auf jeden Fall auch für alle Erwachsenen! Das altersgemischte Premierenpublikum war begeistert.

Nächste Vorstellungen:
01., 08., 09. April und weitere
im KJT – Kinder- und Jugendtheater an der Sckellstraße, Dortmund
www.theaterdo.de

 




Ein Hoch auf die Druckkunst!

Johannes Gutenberg ist ein Begriff, gilt er doch als Erfinder des Buchdrucks mit der wegweisenden Erfindung der beweglichen Lettern. Das aufwändige manuelle Abschreiben von Texten konnte so rationeller, aber nicht minder schön, abgelöst werden. Die Gutenberg-Bibel gilt auch heute noch als Meisterwerk.

Doch nicht nur das geschriebene Wort, auch Bilder lassen sich mit verschiedenen Methoden der Druckkunst vervielfältigen oder als Unikate erstellen. Die Variationen und Kombinationen sind zahlreich und weisen jeweils eine eigene Ästhetik auf. Sicherlich vielen aus eigener Erfahrung und Schulzeiten bekannt ist der Linoldruck, bei dem das Motiv aus einer Linolplatte geschnitten wird. Und noch einfacher vielleicht aus der Kinderzeit: der Kartoffeldruck.

Aber drucken – und das auch künstlerisch anspruchsvoll – lässt sich mit vielen Materialien: im Hochdruck, im Tiefdruck, mit Holzschnitt, Kupferplatten und so fort. Seit 2018 gehören die traditionellen Drucktechniken zum immateriellen Weltkulturerbe. Die Aufnahme fand am 15. März statt. Seit dieser Zeit gilt das Datum als „Tag der Druckkunst“. Ein guter Grund, um die Spielarten des Druckens zu feiern. In Dortmund gibt es dazu einige Veranstaltungen.

Die Ausstellung „The Other Way Around“

Allen voran die Ausstellung „The Other Way Around“ in der Hansastraße 6-10, dem Ausstellungsraum Hans A. Dortmund.kreativ – eine Stabsstelle der Stadt Dortmund für die Kultur- und Kreativwirtschaft – stellt hier Räume für künstlerische Aktivitäten zur Verfügung, auch zur Belebung des Brückstraßenviertels.

Diese Möglichkeit ergriffen hat Debora Ando, Künstlerin im Künstlerhaus Dortmund und Lehrbeauftragte an der Fachhochschule Dortmund im Fachbereich Design. Ihr schwebte bereits seit einigen Jahren vor, den Tag der Druckkunst gebührend zu feiern. Nun konnte sie einen offenen Aufruf an Künstlerinnen und Künstler mit Bezug zu Dortmund und dem Ruhrgebiet starten. Rund einhundert Bewerbungen gingen ein, sodass die Auswahl nicht leichtfiel. Zu sehen sind Werke, die mit ganz unterschiedlichen Drucktechniken entstanden sind – als Bilder an der Wand, aber auch als Installation oder als dreidimensionales Objekt, wie von dem Dortmunder Marc Bühren. Er zeigt aus seiner Werkreihe „Artificial Landscape (ecological succession)“ ein gefaltetes Papierobjekt mit Linolschnittelementen – auf der Oberseite Blätter in unterschiedlichen Grüntönen und auf der Unterseite digital gedruckte Ausschnitte. Seine Gedanken drehen sich um künstliche Welten und eine Natur, die menschliche Gestaltungen auch wieder überwuchern kann.

Künstlerin Inessa Emmer vor zwei ihrer Arbeiten. (Foto: Martina Bracke)
Künstlerin Inessa Emmer vor zwei ihrer Arbeiten. (Foto: Martina Bracke)

Martin Kesper ist mit einem kleineren Siebdruck-Werk vertreten, vor dem man etwas länger verweilen sollte, denn die zweite Ebene erschließt sich erst bei intensivem Schauen. Das fasziniert Kesper besonders: wie die Menschen seine Kunst sehen und wie sich immer noch etwas „mehr“ entdecken lässt. In diesem Fall im wahrsten Sinne des Wortes.

Sein Werk erscheint in kleiner Auflage und bleibt bezahlbar, was ihm auch ein Anliegen ist. „Waves“ ist für 120 Euro zu erwerben, maximal acht Exemplare sind erhältlich.

In andere Dimensionen stoßen die beiden ausgestellten farbenfrohen Werke der Künstlerin Inessa Emmer vor, die an der Uni Dortmund studiert hat. Sie schafft mit ihrer Druckkunst Unikate. Ihre Arbeiten setzen sich aus verschiedenen Holzschnitten zusammen, die sie mit ihrem eigenen Körpergewicht auf die Leinwand bringt – gern im Großformat.

Auch an anderer Stelle im Ausstellungsraum finden sich noch Holzschnitte, und dennoch unterscheiden sich die Werke der einzelnen Künstler*innen sehr. Es lohnt sich also, sich mit allen Facetten zu beschäftigen.

Dazu gibt es noch einen sogenannten „Reading Room“, in dem weitere Werke in Mappen angeschaut und mit Handschuhen durchgeblättert werden dürfen. So war es möglich, eine ganze Reihe von Werken und Varianten zu präsentieren.

Zum Auftakt gab es zudem eine Siebdruckaktion der Fachhochschule Dortmund. Weitere Programmpunkte sind am 15.03. von 13 bis 16 Uhr der „Druck für Demokratie“ und am 29.03. (Finissage) ein Konzert mit Achim Zepezauer um 19 Uhr.

Die Ausstellung läuft bis zum 29.03.2025. Öffnungszeiten: donnerstags 15 bis 18 Uhr, samstags 12 bis 16 Uhr. Einblicke erhält man übrigens auch, wenn man durch die großzügige Schaufensterfläche schaut – auch an anderen Tagen.

Weitere Veranstaltungen zum Tag der Druckkunst am 15.03.2025 gibt es unter anderem:

  • im Friedrich 7, Friedrich-Ebert-Str. 7 in Hörde
  • im Depot, Immermannstr. 29 – www.depotdortmund.de
  • im Atelier 91, Kreuzstr. 91.

Alle Veranstaltungen bundesweit sind auf der Website www.tag-der-druckkunst.de zu finden.




Opera Passion & Tango – Leidenschaft füllt den Raum

Auf der Bühne im Reinoldisaal steht ein Flügel. Und die Ankündigung, dass der vorgesehene Pianist erkrankt ist. Ballast für den Abend? Nein.
Auf die Bühne kommt für den ersten Teil der arrivierte und preisgekrönte Musiker Karsten Scholz von den Dortmunder Philharmonikern, der scheinbar mühelos in den vergangenen zwei Tagen das vorgesehene Programm einstudieren konnte. Jedenfalls füllt er seinen Part komplett aus und spielt sich virtuos durch den Abend und seinen Solopart von Schumann.

Mit ihm erscheint der Opernstar – mit wehenden Haaren, aber streng mit Fliege und Frack. Der argentinische Bariton Germán E. Alcántara ist auf den Brettern in Theatern wie dem traditionsreichen Teatro Colón in Buenos Aires, in dem auch Caruso, Callas, Domingo und Pavarotti gastierten, ebenso zu Hause wie in London oder Köln. Bereits mehrfach war er zu Gast in Dortmund beim Musikfestival „Klangvokal“. Mit diesem Hintergrund und der Liebe zu Oper und Tango entstand die Idee zu diesem Abend eigens für dieses Festival.

Karsten Scholz von den Dortmunder Philharmonikern am Klavier mit dem Bariton Germán E. Alcántara . (Foto: (c) Klangvokal)
Karsten Scholz von den Dortmunder Philharmonikern am Klavier mit dem Bariton Germán E. Alcántara . (Foto: (c) Klangvokal)

Mit eindrücklicher Leidenschaft erklingen schon die ersten Töne. Germán E. Alcántara ist jemand, der es schafft, auch ohne Kulisse seine Arien schauspielerisch zu interpretieren – mit ausdrucksstarker Mimik, Gestik und vollem Körpereinsatz. Dabei reicht seine Stimme bereits aus, um den Saal zu fesseln. Doch so ist es ein Vergnügen, ihn nicht nur zu hören, sondern ihm auch zuzuschauen.

Es erklingen Arien aus Mozarts Don Giovanni und Bellinis I Puritani – es geht um Liebe und Leidenschaft, um Verrat und Rache. Verdis Maskenball und Rigoletto liefern weitere Arien. Mit dem ausführlichen Programmheft, das alle Liedtexte im Original und in Übersetzung enthält, lassen sich die Passagen sehr gut verfolgen – wenn man es denn will. Man kann sich aber auch einfach den Tönen überlassen.

Am Ende von Verdis Anklage an die „abscheulichen Höflinge“ rauft sich der Interpret die Haare, reißt sich die Fliege ab und fällt vor dem imaginären Gesindel auf die Knie – voller und überzeugender Leidenschaft. Nicht umsonst heißt der Abend Opera Passion.

Tango-Passion: Von Buenos Aires nach Dortmund

Und der Tango?
Die Tango-Passion erfüllt sich im zweiten Teil. Dafür konnte das Klangvokal-Festival unter der Leitung von Torsten Mosgraber kurzfristig eine Tangospezialistin und Arrangeurin aus Paris gewinnen, die selbst ein Tangoorchester leitet. Auf der Dortmunder Bühne gehören Lysandre Donoso, ein gefragter Bandoneonist, und der Bassist Lucas Frontini zum Ensemble. Gemeinsam mit dem erkrankten Knut Jacques und Alcántara entwickelten sie das Programm.

Germán E. Alcántara – mit streng zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren, schwarzem Hemd, oben offen, und Jackett – ergibt sich im ersten Tango der Trunkenheit. In zwölf Chansons sind auch die Liebe und die Umgebung Thema, in der der Tango Argentino seine Heimat hat.

Der Tango hat es in den „Operntempel“ Teatro Colón in Buenos Aires geschafft, entstanden ist er jedoch auf den Straßen von Buenos Aires und Montevideo – beeinflusst von Einwanderern aus aller Welt.

Alcántara interpretiert Chansons von Troilo, Stampone, Mores, Gardel und anderen – Piazzolla darf dabei natürlich nicht fehlen.

Ihren instrumentalen Solopart bestreiten die Musikerinnen und Musiker mit einem Tango von Luis Bernstein.

Im Grunde könnte es so weitergehen. Doch auch dieser Abend erreicht sein Ende.
Noch nicht ganz.

Zwei Zugaben runden das zweistündige Programm ab. Bei einer davon greift Alcántara selbst zur Gitarre. Eine Strähne hat sich längst aus dem strengen Pferdeschwanz gelöst.

Ein leidenschaftlicher Abend mit einem hervorragenden Ensemble, das harmonierte, obwohl die Pianisten nur zwei Tage zur Vorbereitung hatten. Eine Wiederholung des Abends wäre wünschenswert – es würde sich lohnen.

Das Klangvokal-Festival startet also furios in die neue Saison. Das aktuelle Programmheft erscheint am 26. Februar. Online findet man alle Informationen unter www.klangvokal.de.




Rückspiegel – Dortmunder Kunst im Auswärtsspiel in Hamm

Werke von Dortmunder Künstler:innen kann man in unserer Stadt in Ausstellungen, Galerien, bei den Offenen Ateliers und im öffentlichen Raum sehen – ein Heimspiel also. Dennoch lohnt sich für das Publikum auch die Begleitung zu einem Auswärtsspiel. Dieses fand bis Sonntag im Hammer Gustav-Lübcke-Museum statt.
Nah am Bahnhof und gut erreichbar präsentierte das Museum in der Sonderausstellung „HIER & JETZT – Kunst aus Hamm und Westfalen“ Arbeiten aus der Region, verbunden mit der Verleihung des Hammer Kunstpreises.
Unter den Bewerber:innen waren auch sechs Dortmunder:innen, die mit dem Einzug in die Finalrunde bereits gewonnen hatten: Marc Bühren, Wolfgang Folmer, Bettina van Haaren, Thomas Hugo, Bettina Köppeler und Cornelia Regelsberger waren mit Werken vertreten.

Arbeit von MArc Bühren inm Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Martina Bracke)
Arbeit von Marc Bühren inm Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Martina Bracke)

Marc Bühren, der den ersten Preis des Kunstwettbewerbs „KUNSTStein 2023“ der Stadt Dortmund, ausgestellt in der Reinoldikirche, gewonnen hatte, zeigte in Hamm die Installation „Cocoon I/safety room“. Es handelte sich um eine Kuppel, in der auf einem riesigen, gefalteten Objekt Videoprojektionen liefen und über Kopfhörer Klänge eingespielt wurden. „Das immersive Werk beschreibt eine fiktive Möglichkeitsform der Zukunft, eine Dystopie. Die Projektion auf dem Papier wird durch die Faltung abstrahiert und lädt über die audiovisuelle Gestaltung mit Computeranimation, Realfilm und Sound zu einem Gedankenspiel ein.“ Auf jeden Fall war es sehens- und hörenswert.
Bettina Köppeler zeigte mit „Clean Cut I und II“ zwei großformatige Monotypien. Thomas Hugo war mit drei „Helmen ohne Titel“, Acrylarbeiten auf Schichtholz, vertreten. Cornelia Regelsberger präsentierte eine Papiercollage zum Thema „Müngstener Brücke“. Bettina van Haaren und Wolfgang Folmer zeigten direkt am Beginn der Ausstellung eine monumentale Arbeit. Auf mehr als acht Metern Breite präsentierten sie „Beschreibungen der Ränder“, eine Acrylzeichnung.
Die umfangreiche Ausstellung bot noch viele, sehr unterschiedliche Entdeckungen. Die Sichtweisen und Materialien waren vielfältig, ebenso wie die Themen. Spannend waren beispielsweise zwei gezeichnete und collagierte „Tagebuch-Reihen“ aus den Jahren 2021 und 2023 von Cornelia Niestrath aus Detmold, die man mit dem eigenen Erinnern vergleichen konnte. Oder die Tuschezeichnungen „Täglicher Weg“ von Thomas Prautsch, die wie eine riesige Fotowand wirkten.




Große Bühne für großartige Musik

Eine Frau mit Stimme, ein Mann mit Bass und in der Mitte ihr Gast mit Gitarre. Imagine, was die drei auf der Bühne, den Brettern, die nach Shakespeare die Welt bedeuten, zaubern können.
Schon mit ihren ersten Tönen nehmen sie das erwartungsvolle Publikum gefangen. Leise, aber innig singt Nina Dahlmann „Imagine“. Weitere Ohrwürmer folgen in ihrer ganz eigenen Art. „Summertime“ kehrt in das Wohnzimmer im Piepenstock ein, während draußen Nieselwetter herrscht. Aber das bleibt vor der Tür. Innen begleiten Jens Pollheide am Bass und Reynier Mariño das Publikum bis zum Mond und zurück („Fly Me to the Moon“). Die drei gehen immer wieder eigene Wege mit virtuosen Improvisationen, voller sicht- und hörbarer Spielfreude.

Ein Abend voller Virtuosität und Leidenschaft

Reynier Mariño, gebürtiger Kubaner, verleiht dem Abend eine besondere Note mit spanischen und kubanischen Klängen. In seinen Improvisationen mischen sich Flamenco-Elemente mit der Vielfalt seiner musikalischen Herkunft. Nach diesen, vom Publikum mit Zwischenapplaus gewürdigten Ausflügen, kehren die drei Musikerinnen und Musiker zurück zu ihrer Sängerin, um gemeinsam im „Hotel California“ einzuchecken. Der musikalische Himmel wird mit „Sunny“, dessen Text spanische Strophen erhält, weiter bereist. „Cielo“ – Himmel oder auch Schatz – schwingt in den Melodien mit.

Verzauberten das Piepenstcok (v.l.n.r.) Nina Dahlmann, Reynier Mariño  und  Jens Pollheide. (Foto: (c) Martina Bracke)
Verzauberten das Piepenstcok (v.l.n.r.) Nina Dahlmann, Reynier Mariño und Jens Pollheide. (Foto: (c) Martina Bracke)

Seit etwa einem Jahr spielen die drei Künstlerinnen und Künstler hin und wieder zusammen. Und dieser Abend hätte für viele sicher gern noch länger mit allen dreien weitergehen können. Doch nach diesem ersten Teil verabschieden sich Nina Dahlmann, die unter anderem an der Folkwang Universität und bei renommierten Größen des Jazz studierte, sowie Jens Pollheide, ein namhafter Vertreter der Weltmusikszene, der sich nach diesem Auftritt noch zu einem weiteren Konzert aufmacht.

Die Bühne gehört nun Reynier Mariño allein. Und er füllt sie mit seiner Musik, seiner Energie und seiner Leidenschaft. Flamenco real, kein touristischer Flamenco, erklingt in Klassikern und Eigenkompositionen. Mit Tempo, Witz, Virtuosität und vollem Körpereinsatz nimmt Mariño das Publikum mit. Seine langen Haare fliegen, die Finger gleiten rasant über die Saiten, und das Mikrofon bleibt nicht immer an seinem Platz. Zwischendurch wird die Gitarre zum Rhythmusinstrument, und Mariño zeigt, was alles möglich ist mit Holz und Metall auf einer kleinen Bühne.

Immer wieder erzählt er Geschichten aus seinem Leben und seiner Musik. Er spricht von seiner Leidenschaft fürs Unterrichten, dafür, dass der Flamenco in seiner ursprünglichen und kubanischen Form weiterlebt. Ein Musikstück, das er für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben hat, wurde inzwischen zur Musik einer Netflix-Serie. In Kuba läuft derzeit ein Dokumentarfilm über diesen Meister der Gitarre.

Mariño lebt in Kuba und auf den Kanaren, spielt in der halben Welt und mit der halben Welt, darunter auch die Rolling Stones, Keith Richards eingeschlossen. Die beiden lernten sich auf Kuba kennen und musizierten dort zusammen. Obwohl Mariño hoffte, es bleibe bei einem Song – mehr Rocksongs kenne er nicht –, fanden sie offenbar noch weitere Stücke, die sie gemeinsam spielen konnten.

An diesem Abend gibt Reynier Mariño zwei Zugaben, bevor er die Bühne verlässt. Zeit für Smalltalk mit dem Publikum und eine Zigarette bleibt dennoch. Auf dem Heimweg hallt seine Musik bei vielen sicherlich noch lange nach. Imagine.

Wohnzimmer im Piepenstock

Adresse:
Schildstr. 1
44263 Dortmund-Hörde

Programm:
Aktuelle Termine unter marco-jorge-rudolph.de und auf Facebook. Gastgeber Marco Jorge Rudolph, Schauspieler, Sänger und Kulturwirt, sorgt für eine einzigartige Atmosphäre. Zu den Konzerten, die in der Regel freitags und samstags stattfinden, gibt es eine kleine Speisekarte sowie Getränke gegen Entgelt. Gespielt wird auf Hutbasis.

Der Donnerstagabend war ein relativ spontanes Zusatzkonzert, das trotz fehlender Ankündigung rappelvoll war. Es lohnt sich also, auf kurzfristige Hinweise zu achten!

Musik von Reynier Marino auch auf Youtube.




Balkansoul – Lost (S)heroes

Eine Musik-Theater-Performance des HER.STORY Kollektivs

Nur ein kleines Stückchen Schokolade.

Politische Versprechungen sind oftmals groß, die Bedürfnisse des Einzelnen manchmal eher klein. So beginnt der Abend nach einer kurzen Vorrede mit einem Rückblick auf den Start der neuen Republik Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Folge mit den vielen Versprechen des damaligen Regierungschefs und späteren Staatspräsidenten Tito, unter anderem Wohlstand für alle zu schaffen. In der Menge wünscht sich ein Mädchen nur mal ein kleines Stückchen Schokolade von dem ganzen Glück.

Später geht dieses Mädchen wie viele andere Menschen, darunter viele Frauen, nach Deutschland. Sie kommen über Belgrad, Zagreb, Athen und Stuttgart nach Dortmund. Die Bundesrepublik benötigt Arbeitskräfte. Nach einigen anderen Anwerbeabkommen, z. B. mit Italien, Spanien und der Türkei, wird 1968 das letzte mit Jugoslawien geschlossen. Sie sind GastarbeiterInnen – und sie empfinden sich auch selbst so. Gekommen als Gäste, um etwas Geld zu verdienen, um besser leben zu können, Geld nach Hause zu schicken, an die Familien. Oft kommen sie allein. Kinder bleiben zurück bei den Großeltern, denn die Eltern müssen arbeiten und können sich nicht so viel kümmern. Und es soll ja nur für kurze Zeit sein.

Berührend ist die Abschiedsszene nach einem Besuch, wenn sich Mutter und Tochter wieder trennen müssen. Es ist ja nur noch bis zum Ende der Schulzeit, dann könne die Tochter nach Deutschland kommen, um zu studieren. Wie viele Jahre sind dann schon ins Land gegangen?

Man lebt fürs Wochenende, für Party und Feiern. Man arbeitet im wahr gewordenen Schokoladentraum, in der Dortmunder Schokoladenfabrik, die es in Brackel gegeben hat und deren Reste erst vor knapp zwei Jahren abgerissen wurden. Vielleicht doch kein Traumjob, denn es ist Akkordarbeit am Fließband, die in einer eindringlichen Szene dargestellt wird.

Von Arbeitskämpfen und neuen Herausforderungen

Zwischendurch werden Arbeitskämpfe ausgetragen. Die jugoslawischen Frauen verdienen weniger als ihre Männer – bei gleicher Arbeit. Und alle verdienen weniger als die deutschen ArbeiterInnen.

Die Migrationsgeschichte geht weiter. Auf die „Gäste“, die schon lange in Deutschland leben und hier auch Familien gründeten, folgen Geflüchtete. Anfang der 1990er Jahre bricht das alte Jugoslawien zusammen. Ein Krieg tobt auf dem Gebiet, der die Menschen vertreibt und zu mehreren Nachfolgestaaten führt. So kommen wieder viele nach Deutschland, diesmal um Schutz zu suchen, und auch etliche von ihnen bleiben.

Balkansoul im Fletch Bizzel. Links im Bild Jasmina Music, rechts Sara-Una Hujic. Foto: (c) Martina Bracke
Balkansoul im Fletch Bizzel. Links im Bild Jasmina Music, rechts Sara-Una Hujic. Foto: (c) Martina Bracke

Fragen nach Heimat, Dualität, dem Brückenbauen und dem Nicht-Vergessen, woher man kommt, werden aufgeworfen. Das Stück, konzipiert von der künstlerischen Leitung des Kollektivs, Jasmina Musić, die mit Sara-Una Hujic auch spielt, behandelt viele Facetten und erzählt Geschichten aus mehreren Generationen. Es basiert auf realen Interviews mit hier lebenden GastarbeiterInnen und MigrantInnen und verwebt deren Lebensgeschichten untereinander und mit eigenen Erfahrungen der Darstellerinnen, denn auch sie stammen in erster oder zweiter Generation vom Balkan.

Manchmal wünscht man sich, die einzelnen Geschichten besser verfolgen zu können, denn die Fäden verwirren sich gelegentlich. Vielleicht sind es aber auch zu viele Fäden, die in einer zu kurzen Stunde entrollt werden – so bleiben einige lose Enden übrig.

Aufgebrochen wird das Bühnengeschehen durch Foto- und Videosequenzen des Künstlers Timo Vogt, ergänzt um nachgestellte Tagesschau-Nachrichten, die auf der Leinwand inszeniert werden. Anekdoten vom Dalai Lama, den man „vielleicht“ bekocht hat, und von „Kloppo“, Jürgen Klopp, den man „ganz bestimmt“ bekocht hat, lockern das Stück stellenweise auf – ebenso wie Erinnerungen an die Satellitenschüssel auf dem Balkon, die man als Kind ausrichten musste. Noch ein kleines bisschen nach …

Balkansoul – die Seele des Balkans

Live und kraftvoll singen die Darstellerinnen, vor allem Jasmina Musić, ihre Lieder. Mit Begeisterung wird die Musikrichtung „Sevdalinka“, kurz „Sevdah“, aus Bosnien – ansatzweise vergleichbar mit dem portugiesischen „Fado“ – eingebracht. Die musikalische Leitung lag bei Dixon Ra, der am Theater Fletch Bizzel schon einige Inszenierungen begleitet hat.

Ein letzter Satz nach Max Frisch bleibt in der Luft hängen: „Es wurden Arbeitskräfte gerufen, aber es kamen Menschen.“

Und auf der Bühne liegen ein langer Weg in Form einer Stoffbahn und ein paar Stücke Schokolade.

Weitere Spieltermine:
Freitag, 7. Februar, 20 Uhr
Samstag, 22. März, 20 Uhr

Theater Fletch Bizzel
Humboldtstr. 45
44137 Dortmund

Mehr unter www.fletch-bizzel.de




Der Tag nach dem Tag, an dem niemand starb – Premiere im Studio

Auf der Bühne erleben wir Umut. Die Hoffnung. „Meine Hoffnung“, wie Umuts Mutter zu ihrem Sohn immer sagte. Doch Umut ist nicht der erhoffte Sohn, der in das traditionelle Familienbild passt. Umut ist die Frau, die einmal ein Sohn war, sich aber nicht wie einer fühlt. Sie lebt in Istanbul, schlägt sich durch und geht anschaffen. Umut ist die Frau, die die Hoffnung hat, in ihrer Familie und Gesellschaft so akzeptiert zu werden, wie sie ist.

Ein Monolog voller Intensität

Umuts Geschichte, Träume und Sehnsüchte werden in einem abwechslungsreichen Monolog auf der Bühne des Studios im Schauspielhaus sichtbar. Ein Schminktisch mit mehreren Perücken, eine Couch und ein Fenster nach draußen schaffen verschiedene Spielsituationen. Eine Leinwand im Hintergrund bietet Raum für Einspielungen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer im ausverkauften Haus werden teilweise direkt angesprochen.

Umut erzählt von ihrer Kindheit, Besuchen bei der Familie, dem ersten Kuss, Freiern, die zahlen oder nicht zahlen, Menschen, die sie schützen, und von Gewalt. Das Stück spielt in Istanbul, einer traditionell geprägten Gesellschaft, in der Transsexuelle auf Anerkennung hoffen. Doch bei Demonstrationen und Pride-Paraden werden Wasserwerfer und Schlagstöcke eingesetzt. Dokumentarische Sequenzen zeigen Paraden in den Straßen Istanbuls, Menschen mit Regenbogenfahnen, die von harten Wasserstrahlen verfolgt werden. Ein Aushang vor dem Theatersaal weist darauf hin, dass verstörende Bilder gezeigt werden.

Güler Işik, Regisseurin Füsun Demirel und Şirvan Güler nach der premiere im Studio des Schauspielhauses Dortmund. (Foto: (c) Martina Bracke)
Güler Işik, Regisseurin Füsun Demirel und Şirvan Güler nach der premiere im Studio des Schauspielhauses Dortmund. (Foto: (c) Martina Bracke)

Auch der Titel „Der Tag nach dem Tag, an dem niemand starb“ verdeutlicht, dass Gewalt allgegenwärtig ist für transsexuelle Menschen. Und diese Gewalt fordert Opfer. Oft, so Umut, werden Täter nicht zur Verantwortung gezogen. Sie töten, wie man „eine Fliege erschlägt“.

Ein Monolog, gespielt von zwei Schauspielerinnen (Güler Işik und Şirvan Güler), ermöglicht Interaktion und verleiht dem Text Dynamik. Die beiden geben Umut eine Mischung aus Leichtigkeit und überbordendem Lebens- und Liebeshunger. Dies zeigt sich in musikalischen Sequenzen und Tänzen, die das Publikum zum Mitklatschen und Mitsingen animieren.

Eine eindringliche Inszenierung

Die Inszenierung von Füsun Demirel, einer türkischen Theater- und Filmschauspielerin, die in Italien Schauspiel studiert hat, funktioniert hervorragend. Sie spricht Gefühle an, nutzt den Raum für den dialogischen Monolog und bindet filmische Teile nahtlos ein. Die beiden Darstellerinnen, die ihr viertes Stück auf die Bühne bringen, spielen engagiert und souverän. Dafür erhalten sie am Ende stehende Ovationen.

Die Vorlage stammt aus dem Jahr 2012 und wurde von der türkischen Theaterautorin und Schauspielerin Ebru Nihan Celkan geschrieben. Geboren 1979 in Istanbul, widmet sie sich seit 2005 dem Theater, schreibt, spielt, inszeniert und gibt Workshops. Sie war Teil eines UN-Programms zur Förderung der Frauenrechte. Das Stück wurde in der Türkei an mehreren Theatern gespielt und ist in einem Sammelband des Neofelis-Verlags auf Deutsch erhältlich.

In Deutschland wurden die Aufführungen am Wochenende im Schauspielhaus Dortmund vermutlich erstmals gezeigt – in türkischer Sprache mit deutschen Übertiteln. Diese Übertitel waren bei der Premiere jedoch nicht immer synchron, was es dem nicht türkischsprachigen Publikum erschwerte, dem Geschehen zu folgen.

Die beiden Aufführungen bleiben vorerst die einzigen. Die Produktion wurde vom Migrantinnenverein Dortmund in Kooperation mit dem Taranta Babu e. V. und dem Dietrich-Keuning-Haus realisiert, gefördert durch das Programm „Transkulturelle Impulse“ des NRW-Landesbüros Darstellende Künste. Ayşe Kalmaz, Vertreterin des Migrantinnenvereins, der mit Theaterstücken Frauenperspektiven und Frauenrechte in den Fokus rückt, zeigte sich jedoch zuversichtlich, dass eine Wiederaufnahme 2025 bei einem queeren Festival möglich ist.

Es bleibt zu wünschen, dass noch mehr Menschen Umuts Geschichte erleben und die Hoffnung weitertragen, dass alle Teile der Gesellschaft sichtbar, wahrgenommen und akzeptiert werden. Denn: „Schau, meine Augen sind nicht anders als deine. Mein Lachen ist voller Freude… Ich bin Umut.“ Eine Hoffnung.

 




Weihnachtswahnsinn am Kaminfeuer – „Merry Crisis“ im Schauspielhaus

Ein Kaminfeuer flackert virtuell an der Wand, ein mannshoher Nussknacker flankiert die Bühne, auf der Teddybären sich zwischen einem Sessel und einem Zweisitzer mit Holzbeinen ohne Stehlampe tummeln (Ausstattung: Constanze Kriester). Im sog. „Institut“, dem kleinen Bühnenraum im Erdgeschoss des Schauspielhauses, erwarten rund fünfzig Gäste einen weihnachtlichen Leseabend

In Pyjamas mit langen Morgenmänteln und Pantoffeln nehmen die beiden Schauspielerinnen Marlena Keil und Nika Mišković die Bühne ein und starten direkt mit Ringelnatz. In seinem Gedicht schneit es auch Erbsensuppe mit Speck in die Taschen der Arbeitslosen. Also ganz so gemütlich und heimelig wird der Abend nicht, er ist aber auch mit „Merry Crisis“ betitelt.

In die nächste weihnachtliche Krise eilen die beiden Lesenden nahezu übergangslos. Aufführungen von Krippenspielen mit Sechsjährigen in der Rolle der Jungfrau und Zweitklässlern als gestandenen Männern, mit stolzen Eltern und „Lasagne-Gestank“ im Saal nimmt der amerikanische Autor David Sedaris aufs Korn. Fast können einem die beschriebenen Kinder leid tun, aber die erwachsenen Gäste des Abends amüsieren sich bei dieser scharfen Beurteilung. Auch Charles Dickens‘ Klassiker  „Der Weihnachtsabend“ wird in die Schulaufführungen eingepasst, aber durch die Schauspielerinnen auf der Bühne professionell akzentuiert, bevor wieder die Kritik Sedaris an schlechtem Schultheater zelebriert wird und für weitere Erheiterung sorgt.

Nach einer Mitmachsequenz – alle versuchen „Oh Tannenbaum“ zu singen – leidet man mit dem Tannenbaum nach Hans Christian Andersen, bevor Marlena Keil und Nika Mišković lebhaft in ihren offensichtlichen Lieblingstext einführen. Gevatter Tod übernimmt die Rolle des verhinderten „Schneevaters“ – des quasi Weihnachtsmanns in der Scheibenwelt der Romane von Terry Pratchett.

Danach lässt sich diesmal bestens gestimmt und hörbar harmonischer von allen „Jingle Bells“ intonieren.

In der Pause ist der alkoholfreie Punsch schnell ausgetrunken, doch für einen Glühwein mit Alkohol reicht es, der seinen Weg auch auf die Bühne findet – nur ein „wönziger Schluck“. Nein, die Feuerzangenbowle ist nicht dabei, aber durchaus gelockert geht es mit Ringelnatz und der „Weihnachtsgans Auguste“ von Friedrich Wolf weiter. Dazwischen ein Ausflug mit dem lange nicht mehr gehörten Ephraim Kishon und seiner besten Ehefrau von allen zum humorig-dramatischen Geschenkeequivalent, dem jüdischen Passahfest, zu dem bei Kishon mindestens elf zauberhafte Stehlampen gehören.

Merry Crisis_Nika Miskovic und Marlena Keil (Copyright Charlot Kühn)
Merry Crisis_Nika Miskovic und Marlena Keil (Copyright Charlot Kühn)

Ein Abend zwischen Weihnachtsgans und Wahnsinn, ganz wie auf dem Programmzettel angekündigt. Ein Wahnsinn, zusammengestellt und eingerichtet von Hazal Saracoglu, den alle gut nachvollziehen konnten und über den man – betrifft uns bestimmt nur entfernt – herzlich lachen, mindestens aber kräftig schmunzeln konnte.

Das Geständnis von Nika Mišković, das dies ihr erster Leseabend überhaupt und dann noch auf deutsch gewesen sei, wird mit zusätzlichem anerkennenden Applaus belohnt.

Der Saal wagt sich im letzten Mitmachteil des Abends noch an „All I want for Christmas“ heran und alle sollen ihre innere Mariah Carey finden. Die bleibt jedoch im durchaus lauten Chor weitestgehend unhörbar.

Egal. Alle hatten Spaß und gehen vergnügt in ihren eigenen alltäglichen Weihnachtswahnsinn oder zu gemütlichem Kaminfeuer mit zauberhafter Stehlampe.

Weihnachtswahnsinn mit Charme – „Merry Crisis“ im Schauspielhaus

Ein virtuelles Kaminfeuer flackert an der Wand, ein mannshoher Nussknacker flankiert die Bühne, und Teddybären tummeln sich zwischen einem Sessel und einem Zweisitzer mit Holzbeinen – ganz ohne Stehlampe (Ausstattung: Constanze Kriester). Im sogenannten „Institut“, dem kleinen Bühnenraum im Erdgeschoss des Schauspielhauses, erwarten rund fünfzig Gäste einen weihnachtlichen Leseabend.

In Pyjamas, langen Morgenmänteln und Pantoffeln betreten die beiden Schauspielerinnen Marlena Keil und Nika Mišković die Bühne und eröffnen den Abend direkt mit einem Gedicht von Joachim Ringelnatz. Hier schneit es auch Erbsensuppe mit Speck in die Taschen der Arbeitslosen – ein Vorbote dafür, dass es an diesem Abend nicht ausschließlich gemütlich und heimelig zugehen wird. Schließlich trägt die Veranstaltung den Titel „Merry Crisis“.

Fast übergangslos stürzen sich die beiden Schauspielerinnen in die nächste weihnachtliche Krise: David Sedaris nimmt in seiner Erzählung Krippenspiele mit Sechsjährigen als Jungfrauen und Zweitklässlern als gestandene Männer aufs Korn – inklusive stolzer Eltern und „Lasagne-Gestank“ im Saal. Während man den beschriebenen Kindern fast Mitleid entgegenbringen könnte, sorgt Sedaris‘ scharfsinnige Beobachtung beim Publikum für reichlich Gelächter. Auch Charles Dickens‘ „Der Weihnachtsabend“ wird im Rahmen dieser Schulaufführungen humorvoll eingebaut und von den Schauspielerinnen mit professioneller Akzentuierung aufgegriffen, bevor Sedaris’ bissige Kritik an schlechtem Schultheater erneut für Erheiterung sorgt.

Nach einer Mitmachsequenz – alle versuchen gemeinsam „Oh Tannenbaum“ zu singen – bewegt Hans Christian Andersens trauriger Tannenbaum die Zuschauer, bevor Marlena Keil und Nika Mišković mit offensichtlicher Begeisterung einen Text aus Terry Pratchetts Scheibenwelt einleiten. Hier übernimmt Gevatter Tod die Rolle des verhinderten „Schneevaters“, quasi des Weihnachtsmanns dieser skurrilen Fantasy-Welt. Schließlich gelingt es, diesmal spürbar harmonischer, gemeinsam „Jingle Bells“ anzustimmen.

Zwischen Glühwein und literarischem Wahnsinn

In der Pause ist der alkoholfreie Punsch schnell ausgetrunken, doch für einen Glühwein mit Alkohol reicht es – der findet sogar den Weg auf die Bühne, wenn auch nur in Form eines „wönzigen Schlucks“. Eine Feuerzangenbowle gibt es zwar nicht, doch locker und beschwingt geht es nach der Pause mit weiteren literarischen Perlen weiter.

Mit Ringelnatz und Friedrich Wolfs „Weihnachtsgans Auguste“ kommt der Abend erneut in Fahrt, bevor ein Ausflug zu Ephraim Kishons humorigen Anekdoten folgt. Gemeinsam mit „der besten Ehefrau von allen“ widmet sich Kishon dem jüdischen Passahfest, bei dem natürlich mindestens elf zauberhafte Stehlampen nicht fehlen dürfen.

Der Abend entwickelt sich wie angekündigt: ein Wahnsinn zwischen Weihnachtsgans und Chaos. Hazal Saracoglu, die den Abend zusammengestellt und eingerichtet hat, trifft mit dieser Mischung aus Humor, Ironie und Gesellschaftskritik genau den Nerv des Publikums. Immer wieder sorgt die Vorstellung für Lacher, aber auch für nachdenkliche Momente, die das Publikum herzlich schmunzeln lassen.

Besonderen Applaus erntet Nika Mišković, die gesteht, dass dies ihr erster Leseabend überhaupt – und dann auch noch auf Deutsch – gewesen sei. Im letzten Mitmachteil wagen sich alle gemeinsam an „All I Want for Christmas“. Die innere Mariah Carey lässt sich zwar im Chor nicht wirklich heraushören, doch das tut der ausgelassenen Stimmung keinen Abbruch.

Am Ende verlassen die Gäste den Abend gut gelaunt – bereit für ihren eigenen weihnachtlichen Wahnsinn oder vielleicht für ein entspanntes Kaminfeuer mit der ein oder anderen zauberhaften Stehlampe.