Erschöpfende Reise – Deutsche Erstaufführung von Anna Gschnitzers dramatischen Roadtrip „Capri“ in Dortmund

Capri, die Insel der blauen Grotte war ein Traumreiseziel für die Wirtschaftswunderkinder, ein Ort, in den eine diffuse Sehnsucht nach Freiheit und Entspannung hineinfantasiert wurde. In Anlehnung daran hat die österreichische Autorin Anna Gschnitzer sich die Frage gestellt, warum vor allem Frauen nie genug Erholung kriegen. „Capri“ ist mehr als die Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung, es ist ein Stück über Fürsorge und Selbstfürsorge.Uraufgeführt wurde es 2024 am Wiener Schauspielhaus, im Studio des Dortmunder Schauspiels Studio hat es jetzt die junge Regisseurin Jasmin Johann inszeniert, und sie präsentiert ein souveränes Regiedebüt, ideenreich, witzig und präzise erarbeitet mit drei hervorragenden Darstellern, die die 90 Minuten ohne Pause in eine Sternstunde des Schauspiels verwandeln.

Die Vorstellung beginnt mit einem Rund-um-Sorglos-Paket. Eingelullt von den Klängen der „Caprifischer“ werden die Besucher auf möglicherweise verstörende Momente der Inszenierung hingewiesen, die lautesten Töne etwa, das hellste Licht, einen platzenden Luftballon. Angesagt wird eine „relaxed Performance“, in der Bewegungen und Geräusche der Zuschauer ausdrücklich willkommen sind und dem Publikum erlaubt ist, die Vorstellung zu verlassen und zurückzukehren. Die Eröffnung ist vielleicht auch ein Hinweis auf den Humor des Abends, der mithilfe geschickt gesetzter Brüche verhindert, dass die Inszenierung ins Mitleidige und Nostalgische abrutscht. An diesem Abend geht niemand raus, zu sehr sind alle gefesselt von der intensiven Inszenierung, der es gelingt, das wichtige Thema Care-Arbeit als sehr persönliche Geschichte auf der Bühne zu etablieren.

Fabienne-Deniz Hammer, Lukas Beeler, Beatrice MasalaFoto© Birgit Hupfeld
Fabienne-Deniz Hammer, Lukas Beeler, Beatrice Masala
Foto© Birgit Hupfeld

Sorgearbeit ist seit jeher hauptsächlich Frauensache. Laut einer aktuellen Studie wird unbezahlte Betreuungstätigkeit im Bereich Haushalt, Kinderbetreuung und Pflege zu zwei Dritteln von Frauen geleistet. Die Gender-Forscherin Cornelia Klinger weist darauf hin, dass Sorge-Arbeit sehr viel mehr ist als Arbeit. Sie ist ein Habitus, eine Haltung, und die Sorge hört nicht auf, wenn die Arbeit zu Ende ist. Die Folge ist oft Erschöpfung.
Auch die Tochter, eine junge Schriftstellerin, ist erschöpft. Sie hat den Auftrag, einen Roman zu schreiben: über die Reise einer Tochter mit ihrer pensionierten Mutter. Aber eine Schreiblockade plagt die Arme und der Abgabetermin steht kurz bevor. In dieser Situation findet sie ein altes Foto: ihre Mutter als Kind am Strand von Capri. Dann hat sie die Idee: Ein gemeinsamer Urlaub auf der Insel mit der eigenen, gerade in den Ruhestand entlassenen Mutter, einer ehemaligen Krankenpflegerin. Und so beginnt eine Reise, auf der die beiden Frauen beginnen, die weißen Flecken auf der Landkarte ihrer Beziehung zu erforschen. Fragend, streitend, hoffnungsvoll und neugierig fügen sie die Puzzleteile ihrer Leben zusammen, erzählen von ihren Erschöpfungen auf diesem „virtuos-kuriosem Roadtrip“, eine Erzählweise, die Gschnitzer „ideal schien, weil er eine Form von unfreiwilliger Nähe erzeugt: Man kann nicht einfach aussteigen, muss miteinander reden, schweigen, aushalten.“
Obwohl sie auf der Autobahn immer geradeaus fahren, stranden die beiden Frauen auf ihrer Italien-Reise immer wieder an derselben Tankstelle, die Sandra Maria Kania als Bild auf der Bühne installiert hat – ein beinahe steriler Ort im Niemandsland zwischen Abreise und Ankunft, den die Frauen erst verlassen werden, wenn sie sich ihre Geheimnisse offenbart haben.

Johann inszeniert den vielschichtigen, klug und witzig gewebten Text mit allen Mitteln des Theaters, garniert mit einer Fülle von Regieeinfällen. Beinahe comedyhaft anmutende Monologe und manchmal poetische Selbstreflexionen wechseln sich ab mit geschliffenen Dialogen. Es wird zudem (sehr gekonnt!) gesungen und getanzt.
Fabienne-Deniz Hammer als Tochter merkt man ihre chronische Müdigkeit oft gar nicht an. Wie sie witzig und eloquent über den Sommer lästert, wie sie voller Leidenschaft mit der Mutter streitet und lacht, wie sie mit dem Tankwart schäkert und käbbelt, das ist eine Darstellung, die überzeugt und erfrischt.

Den Tankwart Phil und alle erforderlichen Nebenrollen spielt Lukas Beeler wunderbar witzig. Wenn die Tochter zuweilen vom Roadtrip in die halluzinatorische Traumreise gleitet, spielt er auch schon mal eine Eizelle. Er ist Impulsgeber, Ratgeber und Zuhörer. Und er ist der Narr, der dem Abend an genau den richtigen Stellen eine lachende Leichtigkeit schenkt.

Die eigentliche Hauptfigur des Abends aber ist die Mutter. Erst nach eine halben Stunde tritt Beatrice Masala auf und prägt fortan den Abend maßgeblich mit ihrer schauspielerischen Präsenz, ihrer wirklich großartigen Darstellung einer Frau, die vom Job ausgelaugt und sich schwertut zwischen der Sehnsucht nach Ruhe und Erschöpfung und dem Wunsch sich ihrer Tochter zu öffnen. Ihr bei diesem Suchen und Finden zuzusehen und zuzuhören ist einfach ein Genuss.
Stehende Ovationen für großes Theater im kleinen Studio.




Melancholische Puppen

„Leonce und Lena“ als kommentiertes Kammerspiel am Schauspiel Dortmund

Für die Inszenierung klassischer Dramen braucht es oft eine besondere Idee. um dem Zuschauer eine neue Sichtweise auf den Text zu erschließen. „Leonce und Lena“, Georg Büchners einziges Lustspiel ist seit seiner späten Uraufführung 1895 viele Male aufgeführt und neu interpretiert worden.Jana Vetten sucht in ihrer ambitionierten Inszenierung auch nach dem Besonderen und erfindet eine Person hinzu, die als Alter Ego des Autors, als Moderator das Geschehen auf der Bühne musikalisch begleitet, verbal kommentiert, eine Art Narr, der den Zuschauern erklären soll, was der Dichter meint. Die Idee scheint verführerisch, geht aber nicht unbedingt auf. So entfaltet sich ein zweistündiger Abend, der trotz schöner Bilder und spielfreudiger Akteure bisweilen dem Zuschauer einen langen Atem abverlangt.

Büchner, blutjunge 22 Jahre alt, ein frühreifer, genialer Heißsporn, sozial und politisch engagiert, schrieb 1836 eine Komödie. Er wollte sich am Wettbewerb des Cotta-Verlags beteiligen, versäumte aber den Einsendeschluss. Die Komödie schrieb er trotzdem. Widersprüchlich erscheint es auf den ersten Blick, dass der sozialrevolutionäre Dichter von „Dantons Tod“, dem „Hessischen Landboten“ und des „Woyzeck“, plötzlich Lust bekam auf ein seichtes Lachstück, eine romantisierende Verwechslungskomödie in den Kreisen des schmarotzenden Hochadels. Tatsächlich hat die Geschichte etwas von einer modernen Seifenoper.

Fabienne-Deniz Hammer, Viet Anh Alexander TranFoto © Birgit Hupfeld
Fabienne-Deniz Hammer (Lena), Viet Anh Alexander Tran (Leonce)
Foto © Birgit Hupfeld

König Peter, ein regierungsmüder Monarch, arrangiert eine Ehe zwischen seinem Sohn Prinz Leonce und Prinzessin Lena. Die zwei vom Leben desillusionierten jungen Leute kennen sich gar nicht, wollen auch nicht heiraten und suchen – unabhängig voneinander – ihr Heil in der Flucht. Begleitet von einer gestressten Gouvernante (Beatrice Masala) und dem lässigen Valerio (Stefan Hartmann) begegnen sich die beiden zufällig im Wald und verlieben sich blitzartig – in Unkenntnis ihrer wahren Identitäten. So kommt es zufällig doch noch zu einem Happy-End.

Auf den zweiten, genaueren Blick ist „Leonce und Lena“ eine bissige Satire auf den dekadenten, schmarotzenden Adel. Im „Hessischen Landboten“ findet Büchner wuchtige Worte für seinen Hass: „Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag. Sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter. Das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker.“ Zwei Jahre später war sein politischer Ehrgeiz abgekühlt. Enttäuscht stellte er fest: „Das ganze Leben besteht nur aus Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben.“

Diese Langeweile und das bisweilen suizidale Verzweifeln an der Welt ist durchaus auch ein aktuelles Thema. Jana Vetten greift es in ihrer durchaus ideenfreudigen Inszenierung auf. Dabei wertet sie – eine gute, zeitgemäße Entscheidung – die Rolle der forschen Lena (Fabienne Deniz Hammer) auf, indem sie ihr Texte von Leonce (Viet Anh Alexander Tran) in den Mund legt. So entsteht ein differenzierter Dialog auf Augenhöhe.

Der Bühnenraum (Lan Anh Pham) passt sich wunderbar an das Stück an. Der Bau auf der Drehbühne erinnert weniger an ein Schloss, mehr an ein Treppenhaus, eng wie in einem Käfig und ist Symbol für eine Welt, die sich vorwiegend um sich selbst dreht. Im ersten, etwas zähen Teil werden die Szenen in geometrischen Rahmen als Tableaus inszeniert, Schnappschüsse von außen in ein Puppenhaus. Eine bedrückende Welt, die sich erst öffnet, als die beiden Königskinder aus ihr fliehen. Draußen wird auch das Spiel lebendiger. Die Liebesszene zwischen Leonce und Lena, ein Tanz in Ketten, ein Liebeskampf eher, ist toll und intensiv gespielt. Ebenso wie das Ritual, das König Peter (Ekkehard Freye) mit seinem blechblasenden Hofstaat inszeniert, der als witziger Bewegungschor aus sechs Dortmunder Jugendlichen immer wieder eifrig mitmischt.

Kalle Kummer komponierte die stimmige Musik und Sounds, spielt live am Flügel den kommentierenden Narren Schorsch Typhus, wie er in Anlehnung an Büchners tödliche Krankheit genannt wird. Er empfängt das Publikum schon beim Hereinkommen mit melancholischen Klängen, hat Schmerzen, leidet, das sieht man ihm an. Am Ende liegt er am Boden, desillusioniert im Scherbenhaufen seiner revolutionären Träume. Dazwischen füllt er alles mit Büchnerschem Sarkasmus und Anekdoten, versucht auch die Geschichte zu ändern, wenn er Valerio immer wieder auffordert, den Prinzen umzubringen, um so die Französische Revolution doch noch nach Deutschland zu tragen. An all dem verzweifelt er und ändert doch nichts am Zustand der Welt, am „gräßlichen Fatalismus der Geschichte“, wie es bei Büchner heißt. Nachhilfe in Sachen Büchnerverständnis nimmt viel Raum ein an diesem Abend. Das ist gut gemeint, wirkt aber eher bemüht schulmeisterlich als spielfreudig, überfrachtet den Abend, hemmt den Spielfluss und ist zudem nicht witzig genug, um neben der Inszenierung der eigentlichen Komödie zu bestehen. Zweite Vorstellung, verhaltener Applaus.




Der Klotz lebt

Der Jugendclub feiert Premiere im KJT

 

Drei graue Figuren schleichen auf der Bühne um einen Stuhlberg herum. Wie Schnecken tragen sie ihr Haus auf dem Rücken, terrassenförmige Wohn-Einheiten, die auf den ersten Blick wie eine schwere Last wirken, die sie aber andererseits ganz leicht, beinahe zärtlich vom Rücken lösen und nebeneinander stellen zu einer großen Einheit.Ein großes Haus steht vor uns, ein Betonklotz, könnte man sagen. Hunderte von Wohnungen unter einem Dach, sogenannter billiger Wohnraum, der vor allem in den siebziger Jahren in vielen Großstädten in den sozialen Brennpunkten hochgezogen wurde, nicht nur um die Wohnungsnot zu lindern, sondern auch um Menschen in der Hoffnung auf ein friedliches Miteinander zusammenzuführen. Ein sozialarchitektonisches Experiment mit zweifelhaftem Ausgang.
Die drei grauen Figuren geben diesem Klotz eine Stimme. Nach der gewaltfreien Aufbauphase treten sie dann doch noch den Stuhlberg um. Und schon in den ersten Minuten dieser bemerkenswerten und engagierten Inszenierung bekommen wir die beide Pole zu spüren, zwischen denen sich die Stimmung der Protagonisten bewegt: Zärtlichkeit und Wut. Ja, sie hassen und sie lieben ihn, ihren Betonklotz.

Betonklotz vorne v.l.n.r.: Lea Sommer, Marie Gelfert, Jost Förster, Niklas Havers hinten v.l.n.r.: Lucca Mitchell, Julia Hartmann, Daria Deuter, Johannes Weber
Betonklotz vorne v.l.n.r.: Lea Sommer, Marie Gelfert, Jost Förster, Niklas Havers hinten v.l.n.r.: Lucca Mitchell, Julia Hartmann, Daria Deuter, Johannes Weber
Foto: © Birgit Hupfeld

Jona Rauschs Debütstück „Betonklotz 2000“, welches für den Hans-Gratzer-Preis nominiert war, kam 2024 in Hannover zur Uraufführung und beschäftigt sich mit dem Leben und Wohnen in so einem Plattenbauareal, dem „Genickschutzviertel“, wie es an einer Stelle im Stück voller Ironie heißt. Aus der Sicht von vier jungen Leuten, die dort ihre Kindheit und Jugend verbringen, erzählt sie Geschichten, die sich nicht nur entlang der bekannten Themen wie Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum, Migration und Kriminalität bewegen, sondern auch erzählen von Geborgenheit, Sehnsüchten und Wünschen, von einem Alltag zwischen Aufstiegshoffnung und Abstiegsangst, von Fluchtgedanken und heimatlicher Verbundenheit.

 

Das Dortmunder Jugendclub-Ensemble hat das Personal des Originals um einige Spieler:innen aufgestockt. Diese Vielstimmigkeit kommt der Darstellung zugute, denn so gelingt ein differenzierter, abgewogener Einblick in Lebenswirklichkeit jenseits gängiger Vorurteile.

Die Inszenierung verortet die Geschichte sinnvollerweise in der eigenen Stadt. Der Betonklotz auf der der Bühne erinnert unmissverständlich an den „Hannibal“ in der Dortmunder Nordstadt, die seit Jahren als sogenanntes Problemviertel gilt – zu Unrecht sagen viele.  Denn dieser Betonklotz ist nicht nur kalter Stein für die jugendlichen Bewohner. Er atmet und sie nehmen seinen Rhythmus auf, er erzählt und sie können ihn verstehen, er hört auch zu, er verzeiht und er erzieht, wie es an einer Stelle so schön heißt, „nach dem Laisser-faire-Prinzip“ und lässt sie im Klotz möglicherweise eine Freiheit verspüren, die sie in der Welt draußen nicht haben, weil die ihnen stattdessen oft den Prekariatsstempel aufdrückt und sie die Ungerechtigkeit der sozialen Schere fühlen lässt. Dieser mißtrauischen Welt der Betonköpfe setzen die jungen „Problemkinder“ ihr solidarisches Miteinander entgegen und nehmen sich das Recht von konkreten Utopien zu träumen.
Besonders gelungen wird dieser Gedanke umgesetzt in einer Choreographie, die das Ensemble erarbeitet hat, die fast beginnt wie ein höfischer Tanz, dann aber mündet in ein befreites Tanzen, Momente, in denen man eintaucht in eine Sehnsuchtswelt, die allzu oft umzingelt ist von vielerlei Nöten und Ängsten. Überhaupt ist die Gemeinsamkeit des Zusammenspiels eine große Stärke des Abends.

 

Auch ganz persönliche Geschichten werden gestreift, vom Mädchen, die als einzige die Zulassung zum Gymnasium bekommt und argwöhnisch begutachtet wird, die es aber trotzdem schafft ein Einser-Abitur zu machen, um dann als Studentin auf der Uni mit durchaus gemischten Gefühlen zu bemerken, dass der Klotz noch in ihr steckt.
Von der Frau, die hoffnungsvoll eine Beziehung eingeht zu einem Mathematiker und Philosophen, der als Fremdkörper in der sozialen Architektur des Klotzes aber so seine Probleme bekommt. Vom Jungen, der noch nie in Wien war, dorthin aber den Ort seiner Sehnsucht projiziert. Oder vom Jungen mit dem „Borderline-Dingsda“.

Mit all diesen Lebensblitzlichtern leuchtet die Inszenierung die Spanne aus zwischen Abgrund und Sehnsucht, zwischen Hass und Liebe.

„Ich habe dich vermisst“, sagt eine irgendwann zum Klotz. Und das klingt wie ein Signal, eine Aufforderung, fast sogar ein Aufbruch. Am Ende legen sie die Maskerade ab, die bunten Klamotten, die was hermachen sollen, was sie nicht sein wollen im schillernden Outfit, mit denen sie sich getarnt haben. Unter den gefakten Markenartikeln tragen alle die gleichen T-Shirts. Jetzt kommt der graue gewöhnliche Mensch zum Vorschein in all seiner mutigen Ehrlichkeit, sie raufen sich zusammen, schmiegen sich aneinander, blicken nach vorn, demonstrieren ihr Miteinander und stellen sich solidarisch der Zukunft.

Mit diesem eher hoffnungsvollen, gelungenen Schlusspunkt endet die Inszenierung, die die neun Schauspieler vom Jugendclub mit viel Engagement und Leidenschaft auf die Bühne gebracht haben.




Paradies, gutbürgerlich

Die Schöpfungsgeschichte in 75 vergnüglichen Minuten – Premiere im Theater Fletch Bizzel

Viele Werke des Meistererzählers und scharfzüngigen amerikanischen Journalisten Mark Twain gehören heute zum Kanon der Weltliteratur. Mit den Abenteuern von Tom Sawyer und Huckleberry Finn machten viele junge Leser ihre ersten spannenden Lektüreerfahrungen. Nicht ganz so bekannt sind Mark Twains humoristisch-satirische Einfälle zur Genesis, die er unter dem Titel Die Tagebücher von Adam und Eva 1906 veröffentlichte. Bianka Lammert und Carsten Bülow haben dieses kleine komische Werk für die Bühne aufbereitet. Herausgekommen ist dabei eine kurzweilige, poetische, bisweilen auch nachdenkliche szenische Lesung, bei der sich ein aufgewecktes Premierenpublikum köstlich unterhalten fühlte.

Von der ersten Begegnung bis zur Ehe

Adams Tagebuch hatte Mark Twain bereits 1893 geschrieben. Nach dem Tod seiner Frau ergänzte er die Geschichte durch Evas Tagebuch und überarbeitete das Ganze zu einer Liebesgeschichte der besonderen Art, in der Eva vor allem den poetisch-philosophischen Part bedient, während Adam eher der Mann fürs Praktische ist. Leicht machen es sich die beiden ersten Menschen nicht – es ist wahrlich keine Liebe auf den ersten Blick. Adam fühlt sich gestört in seinem Junggesellendasein von dem lästigen Geschöpf, das unaufhörlich redet und ihn ständig verfolgt. Die neugierige Eva hingegen begreift ihre Beziehung eher als Experiment und erkennt irgendwann, dass es sich bei dem „anderen“ nicht um ein Reptil, sondern um ein verwandtes Wesen handelt, dem sie den Namen „Mann“ gibt. Von diesem Zeitpunkt an kommen sich die beiden unausweichlich näher, sie lernen sich kennen und lieben. Diese Entwicklung erzählt Mark Twain mit viel Witz und Einfühlungsvermögen, wobei seine Protagonisten weniger den biblischen Originalen nachempfunden sind, sondern ganz gegenwärtig ein Paar der bürgerlichen Mittelschicht repräsentieren – mit allen dazugehörigen Ehe-Klischees. Da bedient der Autor auch alle rollenspezifischen Traditionen: Der Mann geht auf die Jagd, während sie Heim und Herd versorgt und dabei – ganz nebenbei – das Feuer entdeckt. Er fragt nach dem Nutzen, sie nach dem Gefühl, er ist der Kopf- und sie der Bauchmensch. Diese etwas unzeitgemäßen Textpassagen werden von den beiden Darstellern mit Augenzwinkern und Ironie gekonnt parodiert.

Carsten Bülow und Bianca Lammert als Adam und Eva. (Foto: (c) Fletch Bizzel)
Carsten Bülow und Bianca Lammert als Adam und Eva. (Foto: (c) Fletch Bizzel)

Besonders kommt dies zur Geltung, als Kain und Abel, die Kinder, in ihr Eheleben treten. Während Carsten Bülow als Adam sich den Kopf darüber zerbricht, zu welcher Tiergattung diese Findlinge wohl gehören – erst hält er Kain für einen Fisch, dann für ein Känguru und schließlich für einen Bären – entdeckt Bianka Lammert als Eva die Mutterliebe und beschützt die Kinder vor dem eher grobschlächtigen Vater. In dieser Passage der szenischen Lesung, die durch wohldosierte Aktionen, kleine Gänge, vorwurfsvolle Blicke und besänftigende Augenaufschläge untermalt wird, darf das Publikum an so mancher Stelle auch herzhaft lachen.

Nach und nach übernimmt dann die Frau das Ruder, lässt sich von der Schlange überreden, Äpfel vom verbotenen Baum der Erkenntnis zu essen, wodurch das Paradies entmythologisiert wird und sich wandelt zu einem gutbürgerlichen Kleingartenidyll. Hier wird sich der Mensch ganz im Sinne seiner Natur der Endlichkeit bewusst – eine Welt, in der der Tod so selbstverständlich dazugehört wie die Liebe.

Carsten Bülow und Bianka Lammert erzählen diese Geschichte mit viel Charme, Witz und vor allem mit Humor. Am Ende sitzen sie Hand in Hand glücklich auf der Gartenbank, haben sich gefunden, und Eva fasst noch einmal zusammen, warum sie diesen Adam liebt: Nicht wegen seiner Klugheit, nicht wegen seines Fleißes, nicht wegen seiner Ritterlichkeit und auch nicht wegen seiner Bildung, sondern ausschließlich deshalb, weil er ein Mann ist. Und Adam sitzt daneben, ganz in ihrem Bann. Beseelt, verliebt, stolz und wehmütig zieht er die berührende Bilanz seiner Liebe und gesteht: „Wo immer sie war, da war Eden.“ Ein bezaubernder Abend mit überzeugenden Darstellern.




Szenische Forschungsreisen

Fast schon traditionell zu Beginn des Jahres öffnete Jens Heitjohann, der künstlerische Leiter der freien Spielstätte in der Dortmunder Nordstadt, nun bereits zum dritten Mal seine Pforten für eine unterhaltsame und spannende Werkschau von Studierenden des Masterstudiengangs „Szenische Forschung“ an der Ruhr-Universität Bochum.Es herrscht fast so etwas wie Jahrmarktsatmosphäre, denn nicht nur die Bühne wird bespielt, sondern ebenso das Foyer und ein Studio. Zum Auftakt werden am ersten Tag insgesamt neun Projekte vorgestellt. Hans-Peter Krüger besuchte am 24. Januar 2025 den ersten Tag, Michael Lemken berichtet über den zweiten Tag.

Es gibt Installationen, Performances und szenische Anordnungen, in denen es darum geht – wie es auf der Website des Studiengangs heißt – „mittels spielerischer, spekulativer oder subversiver Entwürfe Aspekte der Wirklichkeit zu entdecken und erfahrbar zu machen, die dem Alltag und den Wissenschaften gleichermaßen verborgen bleiben.“ Herausgekommen sind dabei neun unterhaltsame, spannende und auch verstörende Ausflüge in die vielfältige Landschaft performativer Künste: szenische Forschungsreisen, die formal und inhaltlich die Grenzen traditioneller Theaterformen bisweilen auf überraschend kurzweilige Weise überschreiten.

Persönliche und partizipative Projekte

Fast schon programmatisch schreibt Carolin Pfänder gleich zu Beginn ihrer etwa 60-minütigen Performance „Comfort Binge Watching mit Allerliebst“ mittels Overheadprojektor an die Wand: „Ich darf nicht Theater spielen.“ Was folgt, ist eine sehr persönliche, autobiografische Auseinandersetzung der Künstlerin mit Versagensängsten, Furcht vor Fehlern und seelischer Überforderung. Aber C., wie sie sich kurz nennt, hat eine Strategie dagegen: Sie schaut Serien, die, immer nach dem gleichen Muster produziert, ein verlässlicher Anker für das angeschlagene Seelenschiff sind und die Hoffnung auf die heilende Wirkung von Wiederholungen nähren.

Unterfüttert wird diese Performance durch Filmausschnitte von Serien wie „Gilmore Girls“, „Friends“ oder „Big Bang Theory“ sowie durch wissenschaftliche und literarische Texte, die an die Wand projiziert werden. Am Ende formuliert C. schließlich auch so etwas wie eine Sehnsucht: „Wenn es ein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit gäbe, wäre das genau das, was ich will im Leben.“ Eine nachdenkliche, in seiner Dichte manchmal überfordernde, aber doch nie langweilige, verstörende szenische Forschung zum Thema Depression, an deren Ende sie voller Zuversicht an die Wand schreibt: „Ich darf Theater machen.“

Experimantal Toppings:  Alina Mathiak in ihrem Versuch, in die Welt ihres Vaters einzutauchen.
Experimental Toppings: Alina Mathiak in ihrem Versuch, in die Welt ihres Vaters einzutauchen.

Im Foyer sind die Grenzen zwischen Bühne und Publikum aufgelöst. Mitmachen ist angesagt. In Judith Grytzkas partizipativer Installation „Die Ordnung der Dinge“ stehen die Besucher anfangs vor einer Kiste mit unzähligen kleinen Dingen. Daneben stehen zwei leere Setzkästen mit der Anweisung: „Bitte sortieren.“ Es dauert nicht lange, und alle legen tatsächlich Hand an, suchen und verteilen, diskutieren Ordnungsprinzipien, um dann festzustellen, dass Ordnung für jeden etwas anderes ist.

Zum Sortiermaterial gehört auch eine Fotobox mit unzähligen Bildern von mehr oder weniger aufgeräumten Regalen, Schubladen und Schränken, die nach unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen an die Wand geheftet, dann wieder neu aussortiert und umgruppiert werden. Einmal angefangen, fällt es einigen schwer, sich loszureißen von der Ordnungsarbeit an der Installation, die, wie ein Besucher treffend formuliert, einen „verführerischen Suchtcharakter“ in sich trägt.

Ungewöhnliche Performances und Installationen

Alina Mathiak und Melina Hylla haben eine Ecke des Foyers mit einem glitzernden Herzchenvorhang eingerichtet für eine Art Sprechstunde in Sachen Liebe. „Let’s talk about love“ heißt ihr Projekt, in dem sie in Einzelgesprächen Menschen bitten, ihre Gedanken, Fragen und Geschichten zu diesem Herzensthema zu formulieren. Und wenn sie keine Worte finden, können sie auch singen, Geräusche und Töne einsetzen oder einfach schweigen. All das wird aufgenommen und in einer Art Archiv zum Nachhören über die Liebe gespeichert, denn an Liebe, da sind sich die beiden Performerinnen sicher, mangelt es in der Welt.

Inspiriert von Mark Rothkos Gemälde „Orange Red Yellow“ hat Nooshin Seifi im Studio 1 einen Tisch mit orangenen und gelben Tischdecken geschmückt. Rote Servietten verbergen noch das Geschirr. Es wird aufgefordert, Platz zu nehmen und die Servietten zu entfernen. Zum Vorschein kommen nicht etwa gleiche Teller und Löffel, sondern sehr verschiedene Behältnisse und Essbestecke.

Dann wird natürlich gelb-orangefarbene Suppe aus Kürbis und Möhren angeboten, und nacheinander erfolgen die Anweisungen: „Find a solution“, „Never give up“, „It’s never too late“. Eine Irritation gewohnter Vorstellungen setzt ein: Ein leicht verschobenes Setting lässt den üblichen Alltag in einem anderen Licht erscheinen. Die Auseinandersetzung mit ungewohnten Handgriffen lenkt den Gedankenstrom in neue Erzählperspektiven. Das Ergebnis ist eine lebhafte Kommunikation, wie man sie sich nach einer spannenden Theaterinszenierung wünscht.

Dzenny Samardzic nimmt uns mit in ein aus Kinderbettwäsche gestaltetes Märchenerzähler-Zelt. In ihrer Performance „Enti, Erna, Wummi & Co“ geht es um Kuscheltiere. Jeder Besucher darf sich aus einem großen Haufen eines aussuchen, bevor er auf weichen Kissen im Zelt Platz nimmt, um in anheimelnder Atmosphäre Geschichten zu hören, die von einem alten Cassettenrecorder abgespielt werden. Das unterstützt den märchenhaft-nostalgischen Charakter und bietet eine wunderbar ruhige, meditative Viertelstunde, in der die Erinnerungen an die eigene Kindheit und die damit verbundenen Gefühle lebendig werden.

„Zutun“ nennt F*Kemmether ihre aktiv herausfordernde Installation. Einzeln darf der Neugierige in ein kleines Versuchslabor eintreten, wo er aufgefordert wird, Reis, Haferflocken oder Leinsamen umzufüllen – aus Tüten in Gläser oder Plastikbehälter. Vor allem Aufmerksamkeit wird verlangt – nur nichts verschütten! Es geht um Sorgfalt, ruhige Planung und Genauigkeit und letztlich darum, mit den Kräften zu haushalten, was in einer allzu hektischen Welt oft vernachlässigt wird.

2026, so verspricht es Jens Heitjohann in seiner Eröffnungsrede, sollen die „Experimental Toppings“ wieder das Jahr im Theater im Depot eröffnen.

Ein Ruhepol zwischen Trubel und Kunst

Am zweiten Tag der „Experimental Toppings“ fand parallel im Depot der Nachtflohmarkt statt. Während sich in der Haupthalle die Menschen eng an eng durch die Stände drängten, blieb das Theater im Depot eine Art kleiner Ruhepol – ein Ort für ungewöhnliche und intensive künstlerische Erlebnisse.

Den Auftakt machte Johanna Sowka mit ihrer Performance „time jockey“ im Studio 1. Wie lange dauert die Reise eines Regentropfens von der Wolke bis zum Boden? Oder die rote Ampelphase vor meiner Haustür? Sowka misst Zeit und setzt sprachliche Punkte, die durch entstehende Loops von einer Kakophonie zu einem Rhythmus werden.

Persönliche Begegnungen und historische Spurensuche

Danach folgte eine Vater-Tochter-Produktion mit dem Titel „SPF“. Eine ungewöhnliche, aber sehr aufwändig und gelungen inszenierte Performance. Alina Mathiak, Künstlerin, und ihr Vater, Ralf Mathiak, Chemielaborant, stellten die Frage: Wie können Kunst und Wissenschaft miteinander in Verbindung bleiben?

Alina benutzte ihr altes Labormikroskop, mit dem sie als Kind ihrem Vater nacheifern wollte. Im zweiten Teil leitete ihr Vater Ralf das Geschehen: Die Zuschauer:innen durften verschiedene Sonnencremes testen und bewerten. Schließlich kehrte die Performance zurück zu Alina, die trotz ihrer frühen Kontakte zur Lebenswelt ihres Vaters keinen nachhaltigen Zugang dazu fand, da ihr Interesse schon früh auf die Kunst gerichtet war. Eine stille Frage blieb am Ende: Wie wird sich die Beziehung zu ihrem Vater weiterentwickeln?

Der dritte Beitrag des Abends stammte von der südkoreanischen Künstlerin Hakyung Kang und führte die Zuschauer:innen nach Guryongpo, ihre Heimatstadt. Unter dem Titel „When Nine Dragons Ascended“ setzte sich die Performance mit den kolonialen Spuren auseinander, die das kaiserliche Japan dort hinterlassen hat.

Neben einer „Japanischen Straße“ mit traditioneller Architektur standen die „Haenyeo“ im Fokus – sogenannte Seefrauen, die einst von der Insel Jeju nach Guryongpo kamen und noch heute als Taucherinnen Meeresfrüchte ernten. Doch Klimawandel und Verschmutzung haben die Bedingungen drastisch verändert, sodass mittlerweile vor allem Seeigel gesammelt werden. Viele dieser Taucherinnen sind inzwischen über 70 Jahre alt, doch ihre Arbeit zeugt von ungebrochener Stärke und Resilienz.




Dicht und doppelbödig

„Antigone“ von Sophokles/Schimmelpfennig feierte Premiere am Schauspiel Dortmund

Die „Antigone“ des griechischen Dramatikers Sophokles gilt gemeinhin als das klassische Drama um den Konflikt zwischen Staatsraison und Humanität und ist angesichts der gegenwärtigen Kriege in Europa und der Welt aktueller denn je. Roland Schimmelpfennigs Überschreibung des Dramas dient als Grundlage für die Spielfassung der Dramaturgin Marie Senf und der Regisseurin Ariane Kareev. Letztere stellt in ihrer gut durchdachten und soliden Inszenierung vor allem den Konflikt zwischen der Titelheldin und Kreon, zwischen männlichem Machtanspruch und weiblicher Rebellion in den Mittelpunkt. Herausgekommen ist dabei ein bildgewaltiger Abend mit zuweilen ein wenig opernhaft und pathetisch agierenden, gleichwohl hervorragenden Darstellern, einem sensationellen Sprechchor und zwei finnischen Artistinnen, was der Inszenierung nicht nur eine inhaltlich-ästhetisch spannende Ebene hinzufügt, sondern auch eine sehenswerte circensische Note verleiht.

Eine kraftvolle Bühne und überzeugende Darsteller

Schon der erste Eindruck ist gewaltig: Der Palast von Theben (Bühne: Nicole Marianna Wytyczak) ist gestaltet aus langen Tuchbahnen, die von der Decke hängen und wie rotmarmorierte Säulen aussehen – eine Szenerie, in der sich Hart und Weich zu einer symbolischen Verbildlichung des Konflikts zwischen Kreon und Antigone ergänzen. Wir blicken auf den Schauplatz eines soeben beendeten Krieges; der Boden dampft noch und ist heiß wie die Gemüter. Das alles ist kongenial untermalt von archaisch dröhnenden, bedrohlichen Sounds (Yotam Schlezinger).

Das Ensemble und der Dortmunder Sprechchor bei "Antigone". (Foto: (c) Birgit Hupfeld)
Das Ensemble und der Dortmunder Sprechchor bei „Antigone“. (Foto: (c) Birgit Hupfeld)

Die Geschichte ist zweieinhalbtausend Jahre alt und weithin bekannt: Der Königssohn Polyneikes fühlt sich um sein Erbe am Reich geprellt und greift seine Vaterstadt Theben an. Eteokles, sein Bruder, verteidigt sie. Beide töten sich im Kampf, und das Unheil nimmt seinen Lauf, als ihr Onkel Kreon, der neue Herrscher, bei Todesstrafe verbietet, den Leichnam des Polyneikes zu bestatten. Antigone, die Schwester der beiden Toten, missachtet die Verordnung, bestattet ihren Bruder und bekennt sich öffentlich zu der Tat. Kreon lässt sie daraufhin lebendig einmauern. Doch der Widerstand gegen sein konsequentes Urteil formiert sich: Die eigene Familie, die Seherin und selbst das Volk ergreifen Partei für die Rebellin. Als Kreon verunsichert endlich nachgibt, ist es zu spät – am Ende sind alle um ihn herum tot.

Ekkehard Freye gibt den Kreon zunächst wunderbar als nassforschen, mediengewandten Politiker, der eloquent den Rechtsstaat repräsentiert. Linda Elsner als Antigone inszeniert sich nicht minder medienwirksam als Märtyrerin, die sich scheinbar vor dem Tod nicht fürchtet. Beiden Protagonisten folgt man hochinteressiert bei der Entwicklung ihrer Figuren, die nach und nach den sicher geglaubten Boden unter ihren Füßen verlieren. Auch alle anderen Rollen sind sauber gearbeitet und fügen sich nahtlos in den sehr klaren, dicht inszenierten Erzählprozess. Besonders erwähnenswert ist Alexander Darkow als Wächter, der auch den notwendigen Witz nicht vermissen lässt.

Spektakuläre Choreografien und eine starke zweite Ebene

Der Dortmunder Sprechchor ist so gut wie nie. Schlüssig und wirksam ist die Idee, ihn anfangs im Publikum zu platzieren, wodurch die Zuschauer selbst zum Volk von Theben und damit zu einem aktiven Teil des Geschehens werden. Und wie dieser wirklich auf den Punkt überschriebene Chortext inszeniert ist – ich wiederhole mich gern – ist eine Sensation: Auf höchstem Niveau präsent, präzise und wortgewaltig!

Besonders wird dieser Theaterabend durch die Erfindung einer zweiten Ebene. Bespielt wird sie akrobatisch von Anna und Minna Marjamäki, die als Polyneikes und „Spiegelantigone“ – so lesen wir im gut gemachten Programmheft – die „Sphäre der Toten verkörpern“. Gleich zu Beginn werden wir so zu Zeugen von Polyneikes’ verzweifeltem artistischen Versuch, sich aus dem Schattenreich zwischen Leben und Tod zu befreien. Höhepunkt all dieser sehenswerten akrobatischen Choreografien ist das ausdrucksstarke, wortlose Duett zwischen Hochseil und Boden von Antigone und ihrem Spiegel nach der Vollstreckung von Kreons Urteil. Diesen doppelten Boden als kommentierendes Element neben dem Chor zu installieren, erweist sich als bestechende Idee und rundet eine insgesamt sehr sehenswerte Inszenierung auf spektakuläre Weise ab.

 




Ein Mops kommt in die Oper

Loriot bricht eine Lanze für Richard Wagner im Dortmunder Opernhaus

Im nächsten Jahr wird in Dortmund „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner wiederaufgenommen. „Der Ring“, wie das Mammutwerk unter Eingeweihten kurz heißt, umfasst einen Zyklus von vier Opern, die sich allesamt an der berühmtesten deutschen Heldensage abarbeiten. „Der Ring an einem Abend“ in Loriots Fassung ist da schon mal so etwas wie ein Vorgeschmack, der Trailer sozusagen zum kommenden Wagner-Marathon: ein unterhaltsamer Kurztrip in die blutig-bunte Nibelungenwelt, leidenschaftlich präsentiert vom Gesangspersonal des Opernhauses, von den präzise abgestimmten Dortmunder Philharmonikern und einem gut aufgelegten Götz Alsmann als Erzähler.

Ein Vorgeschmack auf Wagners Mammutwerk

Das Orchester wird an diesem Abend nicht in den Graben verbannt – die ganze Bühne füllt es aus, flankiert auf der rechten Seite von vier ansehnlichen Harfen, auf der linken Seite von dem berühmten Sofa, mit dem Loriot in seinen öffentlichen Auftritten sozusagen zu einer symbiotischen Einheit verschmolzen war. „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos“, behauptete der Altmeister der Komik stets, und dementsprechend ist auch das besagte Tier an diesem Abend präsent, wenn schon nicht leibhaftig, so doch als Aufdruck auf dem Sofakissen. Eine Stehlampe vervollständigt das kleinbürgerliche Ambiente am Rande der großen Opernwelt. Die Instrumentalisten sind fein frackiert in festlichem Schwarz; Siegfried und die Heldenschar tragen keine Rüstung, sondern Abendanzug, die Walküren lange Kleider, Brünnhilde statt Kettenhemd ein Glitzerkleid – Wotan immerhin eine Augenklappe. Und der Blick? Notwendigerweise geradeaus, mit großen Augen und ausdrucksstarker Mimik, in der wir vielleicht die Wagnersche Bedeutungstiefe erahnen sollen. Ein wenig steif wirkt das schon. Sei’s drum – es wird ja keine Oper gegeben, wir nehmen teil an einer konzertanten Variante der Wagnerschen Fantasien. Und mit dieser Vereinbarung lässt sich der Abend durchaus genießen: Bühnenfestspiel meets Wohnzimmerecke!

Loriots Humor trifft auf die Welt der Oper

Nun ist das mit Wagner ja immer so eine Sache: Die einen vergöttern ihn, die anderen verdammen ihn. Da scheint es keine Zwischentöne zu geben – Wagner polarisiert wie wohl kein anderer Komponist des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus gibt es aber auch Zeitgenossen, die den Erfinder des Gesamtkunstwerks gar nicht kennen, die nie etwas gehört haben von Leitmotiven oder dem berühmten Tristanakkord. Insbesondere für diese Unbeleckten hat Loriot seinen Text geschrieben, für all jene, die möglicherweise von der Wucht und der Humorlosigkeit einer kompletten „Ring“-Inszenierung völlig erschlagen wären. In verständlicher und humorvoller Sprache, die in krassem Gegensatz zu den von Wagner selbst verfassten archaisierenden Arien-Versen steht, erzählt Loriot auf seine unnachahmlich klar-komische Art die Geschichte der Nibelungen, entwirrt kurzweilig und verständlich die komplizierten Familienstränge und spart auch nicht mit kleinen witzigen Seitenhieben auf den Opernbetrieb. Wobei sich der bekennende Opernliebhaber Loriot nie despektierlich lustig macht – vielmehr versucht er, auf vergnügliche Weise den Unentschlossenen, den Zweifelnden, vielleicht sogar den Wagnermuffeln das Werk des Komponisten näherzubringen.

Götz Alsmann in Erzähllaune bei Loriots "Ring an einem Abend" (Foto: (c) Anke Sundermeier)
Götz Alsmann in Erzähllaune bei Loriots „Ring an einem Abend“ (Foto: (c) Anke Sundermeier)

Götz Alsmann seinerseits setzt diesen Text kongenial im Sinne Loriots um. Lässig betritt er die Bühne, wirft eine Kusshand ins Publikum und eine ins Orchester, tritt lässig hinters Rednerpult und inszeniert schon den ersten Satz in perfektem Timing: „Die Täter im gewaltigsten Drama der Musikgeschichte sind eigentlich ganz nette Leute.“ Vereinzelte Lacher, aber der Ton ist gesetzt. Das vollbesetzte Opernhaus lauscht fortan gespannt und amüsiert. Götz Alsmann ist ein charmanter Erzähler, streut gelegentlich kleine Extemporés ein und spielt gekonnt auf der Klaviatur seiner Entertainerqualitäten.

Ein Abend zwischen Unterhaltung und Wagner-Erlebnis

Zwischen den Leseeinheiten gibt es immer wieder Wagner – komprimiert, der „Ring“ in Ausschnitten. Dabei ist es großartig zu hören und zu sehen, wie die Solist:innen sich ins Zeug legen, wie sie, an die Rampe gebannt, die fehlende Bewegungsfreiheit wettmachen durch wirklich tollen Gesang. Insbesondere Mandla Mndebele als Wotan und Artyom Wasnetsov als Hagen liefern eine großartige Performance. Begleitet werden sie dabei von den wunderbar aufspielenden Dortmunder Philharmonikern unter der Leitung von Gabriel Feltz.

Alles in allem ein gelungener Abend, der nach immerhin drei Stunden dennoch manche, die mit Wagners Kunst weniger anfangen können, etwas enttäuscht zurückließ: „Zu viel Wagner, zu wenig Loriot“, hört man von einigen. Insofern ist ein Leben ohne Wagner sicherlich möglich – ob es sinnlos wäre, mag ein jeder nach dem Besuch dieses konzertanten „Ring“-Konzentrats selbst entscheiden.

Hans-Peter Krüger




Tücken der Revolution

„Dantons Tod und Kants Beitrag“ inszeniert von Kieran Joel am Theater Dortmund

Die Französische Revolution begann vor 225 Jahren spektakulär mit dem Sturm auf die Bastille. Sie veränderte Europa und die Welt. Kieran Joel geht im Kant-Jahr 2024 der Frage nach, ob die Revolution nachhaltig war und die Menschen wirklich besser gemacht hat. Mit einem spielfreudigen Dortmunder Ensemble inszeniert er eine „revolutionäre Theatersatire“. Nach „Das Kapital. Das Musical“ bearbeitet er diesmal Georg Büchners Drama. Die zentrale Frage lautet: Können Theater und Kunst die Welt verbessern?
Die Inszenierung bietet eine zähe, oft holzschnittartige und laute Performance. Sie bringt wenig neue Erkenntnisse. Doch immer dann, wenn sie Büchners Originaltexte einsetzt, zeigt sie starke schauspielerische Momente.

Herausgekommen ist dabei eine etwas zähe, bisweilen holzschnittartige, oft zu laute Performance mit wenig Erkenntnisgewinn, ein Theaterabend, der jedoch immer dann, wenn er auf Büchners Originaltexte vertraut, auch starke schauspielerische Momente bereit hält.

Dantons Tod: Sarah Quarshie, Lukas Beeler, Antje Prust, Fabienne-Deniz Hammer, Viet Anh Alexander Tran, Alexander Darkow. Foto:(c) Birgit Hupfeld
Dantons Tod: Sarah Quarshie, Lukas Beeler, Antje Prust, Fabienne-Deniz Hammer, Viet Anh Alexander Tran, Alexander Darkow. Foto:(c) Birgit Hupfeld

Zwischen Utopie und Realität: Eine Theatertruppe auf der Suche nach der Revolution

Der Abend beginnt idyllisch. Morgennebel liegt über einer Waldlandschaft, entworfen wie von Caspar David Friedrich. Diese Romantik wird jedoch durch einen Bühnenarbeiter in schwarzem Outfit gebrochen, der am Rand den eisernen Vorhang bedient. Dieses absurde Bild deutet den Spagat zwischen Schein und Realität an, den Joel an diesem Abend wagt. Die Theatertruppe von Intendantin Bettina Kunstmann (Antje Prust) besinnt sich auf den alten Traum der Künstler
. Sie wollen die Welt nicht nur interpretieren, sondern wirklich verändern. Eine nie dagewesene Inszenierung von „Dantons Tod“ soll der Auftakt für eine Theaterrevolution sein.
Vor der Waldkulisse versammelt sich eine Schar Weltverbesserer. Sie wirken in ihren Kostümen (Tanja Maderner) wie Studenten der 68er-Generation. Begeistert entdecken sie das Agitprop-Theater für sich. Die Euphorie ist groß, die Rollen werden verteilt (ausschließlich Männerrollen aus Büchners Drama). Die Rollenverteilung spiegelt die Hierarchie im Theater wider. Es gibt die Radikalen und die Gemäßigten. Einige wollen nur spielen, andere möchten das Spiel zerstören. Diese unterschiedlichen Ansprüche führen zu Konflikten. Theater und Realität vermischen sich auf bedrohliche Weise. Das Ensemble scheitert an seinen Widersprüchen. Es scheint, als würden am Ende echte Köpfe rollen statt Theaterblut fließen.
Das Haupt des Philosophen Kant wurde vorsorglich als übergroßer Puppenkopf entsorgt. Damit steht der gewaltbereiten Zügellosigkeit nichts mehr im Weg.

Starke Monologe als Glanzpunkte der Inszenierung

Das Finale der Satire endet in einer Prügelei. Doch bevor es Tote gibt, verkündet die Darstellerin des Volks (Sarah Quarshie) eine Überraschung. „Die Menschen reflektieren ihre Verhältnisse“, erklärt sie den verblüfften Streithähnen. Alle gehen hinaus und kommen zurück. Sie bezeugen nichts weniger als ein Wunder. Ein Happy End? Hat das Theater sein Ziel erreicht? Wohl kaum. Der Kreis schließt sich zum idyllischen Anfang. Dieser satirisch gemeinte Schluss unterstreicht das Anliegen des Regisseurs. Er möchte ein „hoffnungsvolles“ Theater inszenieren. Doch der Abschluss wirkt ein wenig zu euphemistisch.
Die Dialoge verknüpfen geschickt Büchners Text mit neuen, gemeinsam entwickelten Passagen. Anfangs verfolgt man das Geschehen interessiert. Doch nach und nach wiederholen sich die Wortbeiträge, Fragen und Antworten. Die Widersprüche sind bereits bekannt, und neue Erkenntnisse bleiben aus. Die Auseinandersetzung bleibt im Allgemeinen stecken. Das Interesse verblasst, wie das (Theater-)Blut auf den Kostümen. Die Inszenierung ist oft zu laut und wenig nuanciert.
Wohltuend anders sind die Monologe, die Joel nah an Büchners Original hält. Wenn Alexander Darkow als Danton über den Fatalismus der Geschichte reflektiert, wird es leise. Fabienne Deniz-Hammer als Saint-Just erklärt mit kaltem Lächeln, dass die „Revolution die Menschheit zerstückt, um sie zu verjüngen“. Antje Prust als Robespierre zweifelt an seiner eigenen Gefühlskälte. Diese Momente sind leise und gefährlich. Sie gewinnen an Tiefe und Gedankenschärfe. Für diese starken Augenblicke lohnt sich der Besuch der Inszenierung.




Das Drama von Sevilla – Eine zwiespältige Legende

Ko-Produktion der Ruhrfestspiele mit dem Fußballmuseum als Gastspiel in Dortmund

Das legendär genannte Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich 1982 bei der Fußball-WM in Sevilla jährt sich am 8. Juli zum 40. Mal. Aus Anlass des Jubiläums hat nun Manuel Neukirchner, Direktor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund, ein Buch geschrieben. „Die Nacht von Sevilla, Fußballdrama in fünf Akten“. Sein für die Bühne konzipierter Text hatte am 14. Mai Premiere bei den Ruhrfestspielen, die Inszenierung mit Peter Lohmeyer und Toni Schuhmacher gastierte am 16. Mai vor vollbesetztem Haus im Dortmunder Schauspiel, eine spannend in Szene gesetzte Lesung, ein durchaus unterhaltsamer, inspirierender, in mancher Hinsicht aber auch zwiespältiger Abend.



Halbfinalteilnahmen hat die DFB-Elf im Laufe der Jahre reichlich gesammelt. Ein Halbfinale bei einer WM zu erreichen galt vielen Fußballfans als Minimalziel. Und Halbfinals waren eigentlich immer ein Grund zum Feiern, auch wenn sie mal verloren gingen. Nach dem Halbfinale bei der WM 2006 philosophierte der Kölner Nationalspieler Lukas Podolski zerknirscht, aber durchaus fair über die gerade erlittene Niederlage gegen Italien: „So ist Fußball. Manchmal gewinnt der Bessere!“ 
Nach dem Halbfinale gegen Frankreich1982 waren sich die meisten darüber einig, dass in diesem denkwürdigen Match nicht der Bessere gewonnen hatte. Gegen elegant spielende offensivstarke Franzosen hatte sich eine willensstarke ruppige deutsche Mannschaft doch noch durchgesetzt, nachdem sie schon fast aussichtslos in der Verlängerung mit 1:3 zurückgelegen hatten. 3:3 hieß es nach 120 Minuten und im Elfmeterschießen hatten die deutschen Schützen schließlich die stärkeren Nerven, das größere Glück und einen Elfmetertöter zwischen den Pfosten, der zwei Buden verhinderte und in Deutschland zum Nationalhelden in diesem „Jahrhundertmatch“ verklärt wurde. Toni Schuhmacher, die Nr.1 im deutschen Team, war der Protagonist dieses Fußballdramas, aber nicht nur wegen seiner sportlichen Großtaten. In der 59. Minute flog ein langer Pass in Richtung deutsches Tor, der französische Stürmer Patrick Battiston jagte dem Ball nach, Schuhmacher raste wie ein Berserker aus seinem Gehäuse, um den Ball abzuwehren. Dabei traf seine Hüfte mit voller Wucht den Kopf des französischen Stürmers, der ging zu Boden, blieb bewusstlos liegen und wurde mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Ein brutales Foul, das absurderweise ungeahndet blieb.

Aus zahlreichen Interviews, Zeitungsberichten, Gesprächen und Aussagen von Beteiligten hat Michael Neukirchner seinen Text gefiltert, szenisch bearbeitet, angelegt in Dialogen und aufgeteilt auf die beteiligte Personen, Spieler, Trainer und Sportreporter. Alle verwendeten Sätze sind Originalzitate, chronologisch sortiert und geschickt montiert zu einer spannenden Erzählung, die beginnt mit dem Eintreffen der Mannschaften im Stadion, sich fortsetzt in der Schilderung der Geschehnisse auf dem Platz und endet mit den Reaktionen von Presse und Zuschauern nach dem Spiel.

Auf der Bühne des Schauspielhauses steht eine schmaler Tisch, darauf ein Wald von Mikrophonen wie auf einer Pressekonferenz. Darüber hoch aufgehängt ein runder riesiger Monitor, auf dem im Laufe des Abends immer wieder Fotos vom Geschehen eingeblendet werden, flankiert von zwei Scheinwerfer-Batterien, die an Flutlichtblocks erinnern. Der Schauspieler Peter Lohmeyer betritt die Bühne und beginnt ohne Verzögerung mit der Erzählung. Sehr gekonnt wechselt er von einer Rolle in die nächste, jeder Charakter bekommt eine eigene Farbe, eine eigene Sprache. Karl-Heinz Förster schwäbelt, Paul Breitner grantelt bayrisch, Pierre Littbarski überrascht mit einem schelmischen Kölsch, Platini und seinen Mitspielern verleiht er einen sympathischen französischen Akzent.  Dabei überzieht er nie, sehr fein abgestimmt und dosiert serviert Lohmeyer eine Stimmenvielfalt, aus der auch immer wieder der damalige Sportreporter Rolf Kramer sehr unterhaltsam herausragt. Das ist alles wunderbar lebendig vorgetragen, formidable Schauspielkunst. Dann wird Toni Schuhmacher angekündigt, um eine persönliche Erklärung zu verlesen, eine endgültige Stellungnahme zu dem Fußballdrama, in dem er im Mittelpunkt stand. Er habe nicht gewusst, sagte er vor einiger Zeit, wie sehr Patrick Battiston noch 41 Jahre nach dem Foul an Spätfolgen leide. Und er reagierte durchaus betroffen: „Das höre ich zum ersten Mal. Das ist schlimm. Das tut mir sehr leid.“ Nun sitzt er dort auf der Bühne und sagt, wie sehr ihm das alles nahegegangen sei. Ja, das klingt alles ehrlich, sein Bedauern ist echt, seine Anteilnahme nicht aufgesetzt. Es ist ihm anzumerken, wie sehr er bemüht ist, die Dinge für sich und die Welt ins rechte Licht zu setzen. Mit Battiston habe er sich ausgesprochen, versichert er – und vielleicht wäre es gut gewesen, den Abend in dieser Nachdenklichkeit enden zu lassen.
Aber dann ist es ihm auf einmal doch wichtig zu betonen, dass er in einer ähnlichen Situation als Torwart wieder genauso reagieren würde. Denn damals wie heute sei es darum gegangen, für die Mannschaft zu arbeiten für das gemeinsam Ziel ggf. auch die eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen.
An diesem Punkt gerät der Abend ein wenig in Schieflage, denn plötzlich werden dann – Ende gut, alles gut –  doch wieder die deutschen Fussballtugenden gefeiert, der Durchhaltewille, die eisenharte Disziplin, das Grasfressen für den Sieg, mit allen Mitteln. Alles andere heilt die Zeit, da wächst der Stadionrasen drüber oder um es noch einmal mit Lukas, dem Kicker-Philosophen zu sagen: „Fußball ist einfach: Rein das Ding – und ab nach Hause.“ Denn der Sport steht über allem.
Weniger die Sportlichkeit. Beinahe wären Schuhmacher, Rummenigge, Fischer und Co. nämlich gar nicht ins Halbfinale gekommen! Denn da gab es ja auch noch dieses andere „legendäre“ Spiel, als die Deutschen, die grottenschlecht in das Turnier gestartet waren, kurz vor dem Ausscheiden standen und nun gegen Österreich auf dem Rücken der kleinen Fußballnation Algerien mehr als 60 Minuten ein peinliches, höchst unsportliches Nichtangriffsgekicke zelebrierten, was den Kommentator des ORF so maßlos ärgerte, dass er die Zuschauer aufforderte, die Fernsehgeräte abzuschalten. Dieses Drama ging als „Schande von Gijon“ in die Geschichtsbücher ein und ist ganz sicher auch einen Theaterabend wert.