Der zerbrochne Krug

Am 11.10.2025 feierte die dritte Inszenierung von Lola Fuchs Premiere auf der Bühne des Dortmunder Schauspiels. „Der zerbrochne Krug“ kündigt sich als eine Mystery-Seifenoper nach Heinrich von Kleist an und hält damit mindestens die Hälfte seines Versprechens. Die Eckdaten aus Kleists ursprünglichem Lustspiel sind gleich, jedoch entstaubt Fuchs die Figuren und Handlung und katapultiert sie in eine schräge Szenerie zwischen entrücktem CDU-Dorfleben und überdrehter Influencer-Realität.

Die Handlung rund um einen Gerichtsprozess bekommt auf der Dortmunder Bühne einen grotesk modernen Anstrich. Die Klägerin und Geschädigte Marthe Rull (Antje Prust) tritt als überambitionierte Keramik-Unternehmerin von „The Pottery Fairy“ auf, die ihre Tochter Evangelista aka Eve (Puah Abdellaoui) für ihren Lebenstraum vereinnahmt. Ihr Trailerpark-Look steht dem von Eves prolligen Geliebten Ruprecht Tümpel (Roberto Romeo) in nichts nach, und doch sind die beiden sich spinnefeind. Das reicht so weit, dass Marthe Ruprecht beschuldigt, ihre Töpferware zerstört zu haben, und wendet sich dafür direkt an den Dorfrichter Mr. A (Linus Ebner). Dieser ist als aktives Mitglied im CDU-Landesverband und Naturwein-Liebhaber Vertrauensperson für die Dorfbewohner:innen, entpuppt sich jedoch schließlich als der Schuldige des Verbrechens. Der Gerichtsschreiber Licht (Lukas Beeler) bezeichnet sich selbst augenzwinkernd als seine „Magd“ und mimt den Erzähler für das Publikum. Aus Gerichtsrat Walter wird bei Fuchs die unterkühlte Compliance-Managerin Wendy Walter (Nika Mišković), die die Ermittlungen überwacht. Und zu guter Letzt taucht noch das Dorfmedium Brigitte auf, die sich zwischen mysteriösem Orakeln, gewitztem Geschäftssinn und verrücktem Vogelnest auf dem Kopf bewegt.

Der zerbrochne Krug.: v.l.n.r.: Tobias Hoeft, Lukas Beeler, Roberto Romeo, Antje Prust, Puah AbdellaouiFoto © Birgit Hupfeld
Der zerbrochne Krug.: v.l.n.r.: Tobias Hoeft, Lukas Beeler, Roberto Romeo, Antje Prust, Puah Abdellaoui
Foto © Birgit Hupfeld

Fuchs verpackt in ihrer Adaption von Kleists Stück über Wahrheit und Recht jede Menge  Gesellschaftskritik. Angefangen bei ihrem humoristischen, aber pointiert kritischen Blick auf digitale Medien, neoliberale Geschäftsmodelle und moderne Sozialstrukturen richtet Fuchs ihre Aufmerksamkeit besonders auf Phänomene, die uns die Gegenwart leicht bekömmlich, aber klar aufzeigen. Eve wurde seit ihrer Kindheit von ihrer Mutter an die Töpferscheibe gezwungen und verkörpert eine Type des Millennials, die unter Leistungsdruck und digitaler Omnipräsenz lost zwischen Hingabe für ihren Geliebten und Selbstbehauptung ihrer Selbst ist.

Dem Publikum werden durch den Modellbau der Dorfgesellschaft Klassismus und soziale Ungleichheiten aufgezeigt – Marthe ist hochverschuldet und Mr. A bereichert sich an privaten Darlehen – ebenso wie patriarchale Strukturen zum Vorschein kommen – Mr. A ist die Autorität über Wahrheit und Sein im Dorf. Und auch Feinheiten wie ein kritischer Blick auf die moderne Vermarktung von Esoterik und Spiritualität werden von Fuchs mit skurriler Leichtigkeit herausgearbeitet. Der Spagat zwischen der alten Sprache des 19. Jahrhunderts und neudeutschen Konstruktionen gelingt dabei nur halb und kommt etwas spröde daher. Auch der Umzug von Fuchs Stücken auf die große Bühne des Theaters kommt ihrer Arbeit nicht unbedingt zugute. Der Charme der Live-Kamera, die zwei simultane Perspektiven auf das Bühnengeschehen zulässt, verkommt jenseits der Studiobühne zur Spielerei, die höchstens noch an ein filmisches Reenactment bei Gericht erinnert. Die extreme Typisierung der Figuren, die fast bis zur Parodie ihrer selbst reicht, gelingt Fuchs wie so oft erneut. Jedoch bewegen sich Handlung und Personen nicht weit genug aus dem Korsett der Stückvorlage und dem Habitus einer großen Bühneninszenierung heraus, wodurch die Adaption teils hölzern wirkt. Lola Fuchs‘ künstlerische Handschrift und ihre eigenwillige Art, die Gegenwart pointiert zu sezieren, verbinden sich nur schwerlich mit den Scherben von Kleists zerbrochenem Krug. Dennoch entsteht ein unterhaltsamer Theaterabend, der den Klassiker mit Witz und schrillen Bildern neu befragt.




Beyond Gravity Festival, 03.10.2025

Vom 01.-05. Oktober 2025 wurden beim Beyond Gravity Festival 2025 künstlerische Forschung, digitale Innovation und gesellschaftspolitische Fragestellungen verhandelt.Veranstaltet wurde das Festival vom Theater im Depot, der Akademie für Theater und Digitalität sowie dem Kulturforum Witten, das regionalen und internationalen Künstler:innen eine Plattform für transkulturelle Zusammenarbeit, kritische Reflexion und künstlerisch-technologische Zukunftsentwürfe bot. Dafür vereinte das Festival ein Residenz- und Diskursprogramm mit einer Reihe aus kuratierten Gastspielen aus dem Ruhrgebiet, Deutschland und dem europäischen Ausland. Dabei setze das Programm einen klaren Schwerpunkt auf den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in künstlerischen Produktionsprozessen sowie auf die Entwicklung hybrider Aufführungssituationen zwischen digitalen und physischen Räumen, Körpern und Narrativen.

Am 03. Oktober kreiste das Publikum um die Spielorte Akademie für Theater und Digitalität am Dortmunder Hafen und das Depot am Fredenbaumpark, in dem die große Mittelhalle, das A29 und das Studio 2 bespielt wurden. Die Performance „Breath‘In You“ von Laura Waltz vereinte klassische Choreografie und Körperarbeit mit digitalen Mitteln. Während sich die Performerin Waltz dynamisch über die Bühne bewegte, fächerte sich nach und nach ein Mosaik digitaler Abbilder ihrer Bewegungen auf den Wänden um sie herum auf – ein wechselseitiger Tanz zwischen Körper und digitalem Avatar.

Climb a mountain / MIRA-Julia Riera
Climb a mountain / MIRA-Julia Riera

In der Mittelhalle des Depots und dem Raum A29 konnten unterschiedliche Installationen besucht werden, die durch kleine und große Bildschirme eine Reflexion des Sozialen im Digitalen erfahrbar machten. Eine dieser Arbeiten mutierte am Abend des Freitags zu einer Live-Performance, bei der das Publikum über drei Screens – zwei von der Größe einer Kinoleinwand und einer XR-Brille – in eine jenseitige Welt abtauchen konnte. Norbert Pape & Simon Speiser entführten die Besucher:innen durch die Mehrkanal-Video- und Extended Reality (XR)-Installation in eine Sphäre jenseits anthropozentrischer Weltbilder.

Beim abendlichen Symposium „Beyond Gravity Reflexionen“ im Studio 2 kamen interessierte Besucher:innen und Fachpublikum in den Austausch über die Fragestellungen des Festivals und seiner Arbeiten. Die performative Aktivierung „Vector 0.002: We Make with Memory“ vom Pangea IA Collective flankierte die Gesprächsrunde des Symposiums mit einer mit dekolonialen Perspektive auf die blinden Flecken sowie die Potenziale von künstlicher Intelligenz.




Neun Anti-Heldinnen reißen das Theater Dortmund ab

Am 10. Mai feiert die Gruppe „i can be your translator“ Premiere auf der Bühne des Theater Dortmund. Anlässlich des geplanten Umzugs des Theaters in eine andere Spielstätte zum Ende des Sommers, lädt die seit zwei Jahren am Haus gastierende Gruppe das Publikum zu einem „Abriss!“.

Gemeinsam mit dem Publikum finden sich die Performenden auf der Bühne selbst ein, um die Frage zu verhandeln, was eigentlich genau abgerissen werden soll. Dafür treten sie eine klassische Held:innen-Reise an, die ziemlich unklassisch endet. Doch bevor es losgeht, werden die Besucher:innen erstmal gebrieft. Es handele sich um eine Relaxed-Performance, bei der Geräusche und bei Bedarf das Verlassen und Betreten des Raumes erlaubt seien. Außerdem werden die lauteste, hellste und dunkelste Stelle im Stück vorangekündigt. Hier äußert sich der erste Abriss klassischer Theaterformen: Statt das Publikum chronologisch in die Illusion der Geschichte einzuführen, wird der Ablauf und das zu erwartende Ende transparent gemacht und somit auf diverse neurodivergente Voraussetzungen im Publikum eingegangen.

In einer humoristischen Kurz-Zusammenfassung fächert das mixed-abled Ensemble dem Publikum zunächst eine Bandbreite von Held:innen-Geschichten auf: Pippi Langstrumpf, Indiana Jones, Rapunzel, Harry Potter, Tiger & Bär, Dune, Käpt’n Blaubär… und so weiter und so fort. Schnell wird klar, dass sie alle nach ähnlichem Muster funktionieren. Also muss eine neue Geschichte her! Dazu werden die neuen Held:innen gerufen und in einer Art Initiationsritual begrüßt. Der Performer Christian Schöttelndreier aka Schotti tritt mit einer leuchtenden Neon-Röhre auf, die an etwas zwischen Laserschwert und futuristischem Brennstab erinnert. Aufwändig und mit größter Sorgfalt wird die Röhre in eine von vier großen Säulen à la Atommülleimer (Bühne: Birk-André Hildebrandt) eingesetzt und schon geht es los: Eine Dreh-Plattform transformiert sich zur Bühne auf der Bühne und die Performer:innen formieren sich zu einer Band. Begleitet vom Musiker Christian Fleck, der an einem massiv verkabelten Musiktisch thront, und verschiedenen Instrumenten – darunter die für die Gruppe charakteristischen (diesmal neonfarbigen) Blockflöten – spielen sie „I need a hero“ von Bonnie Tyler.

Das Ensemble von "Abriss". (Foto: (c) Birgit Hupfeld)
Das Ensemble von „Abriss“. (Foto: (c) Birgit Hupfeld)

Mit viel Witz und Leichtigkeit nähern sich die Performenden nun ihrem eigenen Held:innentum. In futuristischen Kutten (Kostüm: Renè Neumann) durchlaufen sie ein Reenactment des populären Heldenepos „Herr der Ringe“. Dabei führt die Zuordnung der Rollen die vermeintlich ehrbaren Eigenschaften der Figuren liebevoll ad absurdum. Während die größte Performerin den Zwerg Gimli mimt, präsentiert Schotti dem Publikum als Legolas seinen pfeilschnellen Bogenschuss in gefühlten 10 Minuten. Das Spiel mit Asynchronitäten und ungewohnten Geschwindigkeiten kommt an diesem Abend nicht nur ein Mal zum Einsatz und führt dem Publikum mit einem Augenzwinkern vor, wie unterschiedlich die Wahrnehmung von Zeit sein kann.

Auf der weiteren Reise changieren die Erzählungen des Ensembles zwischen Humor und Ernsthaftigkeit, wenn sie von Ungerechtigkeiten, Defiziten, Gewalt, Diskriminierung und Barrieren erzählen. Die Performerin Anna Reizbikh tritt mit ihrem Rollstuhl den beschwerlichen Weg an von der Bühne, über den Hinterausgang raus, um das Gebäude herum, hinein in das Foyer des Theaters, mit dem Aufzug hinauf und rein in den Publikumsraum. In dieser Szene trifft die Bitterkeit der Realität von Menschen, die solche Barrieren tagtäglich überwinden müssen, auf schwarzen Humor. Die persönliche „Reise zum Mond“ wird abgerundet mit einer Gesangseinlage und weiteren Geschichten rund um grundlegende Probleme in unserer Gesellschaft: von der Unterversorgung im Gesundheitswesen, struktureller Diskriminierung und alltäglichen Gewalterfahrungen enden „i can be your translator“ bei der Erkenntnis, dass es all diese Probleme abzureißen gilt, um die Welt besser zu machen!

Symbolträchtig beschließen sie das Theater in seinen Grundfesten zu erschüttern und es mit einem Hammer und einem Dynamitzünder zu zerstören. Stellvertretend für das marode Schulsystem, den zu früh abfahrenden Zug, das Ehegattensplitting, die Prokrastination, zahllose Treppen und ständigen Harndrang hält der Bühnenboden für die Zerstörungslust der Gruppe her. Dabei wird Linda Fisahn mit einem chorischen „Wir bitten dich, zerstöre es!“ ekstatisch angefeuert. Nach diesem euphorischen Ritus, der Funken von Pyrotechnik und ein Loch im Bühnenboden hervorbringt, steht das Theater zwar immer noch in seinen Grundfesten, doch der Akt hat eine befreiende Wirkung.

Jetzt sind der Phantasie keine Grenzen mehr gesetzt, wie die Geschichten sich ändern müssten, damit sie die Welt verbessern, statt ihre Probleme zu verschärfen. Dabei bleibt eine Traurigkeit über den Abschied von einst geliebten Epen und Heroen (Stichwort: Darth Vader als faschistischer Massenmörder) nicht aus. Außerdem herrscht Uneinigkeit im Held:innenkollektiv darüber, wie genau die Wirkkraft der Geschichten umgekehrt werden kann. Brauchen unsere Geschichten mehr Tiefe, mehr Fokus auf das Individuum oder doch einfach nur mehrstimmige Lieder? Die Frage bleibt unbeantwortet und ein letzter Wunsch steht im Raum: Dass am Ende dieser Geschichte ein Zaubertrick steht. Doch wie der genau aussieht? Wer weiß…

 

 

Mit: Lis-Marie Diehl, Linda Fisahn, Christian Fleck , Ekkehard Freye, Julia Hülsken, Marlena Keil, Anna Reizbikh, Christoph Rodatz, Christian Schöttelndreier, Laurens Wältken




SPOT ON, NRW! – Die Freie Szene Film Dortmund e.V. präsentiert ein Kaleidoskop lokaler Kurzfilme

Am 02.04.2025 brachte das IFFF Dortmund+Köln mit der Sektion „Spot on, NRW!“ sechs Kurzfilme aus der Region auf die Leinwand. Nach der kürzlichen Gründung des Freie Szene Film Dortmund e.V. rückte der Verein die lokale Filmszene der Stadt in den Fokus und präsentierte ein Kurzfilmprogramm im Spannungsfeld zwischen der Suche nach Schutzräumen und dem Erobern neuer Orte. Mit dabei waren Filme von Nicola Gördes & Stella Rossié, Lilith Gosmann, schubert-stegemann & Mirella Drosten, Linda Verweyen, Gina Wenzel und Artiom Zavadovsky.
Unterschiedlichste Ästhetiken und Erzählweisen trafen in dem von Alissa Larkamp kuratierten Programm aufeinander. So vielfältig die Bildsprachen und Zugriffe auf Themen wie Liebe, Macht, Altern, Diversität und weitere waren, so kreisten alle Filme auf ihre Weise um Formen der Rebellion: ein widerständiger Akt, ein abweichendes Lebenskonzept, ein aufmüpfiges Gemälde oder ein ungehorsamer Gedanke.

Rebellion und Reflexion in sechs filmischen Perspektiven

Die Filme Female Walk und Letzte Nacht zeigen beide auf ihre Weise einen Horror des Sozialen. In Female Walk von Lilith Gosmann ist es eine groteske Tischgesellschaft, die in überspitzter Form patriarchale Typen und Verhaltensweisen abbildet. Unabhängig vom Geschlecht der Anwesenden werden an dieser Tafel patriarchale Gesten, Codes und Bewegungsmuster performt. Wie durch ein Vergrößerungsglas nimmt die Kamera diese Typen in den Blick und lässt die alptraumhafte Atmosphäre der geschlossenen Gesellschaft auf das Publikum wirken. Die Protagonistin versucht, diesem Horror zu entfliehen, begibt sich in einen Raum der inneren Reflexion und des individuellen Kampfes gegen die erlebten Zwänge und schafft es schließlich, sich zu ermächtigen.

Filmstill aus dem Film "Mutterstadt" von Mirella Drosten und schubert-stegemann .
Filmstill aus dem Film „Mutterstadt“ von Mirella Drosten und schubert-stegemann .

Ebenfalls im Setting einer geschlossenen Gesellschaft spielt die Kneipenszenerie in Die letzte Nacht von Nicola Gördes & Stella Rossié. Eine verbrauchte Gesellschaft aus gelangweilten, erschöpften, wütenden und einsamen Gestalten begegnet dem Publikum in einer Kamerafahrt durch die Ecken des Lokals. Unklar, ob es sich bei dieser Szenerie um Dystopie oder Realität, um Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft handelt, zeichnen Gördes und Rossié ein Bild einer absurden, abgekämpften und brutalen Welt, die schließlich in ihrer eigenen Dysfunktionalität zugrunde geht.

Der Kurzfilm Mutterstadt von Mirella Drosten und schubert-stegemann präsentiert den Dortmunder Stadtraum als Spiegel des weiblichen Körpers. Die Zuschauer:innen erleben ein Changieren zwischen Bewusstseinsstrom – in dem die Erzählerin durch die Straßen der Stadt sowie durch Erinnerungen vergangener Zeiten wandelt – und surrealem Traum, der zwei gealterte Frauen bei einem morbiden Kaffeekränzchen zeigt. Im Prozess des Alterns, des Verfalls, aber auch der Veränderung treffen sich Materialitäten wie Haut, Stahl, Stein, Staub und Fleisch. Sie transformieren sich, bekommen Risse und Falten und werden zum Archiv der Erinnerung des Eigenen sowie des Kollektiven. Verzerrte Bilder des Stadtraums treffen auf traumartige Sequenzen, in denen Körper, Zeit, Materie und Erinnerung verschmelzen und das Bekannte bis zur Unkenntlichkeit zerrinnt.

Gina Wenzel fächert in Mosaik einen Blick auf eine diverse und multikulturelle Stadtgesellschaft auf. Sie wirft Schlaglichter auf persönliche Geschichten, Gewohnheiten und Leidenschaften der Bewohner:innen der Stadt Dortmund und untermalt die poetischen Narrative durch charakteristische Bilder des öffentlichen Raums. Ein Blick auf erleuchtete Fenster in der Fassade eines Wohnblocks bei Nacht wird zum Sinnbild der individuellen Vielfalt im kollektiven Ganzen.

Linda Verweyen erzählt dem Publikum in LOVE, AGE, POWER unaufgeregt und doch feinfühlig die Liebesgeschichte von Dagmar und Patrick. So gewöhnlich wie die interracial Beziehung der beiden ist, berichten sie von alltäglichen Herausforderungen, Erfahrungen und der Kraft ihrer Verbindung. Begleitet von Bildern der Leichtigkeit und Weite, gibt Verweyen der Selbstverständlichkeit dieser Beziehung Raum und schenkt dem Publikum einen Moment der Hoffnung.

In Confessions of Pia Antonia rückt Artiom Zavadovsky die mittelalte Pia und ihre Kunst in den Fokus. Er besucht die zurückgezogene Dame in ihrem Zuhause inmitten eines kleinbürgerlichen Wohnviertels und lässt sie über einschneidende Erlebnisse und ihr Selbstverständnis des Lebens erzählen. Währenddessen nimmt die Kamera liebevoll ihre Gemälde in den Blick, die voller Rebellion, Provokation und Kraft strotzen und Pias tiefgehende Reflexion der Gesellschaft widerspiegeln. Dieses intime Porträt macht Pia und ihre hinter den Mauern der Spießbürgerlichkeit verborgene Kunst sichtbar.




Raincatchers: Szene 2wei über den (unv)erhofften Wandel

Ein Nachbericht

Am 17. & 18. Mai 2024 brachte die mixed-abled Tanzkompanie Szene 2wei den Regen auf die Bühne des Theaters im Depot. Analog zur ökologischen Lage der Welt beginnt Raincatchers mit dem drohenden Ende. Wir sehen eine reich gedeckte Tafel mit Weinkelchen und Äpfeln bestückt, um die sich die diverse Gesellschaft der Szene 2wei tummelt. Sie prosten sich zu, reichen sich die süßen Früchte an und lassen es sich augenscheinlich gut gehen. Im Hintergrund strahlt uns das romantische Bild einer unberührten Wiesen-Landschaft über einen Bildschirm an. Doch etwas Unheilvolles kündigt sich in dieser Tischidylle an, die zwischen letztem Abendmahl und morbidem großen Fressen oszilliert.



Allmählich bricht das Bild auf und die feine Gesellschaft ergießt sich über den Tischrand hinweg: Sie rollen, kriechen und robben sich in den weiten Raum der Bühne, der sonst nur einen Müllberg aus Tüten beherbergt. Das Ensemble tanzt sich mit immer wilder werdender Dynamik in verschiedene Emotionen und Zustände hinein. Sie bilden wechselnde Konstellationen, zucken, schwingen, vibrieren, imitieren, resonieren miteinander oder tanzen stur aneinander vorbei. Die Performer:innen zeigen uns Bilder und Anordnungen, die nicht nur inhaltlich von Diversität erzählen, auch die Choreografie (William Sánchez H.) setzt die diversen körperlichen Konstitutionen des Ensembles ganz selbstverständlich in Beziehung. Der Apfel als Symbol und konkretes Objekt begleitet sie durch ihre Bewegungsfolgen. Schließlich rückt er ganz in den Mittelpunkt als eine Stimme aus dem Off die reine, feine Frucht lobpreist und ein anmutiger Tanz die Eloge an den Apfel krönt.

Das Ensemble von Szene 2wei bei "Raincatchers". (Foto: Stefan Wachter)
Das Ensemble von Szene 2wei bei „Raincatchers“. (Foto: Stefan Wachter)

Und dann der Bruch! Klimawandel! Und der kickt so richtig: Die Performer:innen hüllen sich in absurder Manier in Kleidung, die aus den Mülltüten zum Vorschein kommt. Die Stoffe werden in Lagen und ansteigendem Tempo angelegt, umständlich umwickeln sie die Gliedmaßen der Performer:innen und werden so teils zum Handicap. Wieder teilen sich die Bewegungsfolgen in kollektives und vereinzeltes Handeln und Sein. Die Diversität der Bühnengesellschaft bleibt gleich, aber mit der Umwelt scheinen sich ihre sozialen Dynamiken und Zustände zu verändern. Dabei hören wir Texte über Konsum, Ressourcen, Überfluss, Hoffnungen, Verunsicherung, politisches Handeln und Scheitern. Die Landschaft im Hintergrund ist längst in ein Dämmerlicht gehüllt und lässt uns im Dunkeln, ob es Nacht wird oder der Morgen wieder graut. Die Fast Fashion Show endet schließlich mit einem knalligen Statement der Nacktheit, das mit einem Augenzwinkern auf unseren „natürlichen“ Ursprung verweist, aber so schnell wieder vergeht, wie es kam. Zum Schluss geraten die Körper der Szene 2wei ein letztes Mal in Wallung und tanzen sich zu „my body, my choice“ und dröhnenden Beats (Soundtrack: Lukas Tobiassen) in Ekstase. Und dann – endlich – regnet es wieder… Ruhe kehrt ein und wir hören nur noch die belebenden Tropfen auf die Erde niederprasseln.

Choreografie: William Sánchez H.
Leitung: William Sánchez H. und Timo Gmeiner
Tanz: Jörg Beese, Sonja Pfennigbauer, Ricarda Noetzel, Manuela Aranguibel, Jose Manuel Ortiz, Sander Verbeek
Musik: Lukas Tobiassen
Licht Design: Clément Debras
Bühnenbild und Kostüme: William Sánchez H. und Simone Müller




äöü – Geh zur Ruh´: Gut, okay oder schlecht? Einfach müde!

Bei der Performance Geh zur Ruh´ lädt das Kollektiv äöü alle ins Theater ein, die dringend mal ein Nickerchen brauchen. Denn hier dreht sich alles um die Erschöpfung. Die beiden Performer:innen Patricia Bechtold und Johannes Karl treten dem Publikum in Kunstturnkostümen entgegen, die an vergangene vitale Zeiten erinnern. Doch jetzt sind sie einfach müde.



In einer klinischen Atmosphäre, irgendwo zwischen Irrenanstalt und Kurhaus, geben sie sich ihrer Erschöpfung hin. Ein mit Steppdecken verhülltes Doppelbett füllt den weißen Raum, auf dem die Performer:innen zuweilen ruhen oder ihre Müdigkeit zur Schau stellen. Im Hintergrund der Bühne thronen vier Säulen unterschiedlicher Größe, zwei davon präsentieren uns eine Kristallglas-Pyramide und einen antiken Tonkrug. Symbolträchtig wird diese Pyramide im Laufe der Performance befüllt und erwartbar überfüllt – der Tropfen, der das System zum Überlaufen bringt, gerinnt mahnend zu einer Pfütze auf dem Boden. Beiläufig, fragmentiert und unaufgeregt berichten die Performer:innen dem Publikum von verschiedenen Erschöpfungserzählungen – von schleichender Erschöpfung, von Abgeschlagenheit in Intervallen, von Überforderung bei scheinbarer Kontrolle, von selbstauferlegter Belastung, von permanenten Krisen und vom absoluten Zusammenbruch.

Die Frage, wie es dem anderen eigentlich geht, unterbricht und verbindet die Geschichten und wiederholt sich unermüdlich bei maximaler Müdigkeit. Das abgekämpfte „Geht’s dir gut?“ bleibt unbeantwortet und es ist dem Publikum überlassen, ob es darin Sorge, Wunsch oder Zwang erkennt. Doch die Erschöpfung endet nicht. Immer weiter hören wir, wie die alltäglichen Belastungen des Lebens den Abstieg unausweichlich provozieren, emotional unverfügbar machen, auslaugen bis zum letzten Tropfen, bis eine kleine Banalität wie die Aufgabe, eine Popcorn-Maschine zu putzen, zur schlussendlichen Katastrophe führt.

Johannes Karl und Patricia Bechtold geben sich der Erschöpfung hin. (Foto: (c) Simon Lenzen)
Johannes Karl und Patricia Bechtold von äöü geben sich der Erschöpfung hin. (Foto: (c) Simon Lenzen)

Einen träumerischen Kontrast zum Reigen der Kraftlosigkeit bildet das gelegentliche Schwelgen in Erinnerungen an das längst vergangene System der Kur-Anwendungen in Deutschland. äöü zeichnen es als Sinnbild für die seit Mitte der 90er-Jahre gesellschaftlich und politisch verworfene Vorsorge und stellen provokant die Frage, warum wir heute erst abbrennen müssen, um uns dann wieder neu aufzubauen. Denn was bleibt, ist eine politische Situation, in der das Ausruhen des Einzelnen zur Unruhe der Anderen wird. Ein Leben, in dem wir uns Erschöpfung nicht mehr leisten können und sie doch ständig da ist. Die Frage „Geht’s dir gut?“ mutiert schließlich zu einem „Kann ich dir helfen?“. Das Sorgen füreinander scheint der etwas trostlose Ausweg aus der Erschöpfungsschleife. Die Verschiebung des Kümmerns vom staatlichen in den privaten Raum wird dem Publikum als notgedrungenes Pflaster gegen die systematische Zerschlagenheit präsentiert.

Schließlich verwandelt sich die Bühne, gestaltet von Sofia Falsone, sukzessive vom sterilen Whitecube in eine kuschelige Stoffhöhle. In einem schwerfälligen Kraftakt suhlen, winden und schlängeln sich die Performer:innen durch unzählige Decken, die immer weiter den Raum bedecken und zu guter Letzt mit Seilzügen zu einem bühnenfüllenden Zelt aufgezogen werden. äöü lädt das Publikum ein, diesen Raum als Utopie des Ruhens, der Sorge, der Solidarität oder der Geborgenheit mit ihnen zu betreten – ein Ort, in dem selbst das vorherige Schreckensbild der Popcorn-Maschine kindliche Genüsse und Träume weckt.

Die Performance Geh zur Ruh´ war am 12. und am 13. April 2024 im Theater im Depot zu sehen.