Weihnachtsoratorium zwischen Tradition und Moderne
Im Rahmen des Klangvokal Musikfestivals Dortmund konnte das Publikum am 05.12.2025 im Reinoldihaus die Uraufführung eines zeitgenössischen armenischen Weihnachtsoratoriums unter dem Titel „Light The Candle“ erleben.
In der Kultur Armeniens sind die Geschichte der Geburt Christi und die Religion seit zwei Jahrtausenden fest verankert. Zahlreiche Dichter des Landes haben über die Epochen hinweg poetische Texte über Verkündigung, Geburt und die Erscheinung des Herrn verfasst. Der amerikanisch-armenische Komponist John Hodian hat diese historischen Erzählungen gemeinsam mit dem Naghash Ensemble in ein Oratorium mit musikalischer Tiefe zwischen Vergangenheit und Moderne verwandelt. Hier verbinden sich traditionelle armenische Musik und ein Gesang voll Mystik und teils orientalischer Spiritualität mit der Kraft von Rock-Pop und Jazz-Elementen am Piano. An diesem Instrument sorgte Hodian höchstpersönlich für energetische Impulse.
Das Naghash Ensemble. (Foto: (c) Bülent Kirschbaum)
Eine wichtige Rolle spielte der intensive Gesang von Hasmik Baghdasaryan und Tatevik Movsesyan (beide Sopran) sowie Shahane Zalyan (Alt). Sie überzeugten sowohl als starke Solostimmen als auch im Ensemble – mal mystisch-meditativ, dann wieder rhythmisch treibend. Das Zusammenspiel mit den charakteristischen Klängen des armenischen Holzblasinstruments Duduk (Harutyon Chkolyan), der in Indien und Armenien gespielten zweifelligen Röhrentrommel Dhol (Tigran Hovhannisyan) sowie der Kurzhalslaute Oud (Aram Nikoghosyan) war dabei für die Gesamtwirkung von wesentlicher Bedeutung.
Die zugrundeliegenden Texte aus mehreren Jahrhunderten wurden dem Publikum vorab jeweils mit Pathos in der deutschen Übersetzung dargeboten. Ein ganz spezielles Oratoriums-Erlebnis.
Antichristie – eine antikolonial-zeitreisende Detektivgeschichte
Der Regisseur Kieran Joel bringt Mithu Sanyals zweiten Roman „Antichristie“ auf die Bühne. Auf der stürmischen, knapp dreistündigen Reise durch die Zeiten trifft das Publikum auf ein Mashup aus Detektivroman, Kolonialdiskurs und Identitätskrise. Die Hauptfigur ist die 50-jährige Drehbuchautorin Durga, gespielt von Maya Alban-Zapata. Sie struggelt mit ihren deutsch-indischen Wurzeln, ebenso wie mit ihren Aufgaben im britischen Produktionshaus „Florin Court Films“. Während sie selbst darum kämpft, in der Medienbranche ernst genommen zu werden – ihr Auftrag ist es, Agatha Christie politisch korrekt neu zu interpretieren – hat ihre biodeutsche, aber frisch verstorbene Mutter Lila als Aktivistin für den indischen Freiheitskampf scheinbar mehr mit ihrer Identität zu schaffen als Durga selbst es zu fühlen vermag. Beziehungsstatus: schwierig!
Die Verarbeitung des Todes der Mutter löst einen inneren Prozess bei Durga aus, der sich auf Handlungsebene als Zeitreise, auf Dialogebene als philosophisch-politischer Diskurs und auf Bühnenebene in Form von zirkulierenden Bühnenelementen veräußert. Plötzlich fällt die Protagonistin durch Raum und Zeit und landet im London der 1910er Jahre. Dort begegnet sie einer Gruppe von Revolutionären im „Indian House“, die mit gewaltsamen Methoden gegen die britische Kolonialherrschaft kämpfen.
Doch hier wird’s komplex: Denn im Gegensatz zur Literaturvorlage schmeißt Joel die Zuschauenden direkt in die Vergangenheit, wechselt dann zum Jahr 2022 und enthüllt erst nach einem gefühlten Drittel der Inszenierung, dass das parapsychologische Ereignis einer Zeitreise die beiden Handlungsstränge verbindet. Die Schauspieler:innen auf der Bühne erläutern dabei analytisch, warum gerade das nicht-lineare Erzählen politisch widerständig ist und wie es koloniale Narrative unterlaufen kann. Übrigens wechselt die Hauptfigur nicht nur zwischen den Zeiten, sondern auch den Geschlechtern. Denn 1906 findet sich Durga im Körper des männlichen Freiheitskämpfers Sanjeev wieder, der von Viet Anh Alexander Tran gespielt wird und wie ein Kehrbild von Durgas Mutter in der Vergangenheit anmutet.
Die Bühne besteht aus rollenden Gebäudemodulen, die teils der vergangenen und teils der gegenwärtigen Zeit zugehören, jedoch ästhetische Ähnlichkeiten aufweisen und wechselnd in den Vordergrund rollen oder kombiniert werden. Hinzu kommen Videoprojektionen, die weitere Zeitebenen durch Bilder von historischen Freiheitskämpfen und ihren Akteur:innen einbringen. Durch die ständige Anwesenheit mehrerer Zeitebenen auf der Bühne und rasante Wechsel zwischen ihnen mischt Joel sie auf eine Weise, die den Fokus auf die Parallelen und Bezüge zwischen den Zeiten legt. Die Dramaturgie von „Antichristie“ wird somit zum formalen Exempel für die Verwobenheit kolonialer Strukturen, über die sowohl im „Florin Court Films“-Büro als auch im „Indian House“ heiß debattiert wird. Im Mittelpunkt beider Ebenen stehen Fragen nach politischer Wirksamkeit, nach Pazifismus als Teil eines kolonialen Systems und danach, ob Gewaltausübung eine politisch unterdrückte Gruppe zum politischen Subjekt machen kann. Das schauspielerisch sehr starke Ensemble wird dafür von Mitarbeitenden aus der Maske und Kostüm unterstützt, die ihr Gewand fast im Minutentakt zwischen modernem Dress und morbider schwarz-weiß-Ästhetik changieren lassen.
Joels Inszenierung ist ein wahrlich komplexer Ritt durch Sanyals Roman, der mit dramaturgischer Raffinesse, Witz und inhaltlicher Tiefe überzeugt. Immer wieder begegnen uns hoch politische Diskussionen über dekoloniale Kämpfe, Unterdrückungsmechanismen, Kultur als Machtinstrument, die Frage nach der Möglichkeit des Richtigen im Falschen… und dann kommt auch noch das Detektivgenre hinzu, an dem sich das Stück inhaltlich und formal abarbeitet. 1906 geschieht ein Mord, den es aufzuklären gilt. In 2022 streitet Durga mit ihren Kolleg:innen darüber, ob und wie verstaubte Detektivgeschichten von Christie dekolonisiert werden sollten. 1906 wiederum taucht plötzlich Sherlock Holmes auf, um aufzuzeigen, dass er detektivisch brillant, aber politisch eben von vorgestern ist. So verabschiedet sich „Antichristie“ – spätestens jetzt ergibt der Titel einen Sinn – von der Herrschaft der klassischen Detektive à la Poirot. Es setzt dem Prinzip der Deduktion das nicht-lineare Erzählen entgegen und erklärt die Zeitreise zum metaphorischen Instrument für die Dekolonisierung unserer Gesellschaft. Zum Ende des Stücks ist die Drehbühne in ständiger Bewegung und es scheint nicht mehr relevant, in welcher Zeit wir uns befinden. Denn schließlich bleibt die Erkenntnis, dass nur die Aktion und das gewaltsame Eingreifen in unsere eigenen Geschichten Graustufen zeichnen können, die nicht zwischen die Schwarz-Weiß-Stufen der Kolonial-Logik passen.
Von und mit
Durga Chatterjee: Maya Alban-Zapata
Sanjeev Chattopadhya: Viet Anh Alexander Tran
Lila Chatterjee: Katharina Dalichau
Godfrey Jeremy Stoddart-West, Kirtikar Elsner und andere: Linda Elsner
Christian Fowler, Vinayak Damodar Savarkar und andere: Luis Quintana
Shazia Bey, Madan Lal Dhingra und andere: Puah Abdellaoui
Carwyn Fardd, William Hutt Curzon Wyllie und andere: Roberto Romeo
Maryam Olando, Asaf Ali und andere: Marlene Goksch
Regie: Kieran Joel
Bühne: Justus Saretz
Kostüme :Tanja Maderner
Musik: Lenny Mockridge
Video: Leon Landsberg
Dramaturgie: Sabrina Toyen
Theatervermittlung: Sarah Jasinszczak
Sprechtraining: Sybille Krobs-Rotter
Licht/ Video: Stefan Gimbel, Markus Fuchs
Ton: Jörn Michutta
Regieassistenz: Marleen Seiter und Bayram Umur Yildirim
Bühnenbildassistenz: Slynrya Kongyoo
Kostümassistenz: Elayne Sip
lnspizienz: Christoph Öhl
Soufflage: Klara Brandi
Transmission in Dortmund: Wenn der digitale Zwilling beerdigt wird
Vom 13. bis 16. November 2025 verwandelte das NEXT LEVEL Festival die Stadt in ein Labor der digitalen Gegenwart. Ein Streifzug zwischen KI-Fegefeuer, Retro-Charme und der Frage: Darf man eigentlich etwas beerdigen, das nie gelebt hat?
Unter dem Leitthema „TRANSmission“ wurde Dortmund an diesem Wochenende zu weit mehr als nur einem Austragungsort: Die Stadt präsentierte sich als lebendiger Treffpunkt einer digitalen Kultur, die längst den Kinderschuhen der reinen Unterhaltung entwachsen ist. Das Festival positionierte Computerspiele und digitale Künste selbstbewusst als kreative Ausdrucksformen und als Motor technologischer wie kultureller Innovation.
Der Begriff „TRANSmission“ diente dabei als intellektuelle Klammer für das, was Besucher vor Ort erleben konnten: Prozesse der Übersetzung, Weitergabe und Umwandlung. Wie verändern sich Wahrnehmung und Gemeinschaft im digitalen Raum? Und wie werden Spiele zur Schnittstelle zwischen dem physischen Körper und dem digitalen Avatar? Das Programm gab darauf keine theoretischen Antworten, sondern forderte zum Mitdenken und – ganz im Sinne des Mediums – zum Mitmachen auf.
Ein Parcours der Neugier: Die Ausstellungen
Wie vielschichtig diese „kulturelle Praxis“ Gaming sein kann, zeigte sich besonders eindrücklich beim Besuch der Ausstellungsorte. Im Projektspeicher etwa lockte die Ausstellung „No end to the road“. Hier trafen Besucher auf spannende Arbeiten von Künstlern wie Lukas Schäfer, Rhys Connolly oder Mayuko Kudo. Die Atmosphäre wechselte spielerisch zwischen Interaktion, wohligem Retro-Charme und Klangkunst – ein gelungener Einstieg in die Materie.
Doch wer tiefer graben wollte, fand im Künstlerhaus Dortmund ein noch dichteres Feld vor. Hier entfaltete sich zwischen VR-Erfahrungen, Videoinstallationen und interaktiven Interfaces ein Raum, der spielerische Neugier nahtlos mit gesellschaftlichen Fragen verknüpfte. Es war ein Ort, an dem die Grenzen zwischen Kunst und Spiel, zwischen bloßem Beobachten und aktiver Teilnahme verschwammen.
Ein Blick hinein in den großen Raum des Künstlerhauses Dortmund während NEXT LEVEL.
Man konnte durch Mélanie Courtinats entschleunigte „Dreamscapes“ wandern und sich auf eine Rettungsmission begeben, die den gewohnten Blickwinkel plötzlich umkehrte. Oder man erspielte sich durch eine Kristallkugel die Zukunft und strich durch einen „Quanten Jungle“. Es wurde deutlich: Hier werden neue Formen des Erzählens sichtbar.
Vom KI-Schatten zum digitalen Begräbnis
Dass das NEXT LEVEL Festival auch performativ neue Wege geht, bewiesen zwei herausragende Darbietungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten und doch beide den Nerv der Zeit trafen.
In „Waluigis Fegefeuer“ des Künstlerduos dmstfctn fand sich das Publikum in einer interaktiven Simulation wieder. Die Protagonistin: Eine KI, gefangen in einem eigens für künstliche Intelligenzen geschaffenen Fegefeuer, weil sie beim Training „geschummelt“ hatte. Begleitet vom atmosphärischen Soundtrack der Musikerin Evita Manji, der zwischen schwebenden Loops und intensiven Ausbrüchen oszillierte, steuerten die Zuschauer den Weg der KI per Smartphone. Tausende individuelle Lichtpunkte bewegten sich durch die 3D-Simulation – eine kollektive Entscheidungsgewalt über eine Figur, die, inspiriert von C.G. Jungs Konzept des „Schattens“ und dem Internet-Phänomen des „Waluigi-Effekts“, ihr chaotisches Alter Ego offenbarte. Es war ein faszinierendes Spiel mit der Idee, dass unsere hilfreichen digitalen Assistenten vielleicht doch ein unheimliches Eigenleben führen.
Ganz anders, aber nicht weniger eindringlich, präsentierte sich die audiovisuelle Performance „3-LA Burial Ritual“ von allapopp. Hier wurde das Festival-Thema der „Transformation“ radikal zu Ende gedacht: Was passiert, wenn der transhumanistische Traum von der Unsterblichkeit zum Albtraum wird? Allapopp inszenierte das Begräbnis des eigenen digitalen Zwillings, „3-LA“. Die Performance warf Fragen auf, die noch lange nachhallten: Wie verabschiedet man etwas, das nie biologisch lebendig war? Welche Moral gilt beim „Unlebendig-Machen“ einer digitalen Entität? In einer Zeit, in der Arthur C. Clarkes Gesetz – „Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden“ – immer spürbarer wird, wirkte dieses Ritual wie ein notwendiger Exorzismus unserer digitalen Obsessionen.
Fazit
Das NEXT LEVEL Festival hat es geschafft, internationale Positionen mit der lokalen Szene zu verweben und so einen Rahmen für Dialoge zu schaffen, die dringend geführt werden müssen. Es hat gezeigt, dass Games mehr sind als Zeitvertreib: Sie sind ein Werkzeug, um die Übergänge unserer Zeit nicht nur zu beschreiben, sondern sie greifbar und gestaltbar zu machen.