Melancholische Puppen

„Leonce und Lena“ als kommentiertes Kammerspiel am Schauspiel Dortmund

Für die Inszenierung klassischer Dramen braucht es oft eine besondere Idee. um dem Zuschauer eine neue Sichtweise auf den Text zu erschließen. „Leonce und Lena“, Georg Büchners einziges Lustspiel ist seit seiner späten Uraufführung 1895 viele Male aufgeführt und neu interpretiert worden. Jana Vetten sucht in ihrer ambitionierten Inszenierung auch nach dem Besonderen und erfindet eine Person hinzu, die als Alter Ego des Autors, als Moderator das Geschehen auf der Bühne musikalisch begleitet, verbal kommentiert, eine Art Narr, der den Zuschauern erklären soll, was der Dichter meint. Die Idee scheint verführerisch, geht aber nicht unbedingt auf. So entfaltet sich ein zweistündiger Abend, der trotz schöner Bilder und spielfreudiger Akteure bisweilen dem Zuschauer einen langen Atem abverlangt.

Büchner, blutjunge 22 Jahre alt, ein frühreifer, genialer Heißsporn, sozial und politisch engagiert, schrieb 1836 eine Komödie. Er wollte sich am Wettbewerb des Cotta-Verlags beteiligen, versäumte aber den Einsendeschluss. Die Komödie schrieb er trotzdem. Widersprüchlich erscheint es auf den ersten Blick, dass der sozialrevolutionäre Dichter von „Dantons Tod“, dem „Hessischen Landboten“ und des „Woyzeck“, plötzlich Lust bekam auf ein seichtes Lachstück, eine romantisierende Verwechslungskomödie in den Kreisen des schmarotzenden Hochadels. Tatsächlich hat die Geschichte etwas von einer modernen Seifenoper.

Fabienne-Deniz Hammer, Viet Anh Alexander TranFoto © Birgit Hupfeld
Fabienne-Deniz Hammer (Lena), Viet Anh Alexander Tran (Leonce)
Foto © Birgit Hupfeld

König Peter, ein regierungsmüder Monarch, arrangiert eine Ehe zwischen seinem Sohn Prinz Leonce und Prinzessin Lena. Die zwei vom Leben desillusionierten jungen Leute kennen sich gar nicht, wollen auch nicht heiraten und suchen – unabhängig voneinander – ihr Heil in der Flucht. Begleitet von einer gestressten Gouvernante (Beatrice Masala) und dem lässigen Valerio (Stefan Hartmann) begegnen sich die beiden zufällig im Wald und verlieben sich blitzartig – in Unkenntnis ihrer wahren Identitäten. So kommt es zufällig doch noch zu einem Happy-End.

Auf den zweiten, genaueren Blick ist „Leonce und Lena“ eine bissige Satire auf den dekadenten, schmarotzenden Adel. Im „Hessischen Landboten“ findet Büchner wuchtige Worte für seinen Hass: „Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag. Sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter. Das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker.“ Zwei Jahre später war sein politischer Ehrgeiz abgekühlt. Enttäuscht stellte er fest: „Das ganze Leben besteht nur aus Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben.“

Diese Langeweile und das bisweilen suizidale Verzweifeln an der Welt ist durchaus auch ein aktuelles Thema. Jana Vetten greift es in ihrer durchaus ideenfreudigen Inszenierung auf. Dabei wertet sie – eine gute, zeitgemäße Entscheidung – die Rolle der forschen Lena (Fabienne Deniz Hammer) auf, indem sie ihr Texte von Leonce (Viet Anh Alexander Tran) in den Mund legt. So entsteht ein differenzierter Dialog auf Augenhöhe.

Der Bühnenraum (Lan Anh Pham) passt sich wunderbar an das Stück an. Der Bau auf der Drehbühne erinnert weniger an ein Schloss, mehr an ein Treppenhaus, eng wie in einem Käfig und ist Symbol für eine Welt, die sich vorwiegend um sich selbst dreht. Im ersten, etwas zähen Teil werden die Szenen in geometrischen Rahmen als Tableaus inszeniert, Schnappschüsse von außen in ein Puppenhaus. Eine bedrückende Welt, die sich erst öffnet, als die beiden Königskinder aus ihr fliehen. Draußen wird auch das Spiel lebendiger. Die Liebesszene zwischen Leonce und Lena, ein Tanz in Ketten, ein Liebeskampf eher, ist toll und intensiv gespielt. Ebenso wie das Ritual, das König Peter (Ekkehard Freye) mit seinem blechblasenden Hofstaat inszeniert, der als witziger Bewegungschor aus sechs Dortmunder Jugendlichen immer wieder eifrig mitmischt.

Kalle Kummer komponierte die stimmige Musik und Sounds, spielt live am Flügel den kommentierenden Narren Schorsch Typhus, wie er in Anlehnung an Büchners tödliche Krankheit genannt wird. Er empfängt das Publikum schon beim Hereinkommen mit melancholischen Klängen, hat Schmerzen, leidet, das sieht man ihm an. Am Ende liegt er am Boden, desillusioniert im Scherbenhaufen seiner revolutionären Träume. Dazwischen füllt er alles mit Büchnerschem Sarkasmus und Anekdoten, versucht auch die Geschichte zu ändern, wenn er Valerio immer wieder auffordert, den Prinzen umzubringen, um so die Französische Revolution doch noch nach Deutschland zu tragen. An all dem verzweifelt er und ändert doch nichts am Zustand der Welt, am „gräßlichen Fatalismus der Geschichte“, wie es bei Büchner heißt. Nachhilfe in Sachen Büchnerverständnis nimmt viel Raum ein an diesem Abend. Das ist gut gemeint, wirkt aber eher bemüht schulmeisterlich als spielfreudig, überfrachtet den Abend, hemmt den Spielfluss und ist zudem nicht witzig genug, um neben der Inszenierung der eigentlichen Komödie zu bestehen. Zweite Vorstellung, verhaltener Applaus.




„Die Sonne tönt“ – Goethe ganz persönlich. Andreas Weißert im Studio des Schauspielhauses

„Die Sonne tönt“. Ob das die beiden Sonnenblumen, die von Scheinwerfern hervorgehoben die Bühne flankieren, auch wissen? Der Saal ist jedenfalls erfüllt von erwartungsvoller Stille, in die die Stimme des Schauspielers und ehemaligen Dortmunder Theaterdirektors Andreas Weißert tönt.

Goethes Werke erklingen, Lyrik, Prosa, Drama. Eingebettet in Informationen zu Goethes Werdegang und Bezügen zum Leben des Vortragenden. Wir erfahren, dass zu allen Geburtstagen in der Familie Weißert schon vor achtzig Jahren Gedichte und Lieder dazugehörten. Und bei der entsprechend großen Familie gab es im Jahreslauf viel zu feiern, zu rezitieren und zu singen. So entstand beim Vortragenden schon früh eine besondere Beziehung zu Goethes Werken, die bis heute hält.

Und anstatt eines „Dinners for One“ kann sich der Schauspieler an diesem Abend mit einer „Lesung für Hundert“ selbst beschenken. Ein Geschenk, das sich wunderbar teilen lässt. Und so kann das Publikum im ausverkauften Studio des Schauspielhauses dem Sphärenklang des Universums lauschen, den Goethe bei Pythagoras entlehnte, über das Jenseits nachdenken – und wem man dort nicht begegnen möchte, denn der „Langeweile würde kein Ende nehmen“.

Wir erfahren, dass man als Regisseur vor Proben viel beten muss. Und das hat sich in den Jahrhunderten auch nicht geändert. Doch ängstliches Klagen wendet kein Elend. Amüsiert erfahren wir von einem Theaterdirektor, der zu gern selbst einsprang, um die Aufführung zu „retten“, falls jemand erkrankte, aber auch einfach jede Gelegenheit nutzte, wieder auf die Bretter, die die Welt bedeuten, zu kommen.

Und da tobt Andreas Weißert sich an diesem Abend weiter aus. Zwar sind auf der Bühne nur ein Tisch und ein Stuhl vorgesehen, dekoriert mit den beiden weit entfernten Sonnenblumen, doch bei verschiedenen Rezitationen hält es den Schauspieler nicht auf dem Stuhl. Er dirigiert ein Gedicht mit Taktstock, nutzt eine Ukulele als Requisit und springt beinahe auch auf den Stuhl. Ein riskantes Unterfangen, aber wie viel riskanter ist es, wenn der Zauberlehrling die Gewalten entfesselt, die er nicht mehr im Zaum halten kann?

Andreas Weißert  - Geburtstag mit Goethe. (Foto: Martina Bracke)
Andreas Weißert – Geburtstag mit Goethe. (Foto: Martina Bracke)

„Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, wird‘ ich nun nicht los.“

Auf der Bühne geht es glimpflich aus, der Meister kommt und der Flut wird Einhalt geboten. Im wirklichen Leben ist es nicht immer so einfach. Weißert empfindet, dass der Zauberlehrling zum Normalfall geworden sei. Die Frage bleibt offen, wer denn dann die Welt rettet.

Aber an diesem Abend erfreuen wir uns weiterhin an den meisterlich vorgetragenen Werken Goethes, an Sequenzen aus dem Werther, der Harzreise im Winter und aus der Urfassung zum Wilhelm Meister, bevor der Schauspieler auch zu dramatischen Partien aus dem Egmont und der Iphigenie übergeht.

Goethe wird gefeiert von Andreas Weißert an diesem Abend, ebenso wie Andreas Weißert von seinem Publikum gefeiert wird. Darüber hinaus lässt es sich die aktuelle Schauspieldirektorin am Theater Dortmund, Julia Wissert, nicht nehmen, höchstselbst den Jubilar hochleben zu lassen und einen dicken Blumenstrauß mit Dank zu überreichen.

Eine Zugabe rundet den Abend ab. Der Goethe-Abend ist zu Ende, die Geburtstagsfeier auch, die Sonne muss in den Herzen weitertönen. Doch halt, vielleicht nur bis Silvester. Denn dann kommt Andreas Weißert wieder auf die Bühne, lässt seine Stimme zu einem bunten Strauß aus Werken der Literatur er- und das Jahr ausklingen, auf dass die Sonne auch in das kommende Jahr hineintönt. Bis jetzt ist der Silvesterabend noch nicht im Vorverkauf, deshalb muss man die Augen offenhalten, die Karten werden schnell vergeben sein.

 

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