Viele Möglichkeiten und Potenziale durch Vernichtung genommen

Der 8. Mai 2025 ist ein denkwürdiges Datum: Zum 80. Mal jährt sich an diesem Tag das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft mit ihrer grausamen Vernichtungsmaschinerie – gegen jüdische Mitmenschen ebenso wie gegen all jene, die als Gegner*innen oder „lebensunwert“ galten.

Anlässlich dieses historischen Tages feierte das Stück Ohne Titel (194418) (ab 16 Jahren) von den israelischen Autorinnen Elinor Milchan und Sharon Burstein Bichachi seine Uraufführung im Kinder- und Jugendtheater Dortmund (KJT). Regie führte KJT-Intendant Andreas Gruhn. Das Stück zeigt eindrücklich, wie durch die Ermordung von Millionen jüdischer Künstlerinnen – ebenso wie von Intellektuellen und Wissenschaftlerinnen – nicht nur individuelle Lebensentwürfe ausgelöscht, sondern auch menschliche Potenziale unwiederbringlich vernichtet wurden.

Erinnerung in eindrucksvollen Bildern

Die Bühne war mit bronzefarbenen, stelenartigen Konstruktionen gestaltet, in deren Mitte ein flacher Sockel platziert war – eine Anspielung auf das Holocaust-Mahnmal. Die rückseitige Wand, mit fensterrahmenähnlichen Elementen versehen, diente als Projektionsfläche für jeweils passende Hintergrundbilder, die Szenen visuell einbetteten.

Beatrice Sclicon, Annika Hauffe, Jan Westphal
(c) Birgit Hupfeld

Im Zentrum des Geschehens steht die junge Künstlerin Nelly – beeindruckend dargestellt von Annika Hauffe. Als 18-jährige Jüdin wird sie 1944 im Ghetto Theresienstadt festgehalten. In episodenhaften Zeitsprüngen über mehrere Jahrzehnte entfaltet sich eine Geschichte, die nur fiktiv sein kann – denn das tatsächliche Leben wurde Nelly verwehrt. Menschen, Erinnerungen, Geräusche – all das webt sich in die Erzählung ein. Über der Projektionsfläche werden jeweils Jahreszahlen und Orte eingeblendet. Doch immer wieder bricht die Realität, der Nelly zu entfliehen versucht, gewaltsam über sie herein. Eine zentrale Rolle übernimmt das „Mädchen“ – ihr stummes Alter Ego, eindrucksvoll verkörpert von Paula Wegener.

Zu Beginn betritt Annika Hauffe als über 90-jährige Nelly die Bühne, um den Preis für ihr Lebenswerk entgegenzunehmen – ein berührender Einstieg. Auch das übrige Ensemble (Jan Westphal, Rainer Kleinespel, Thomas Ehrlichmann und Sar Adina Scheer) überzeugte durch starke schauspielerische Präsenz und große Wandlungsfähigkeit in den verschiedenen Rollen.

Musik und Sounddesign von Manuel Loos unterstreichen atmosphärisch die dramatischen Szenen, ohne sie zu überfrachten – ein fein abgestimmter akustischer Rahmen.

Kunst als Widerstand – und als Erinnerung

Nelly steht stellvertretend für viele jüdische Künstler*innen, die selbst in der Gefangenschaft weiter schöpferisch tätig waren – oft im Verborgenen, als mutiger Akt des Widerstands. Ob sie überlebten oder nicht, bleibt in vielen Fällen offen. Das Stück verneigt sich vor diesen Menschen und ihrem unbeugsamen Geist.

Trotz der ernsten Thematik verliert die Inszenierung nicht den Blick für Menschlichkeit und Überlebenswillen – gelegentlich blitzen sogar humorvoll-ironische Momente auf.

Für Schulklassen und interessierte Besucher*innen gibt es weitere Vorstellungen. Informationen zu den Terminen sind wie immer unter www.theaterdo.de oder telefonisch unter 0231 / 50 27 222 erhältlich.




Kunst, Kulinarik und Medienforschung im Dortmunder U

Im Museum Ostwall im Dortmunder U eröffnen gleich zwei neue Projekte spannende Perspektiven auf Kunst und Gesellschaft: Die Sonderausstellung „Am Tisch“ widmet sich dem Thema Essen und Trinken in der zeitgenössischen Kunst.Parallel dazu erlaubt das Forschungsprojekt „Wohin gehen all diese Leute?“ seltene Einblicke in die Restaurierung digitaler Medienkunst.

In „Am Tisch“ stehen gemeinschaftliche Mahlzeiten als kulturelle Praxis im Zentrum. Die Werke zeigen, wie Essen Identität, Erinnerung und soziale Begegnung formt.

Schon der Eingangsbereich ist faszinierend. Die Künstlerin Narges Mohammadi hat gemeinsam mit Dortmunder*innen 700 Kilo Halva hergestellt und daraus einen goldglänzenden, sinnlich erfahrbaren Raum geschaffen. Das ist nicht nur gestalterisch aufregend, sondern auch riechbar. Das Künstlerduo Alina und Jeff Bliumis tauschte Kunstwerke gegen Einladungen zum Abendessen und dokumentierte so persönliche Begegnungen mit Dortmunder Haushalten.

Auch weitere Arbeiten zeigen, wie Essen gesellschaftliche Fragen reflektiert: Eine riesige Küchenreibe von Mona Hatoum verweist auf unsichtbare Sorgearbeit vor allem von Frauen hin, während die ukrainische Künstlerin Zhanna Kadyrovas in ihren steinernen Broten politische Botschaften in Kriegszeiten transportiert. Die Ausstellung lädt auch zum Mitmachen ein: In der KunstKüche können Besucher*innen Fotos machen, mit KI ihren „kulinarischen Typ“ erkunden oder selbst mit Esspapier kreativ werden.

Keyvisual „Am Tisch“ / Design: Studio Fitz
Keyvisual „Am Tisch“ / Design: Studio Fitz

Während die japanische Teezeremonie einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hat, ist die koreanische Teezeremonie weitgehend unbekannt. In ihrer Arbeit „Until our tea strainer gets dry“ widmet sie sich den Lebensgeschichten von Gastarbeiter*innen aus Südkorea und Vietnam.

Der schönste Platz ist immer noch an der Theke? Na ja, das galt früher, denn das Kneipensterben hat auch im Ruhrgebiet massiv Einzug gehalten. Marie Donike und Johannes Specks werden ihre Tresenskulptur unter dem Titel „Kulisse“ an drei Terminen zum Leben erwecken. Passend, denn das Dortmunder U war früher ein Kühlturm der Dortmunder Union-Brauerei.

Gleichzeitig zeigt das Museum im benachbarten Galeriebereich das Forschungsprojekt „Wohin gehen all diese Leute?“. Es untersucht die 2000 entstandene Installation „Dove va tutta ’sta gente?“ der Künstlergruppe Studio Azzurro – ein interaktives Kunstwerk, das auf Besucher*innen reagiert. Die Restaurierung stellt das Museum vor besondere Herausforderungen, da veraltete Technik, sich wandelnde Sehgewohnheiten und komplexe Programmierungen berücksichtigt werden müssen. Im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts wird das Werk probeweise aufgebaut und öffentlich zugänglich gemacht.

Beide Projekte zeigen exemplarisch, wie das Museum Ostwall künstlerische Ausdrucksformen sammelt, erforscht und vermittelt. Die Ausstellung „Am Tisch“ ist bis zum 20. Juli zu sehen, der Eintritt beträgt 5 Euro, ermäßigt 3 Euro. Der Zugang zum Forschungsraum ist kostenlos.

Weitere Informationen zu Sonderveranstaltungen unter: www.dortmunder-u.de




Ein Konzertabend für Entdeckerinnen und Liebhaber seltener Klangwelten

Mit Bartóks experimenteller Klangarchitektur und Bruckners kraftvoller Sechster präsentierte das 9. Philharmonische Konzert im Dortmunder Konzerthaus zwei Meisterwerke, die abseits des üblichen Repertoires liegen – und genau darin ihre besondere Faszination entfalten.

Das 9. Philharmonische Konzert lockte das Dortmunder Publikum und zahlreiche Musikinteressierte am 6. und 7. Mai 2025 unter dem Titel „Geheimtipp“ ins hiesige Konzerthaus. Da Generalmusikdirektor Gabriel Feltz aus gesundheitlichen Gründen nicht dirigieren konnte, gelang es glücklicherweise, kurzfristig Mateusz Moleda als temperamentvoll-engagierten Ersatz für die beiden Abende zu gewinnen.

Auf dem Programm standen zwei Werke, die in unserer Region eher selten zu hören sind: Béla Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta (1936) sowie Anton Bruckners Sinfonie Nr. 6 A-Dur, ein Werk, das etwas im Schatten seiner populären Siebten steht, die Bruckner unmittelbar danach komponierte.

Zwischen Architektur und Expressivität: Bartók und Bruckner

Bartóks Komposition entstand in der düsteren Zeit des aufkommenden Faschismus in Mitteleuropa und zeichnet sich durch eine damals völlig neuartige Instrumentierung aus: Zwei gleichwertige Streichergruppen, links und rechts auf dem Podium positioniert, werden durch ein zentrales Ensemble aus reichhaltigem Schlagwerk, Harfe (links), Klavier und Celesta ergänzt. Ein derartiges Klangbild war in der Musikgeschichte bis dahin ohne Vorbild.

Musikalisch changiert das Werk zwischen präziser Struktur und expressiver Emotionalität, zwischen Tradition und Avantgarde. Die Schlaginstrumente prägen den rhythmisch-perkussiven Charakter des Stücks entscheidend. Das Fugenthema des Kopfsatzes beginnt in mittlerer Tonlage; die weiteren Einsätze steigen und fallen fächerartig jeweils um eine Quinte – ein Prozess, der den gesamten Tonraum öffnet, bis sich im Höhepunkt der Klang bündelt und anschließend zurückentwickelt. Es entfaltet sich ein Wechselspiel aus instrumentalen Dialogen, verschachtelten Strukturen und einem machtvollen Gesamtklang.

Im "richtigen Leben" sind sich Bruckner und Bartok mit größter Wahrscheinlichkeit nicht begegnet. Aber beim Konzertabend mit den Dortmunder Philharmoniker schon.
Im „richtigen Leben“ sind sich Bruckner und Bartok mit größter Wahrscheinlichkeit nicht begegnet. Aber beim Konzertabend mit den Dortmunder Philharmoniker schon. (Foto: kreiert von ChatGPT)

Der dritte Satz wirkt geheimnisvoll, fast sphärisch. Im vierten Satz schließlich wird Bartóks Liebe zur ungarischen Volks- und Bauernmusik besonders deutlich – das Werk strebt in einem raschen, energiegeladenen Finale seinem Abschluss entgegen.

Wie Bartók ist auch Bruckner ein Meister musikalischer Architektur und des Kontrapunkts. Seine 6. Sinfonie besticht nicht nur durch die ungewöhnliche Tonart A-Dur, sondern auch durch ihre eigenwillige Form. Choralartige Passagen, sonst typisch für Bruckner, fehlen hier weitgehend. Stattdessen beginnt das Werk mit einem markanten, klopfenden Rhythmus, der sofort Aufmerksamkeit erzeugt.

Der zweite Satz – ein melancholisch-feierliches Adagio – entfaltet sich langsam und würdevoll. In den folgenden Sätzen steigert sich das Werk sukzessive zu voller Klangpracht. Die Bläser übernehmen eine zentrale Rolle und verleihen der Musik stellenweise einen bedrohlich-militärischen, fast bombastischen Charakter – ein dramatischer Höhepunkt eines in jeder Hinsicht besonderen Konzertabends.