Vatermal – Eine türkische Migrationsgeschichte

Im Schauspiel Dortmund hatte am 22.03.2025 die Familiengeschichte VATERMAL nach dem Roman von Necati Öziri ihre Premiere. Unter der Regie und in der Bühnenfassung von Intendantin Julia Wissert wurde die Geschichte des in Deutschland geborenen Arda (Mouataz Alshaltouh) mit türkischem Migrationshintergrund theatral eindringlich inszeniert.

Der Literatur liebende Arda liegt mit einer lebensbedrohlichen Autoimmunkrankheit, die seine Leber angreift, im Krankenhaus. Genau wie sein Körper die Leber als „fremd“ attackiert, empfindet er seine gesellschaftliche Stellung als widersprüchlich: In Deutschland geboren, aber oft nicht als gleichwertiger Bürger akzeptiert, leidet er unter Diskriminierung, behördlicher Bürokratie und institutionellen Vorurteilen. Auf der Suche nach seiner Identität und ringend mit seiner Herkunft schreibt er einen Brief an seinen verschwundenen Vater Metin (Alexander Darkow, der für den erkrankten Ekkehard Freye einsprang). Arda hatte seinen Vater nie kennenlernen dürfen. Da gibt es viele Fragen und Leerstellen.

Familiäre Konflikte und weibliche Prägungen

Vom türkischen Militär verfolgt, floh der Vater einst nach Deutschland und beantragte Asyl, wurde jedoch nie heimisch und verschwand spurlos in Richtung Türkei. Eine bedeutende Rolle in Ardas Leben spielen seine selbstbewusste Schwester Aylin (Fabienne-Deniz Hammer) und seine traumatisierte, alkoholkranke Mutter Ümran (Lucia Peraza Rios). Seit zehn Jahren haben Mutter und Tochter kein Wort mehr miteinander gewechselt, nachdem Aylin die schwierige familiäre Situation hinter sich ließ und sich ein eigenes Leben in Deutschland aufbaute. Arda, zwischen den beiden Frauen stehend, versucht im Krankenhaus eine vorsichtige Annäherung zwischen Mutter und Tochter zu bewirken.

Lucia Peraza Rios, Chor des Migrantinnenvereins Dortmund e.V., Melek ErenayFoto: (c) Birgit Hupfeld
Lucia Peraza Rios, Chor des Migrantinnenvereins Dortmund e.V., Melek Erenay
Foto: (c) Birgit Hupfeld

Weitere prägende Frauenfiguren sind seine Großmutter und die Teyzeler (Tanten), insbesondere Merve Teyze (Melek Erenay). Ihr Einfluss formte Ardas Frauenbild, das sich deutlich von dem seines „Onkels“ Serkan, eines patriarchalisch geprägten Grillbesitzers, unterscheidet.

Die Bühneninszenierung nutzte eine Wand mit Holzfliesenstruktur, die sich bei Bedarf aufschieben ließ und wie ein „Guckloch“ zu den „echten“ und „inszenierten“ Erinnerungsszenen fungierte. Ob Erdbeben, Bürokratie, Vorurteile, Gewalterfahrungen oder Verlust – alles wurde eindrucksvoll fühl- und erlebbar für das Publikum durch das Ensemble vermittelt. Die Inszenierung zeichnete ein vielstimmiges, berührendes und intensives Echo aus Sehnsucht, Armut und Patriarchat in einer Gesellschaft mit wenig Raum für Empathie.

Vielfältige Musik und Tanzeinlagen lockerten das Geschehe n auf.

Eine starke Stimme verlieh den Frauen dieser Inszenierung der Chor der Migrantinnen e.V. und der Chor der Teyzes. Für eine Portion ironischen Humors sorgte der „Chor der Deutschen“ mit Lukas Beeler, Alexander Darkow und Sarah Quarshie in verschiedenen Rollen.

Weitere Informationen zu den Aufführungsterminen finden Sie unter www.theaterdo.de oder telefonisch unter 0231/50 27 222.

 




Alle spielen – aber wer bestimmt die Regeln?

Ein ungewöhnlicher Theaterabend feierte am 21. April 2025 im Studio des Schauspielhauses Dortmund Premiere. Die Choreografin und Regisseurin Magda Korsinsky inszenierte gemeinsam mit Viet Ahn Alexander Tran, Akasha Daley und Nika Mišković ein Stück, das stärker an Tanztheater als an klassisches Sprechtheater erinnerte.

Im Mittelpunkt stand das Thema „Spielen“. Bereits der Kulturhistoriker Johan Huizinga prägte den Begriff Homo ludens – der spielende Mensch. Für Huizinga bildet das Spiel eine grundlegende Struktur der Gesellschaft, da es Regeln etabliert, Gemeinschaften schafft und Machtverhältnisse abbildet.

Doch wer ein Spiel nicht kennt oder dessen Regeln nicht versteht, fühlt sich schnell orientierungslos und ausgeschlossen. In der Gesellschaft betrifft dies oft Migrant:innen, Minderheiten oder sozial benachteiligte Gruppen, die sich in einem Regelwerk zurechtfinden müssen, das nicht für sie gemacht wurde. Der Soziologe Pierre Bourdieu beschreibt dieses Phänomen als „symbolische Gewalt“ – das Gefühl der Unterlegenheit gegenüber einer Ordnung, die scheinbar nicht hinterfragt werden darf.

Viet Anh Alexander Tran, Nika Mišković, Akasha DaleyFoto: (c) Birgit Hupfeld
Viet Anh Alexander Tran, Nika Mišković, Akasha Daley
Foto: (c) Birgit Hupfeld

Der Umgang mit Spielregeln ist daher ein zentraler Aspekt von Macht, Gerechtigkeit und Teilhabe. Ein kritisches Hinterfragen dieser Regeln ist notwendig, um ein faires Miteinander zu ermöglichen.

Die Bühne als Spielfeld der Gesellschaft

In Alle Spielen reisen die drei Darsteller:innen aus der Zukunft ins Jahr 2025 zurück und betrachten das „Spielbrett der Gesellschaft“ mit fremdem Blick – wie Neuankömmlinge. Wie lernt man die Regeln? Wie findet man sich zurecht? „Integrier dich. Pass dich an“, wird ihnen gesagt. Wer jedoch versucht, einen eigenen Weg zu gehen, stößt auf Einsamkeit – oder wird in Schubladen gesteckt. Die Regeln bleiben unklar, das Spielfeld erscheint starr. Wie lässt sich damit leben?

Alle Spielen ist eine Mischung aus Sprech- und Tanztheater. Jede der drei Performer:innen sang zudem jeweils einen Song von der Musikerin Ann Weller (Cheap Wedding), sodass Musik und Rhythmus das Stück wesentlich prägten. Viet Ahn Alexander Tran, Akasha Daley und Nika Mišković überzeugten mit großer körperlicher Ausdruckskraft und Ausdauer.

Für Besucher:innen, die Freude an Tanztheater und musikalischen Elementen haben, war der Abend sicherlich eine bereichernde Erfahrung. Der begeisterte Schlussapplaus zeigte jedenfalls: Der überwiegende Teil des Premierenpublikums hatte sichtlich Spaß.