Am Abgrund des Kapitalismus

Aus Kapitalismus und Rassismus machte Johannes Naber 2014 den bitterbösen Film „Zeit der Kannibalen“. Das Kammerspiel war wie geschaffen für ein Theaterstück und so schrieb Naber selbst das Drehbuch um. Die freie Theatergruppe „glassbooth“, bekannt durch ihre schwarzhumorigen Produktionen, setzt dieses Stück nun am 07. und 08. Mai im Theater im Depot in Szene.

Die Handlung: Die beiden Unternehmensberater Öllers und Niederländer reisen im Auftrag der „Company“ in Schwellenländer, um dort Firmen abzuwickeln oder Millionen zu investieren. Die einheimischen Geschäftspartner und die Hotelangestellten werden von oben herab behandelt. Als plötzlich eine neue Kollegin ins Spiel kommt, kommt Misstrauen auf. Wer spioniert hinter wem? Wem kann man trauen? Und plötzlich fallen Schüsse…

Das Stück ist ideal für ein Theater, weil es eigentlich nur in Hotelzimmern oder Konferenzräumen spielt und die sehen in internationalen Hotelketten nahezu gleich aus. Dass die Hauptfiguren ihr Hotelzimmer kaum verlassen, ist ein Symbol. „Sie haben Angst vor dem Andersartigen“, erklärt Sternes. So kann die amerikanische Regisseurin Julie Sternes langsam das Damoklesschwert über die drei Hauptakteure baumeln lassen. Denn durch ihr arrogantes Verhalten „erschaffen sie eine Zeitbombe“, so Sternes. „Das Stück ist Kritik am Kapitalismus, darüber, was wirklich bei der Globalisierung passiert“.

Die drei Hauptrollen spielen Jens Dornheim, Dietmar Meinel und Alexandra Schlösser, doch die Nebenfiguren sind sehr international und stammen aus dem Iran und Togo. Hinzu kommt die Regisseurin Julie Stearns (USA). Daneben gibt es Livemusik, die mit fremdartigen Tönen das Spiel unterstützt.

Für Jens Dornheim, der eigentlich seit 2013 nur noch Regie geführt hat, ist es eine kleine Umstellung, wieder auf der Bühne zu stehen: „Es ist ungewohnt, wieder mehr Text zu lernen“. Die Schauspieler stammen nicht nur von glassbooth, sondern auch von „Only connect!“, der Gruppe von Regisseurin Stearns.

Nach den beiden Dortmunder Auftritten wird die neue Produktion „Zeit der Kannibalen“ auch in anderen Städte wie Bochum oder Düsseldorf aufgeführt werden.

Ein Wochenende in Bildern

Wie kommt eigentlich ein abstraktes Bild zustande? Welche Ideen hat der Maler oder die Malerin bei der Entstehung eines Bildes gehabt? Wenn man Glück hat und der Künstler ist anwesend, kann man interessiert nachfragen. Aber sonst? Muss man auf schlaue Expertisen von Kritikern oder Kunsthistorikern warten. Die Ausstellung „Friday on my mind“ gibt Hilfen. Künstler und Galeriekurator Hartmut F.K. Gloger stellt nicht nur 15 Bilder aus, sondern er zeigt durch Skizzen und Texte, was ihn zu den Werken inspiriert hat. Zu sehen ist die Ausstellung in der Galerie Dieter Fischer im Depot noch bis zum 01. Mai 2015.

Wie fasst ein Künstler die Eindrücke eines bestimmten Wochenendes zusammen? Gloger machte zunächst Skizzen, danach schrieb er ein paar Zeilen und fing dann erst an zu malen. Seine Bilder sind teilweise abstrakt, teilweise lassen sie noch etwas Figuratives erkennen wie beim Bild 2 „Honig“, manchmal sind die Motive auch deutlicher zu erkennen wie bei „Bilanz“, dem dritten Bild. Hier regieren Zahlen. Doch erst mit der Erklärung wird es deutlich, dass Gloger seine Mühen mit der Gewinn- und Verlustrechnung bildnerisch verewigt hat. Manches wie „Cloud Atlas“ wird nur jemand erkennen, der den gleichnamigen Film auch gesehen hat.

Würde man die Bilder aus dem Kontext reißen, das heißt ohne Texterklärung aufhängen, würde es sicherlich für den Betrachter schwieriger sein, die Zusammenhänge auf dem Bild zu erkennen. Ihm bliebe natürlich noch die ästhetische oder die Gefühlsebene.

Bestellt und nicht abgeholt

Das Ensemble von "Fertig.Los" bei der Probenarbeit. (Foto: © TheaterWerkstatt Westfalenkolleg)
Das Ensemble von „Fertig.Los“ bei der Probenarbeit. (Foto: © TheaterWerkstatt Westfalenkolleg)

Mit der Produktion „Fertig.Los“ präsentiert die Theaterwerkstatt Westfalenkolleg Dortmund ihre neue Produktion. Es geht in dem Stück um das Starten, das Anfangen. Doch natürlich spielt auch die Flüchtlingskrise eine Rolle. Ein Bericht von der zweiten Aufführung im Theater im Depot am 23.04.2016

 

Der Anfang erinnert ein wenig an Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Acht Menschen haben sich am verabredeten Ort getroffen. Doch sind sie sich da ganz sicher? Nun müssen sie warten wie bestellt, aber nicht abgeholt. Schon hier wird der Flüchtlingsbezug deutlich, denn auch Flüchtlinge werden von Ort zu Ort geschickt und müssen auf irgendetwas warten.

 

Diese Thematik taucht später nochmals auf, an einer Art Lagerfeuer, bei der das Feuer erloschen ist. Die zwei Spieler sind mittendrin zwischen Hoffnung und Verzweifeln. „Es sind ja nur vier Länder“, heißt es. Doch auch wenn man angekommen ist, scheint es nicht das Paradies zu sein. Der erzählte Alltag in einer Flüchtlingsunterkunft beschreibt ernüchternde Szenen.

 

Doch „Fertig.Los“ ist kein reines Flüchtlingsstück, auch wenn mit Suno Okoruwa und Sumit Sondhi zwei Menschen dabei sind, die sich in sogenannten Willkommensklassen befinden. Denn eigentlich geht es um das Anfangen, das Starten. Das gilt für einheimische Jugendliche ebenso wie für neu hinzugekommene. Hoffnungen und Ängste stehen im Mittelpunkt der tänzerischen Szenen, für die Choreografin Birgit Götz verantwortlich war. Bänder und Weinkisten bildeten die Requisiten für manche Tanzstücke. Um Versagens-Ängste ging es bei der längeren Textpassage aus dem Theaterstück „Wohnen. Unter Glas“ von Ewald Palmetshofer. Der Textausschnitt beschreibt die Ängste von Mitdreißigern, ob sie ihren Zenit bereits überschritten haben oder ob er unbemerkt an ihnen vorbeigerauscht ist.

 

Musik ergänzte das Stück. Meist mit Gitarrenbegleitung wurde unter anderem „Heute hier, morgen dort“ von Hannes Wader, „Hänschen klein“ oder „Kein schöner Land“ gesungen.

 

„Fertig.Los“ beschreibt auf anrührende, aber auch komische Art die Hoffnungen und Träume junger Menschen und integriert auf gelungene Weise die Lebensentwürfe von Menschen, die zwangsweise aus ihrer Heimat geflohen sind.

 

Mit dabei waren: Florian Barz, Sinan Burma, Katharina Eixler, Laura Gebauer, Kristin Langer, Mathis Pollmann, Suno Okuruwa und Sumit Sondhi. Regier führten Mechtild Janssen und Johannes Janßen.

Matrix ohne asiatische Kampfkunst

Nein, Martin Hohner ist als de Posa kein glatter Erlösertyp wie Keanu Reeves als Neo im Film „Matrix“. Doch gibt es bei der neuen Produktion von Sir Gabriel Dellmann „Poser (sic!) – gebt Gedankenfreiheit“ einige Parallelen. So taucht mit Matthias Hecht eine Art „Morpheus“ auf und es gibt eine Art Zwischenzone wie die Stadt „Zion“ im Film. Die Vorpremiere war am 16. April 2016 im Theater im Depot.

Wie reagiert der Mensch in Zeiten der totalen Überwachung? Wird er vorsichtiger? De Posa ist auf der Suche nach der Antwort, zunächst eher widerwillig, doch seine engagierte Freundin setzt ihn auf die Spur. Ähnlich wie bei „Matrix“ gelangt de Posa in eine Zwischenwelt, die ihn aber wegen des gezeigten Hedonismus nicht wirklich befriedigen kann.

Musik, Video, Animationen nehmen einen prominenten Platz in der Produktion ein, ebenso taucht das Stilmittel „Schauspieler sprechen im Pausenraum über das Stück und das Publikum sieht es auf der Leinwand“ auf, beinahe typisch für die Produktionen von Sir Gabriel Dellmann. Auch wenn mit Fiona Metscher, Aischa-Lina Löbbert und Matthias Hecht

drei weitere Akteure mit von der Partie sind, stellt das Stück die Hauptfigur de Posa in den Vordergrund. Hohner spielt den Anti-Helden de Posa mit großen Engagement.

Auch wenn das Thema „Überwachungsstaat“ ein Dauerthema ist, gelingt es Sir Gabriel Dellmann mit „Poser (sic!) – gebt Gedankenfreiheit“ mit leichten Anleihen an „Matrix“, die Zerrissenheit und Unsicherheit des Individuums in Zeiten der permanenten Kontrolle und Datensammelei eindringlich auf die Bühne zu bringen.

Das Stück wird seine eigentliche Premiere im Herbst auf dem Dortmunder Theaterfestival Favoriten 16 haben.

Komplexe Mischung aus darstellender und bildender Kunst

Die Lolitas stürmen die Wohnung. (Foto: © Maximilian Steffan)
Die Lolitas stürmen die Wohnung. (Foto: © Maximilian Steffan)

Nicht nur Not macht erfinderisch, sondern auch ungewöhnliche Örtlichkeiten. Hat das Team um Regisseur Kay Voges schon die kleinere der beiden Hallen mit ungewöhnlichen Stücken wie „Das schweigende Mädchen“ bespielt, wurde die große Halle jetzt im Breitwandformat quasi eingeweiht. Stilecht durch eine Prozession. Mit „Die Borderline Prozession“ schuf Voges eine Bilderflut, die den Megastore voll ausnutzt, denn das Stück wäre im Schauspielhaus so nicht zu realisieren gewesen. Wer sich aufmacht, um die dreistündige Prozession zu erleben, kann sich an Bildern sattsehen und an Musik satthören. Premierenbericht vom 15. April 2016.

 

Der Beginn ist beeindruckend: Angeführt von einem Kamerawagen marschieren die Schauspieler (fast das gesamte Ensemble plus Schauspielstudenten) in einer feierlichen Prozession um die eindrucksvoll gestaltete Spielfläche. Nach und nach verschwanden sie in die einzelnen Räume. „Die Borderline Prozession“ ist ein würdiger Nachfolger des Kultstückes „Das goldene Zeitalter“. Wie dort geht es um Loops, um wiederkehrende Szenen und Situationen, leicht variiert. Das Kommando gab wie beim „Zeitalter“ Voges live.

 

Ein wichtiges Element: Die Zuschauer konnten vorab wählen, ob sie auf die Südseite oder die Nordseite gehen wollten. Während den kurzen Pausen zwischen den insgesamt drei Teilen wurden die Besucher aufgefordert ihre Perspektive zu wechseln. Logischerweise konnte man nur eine Seite live erleben, während man von der anderen Seite per Videobild informiert wurde. Ein klein wenig kam man sich vor, als schaue man auf eine Sammlung von Bildern einer Überwachungskamera, die alle Räume überwachte.

 

Der erste Teil fing ruhig und gemächlich an. Die Nordseite zeigte das Innenleben einer gewöhnlichen Wohnung mit Küche, Schlafzimmer und Wohnzimmer, während die Südseite eine Bushaltestelle, einen Kiosk und einen Van zeigte. Die Außen- und Innenseite wurde durch einen Zaun getrennt. Im ersten Teil war er noch offen und zugänglich.

In den einzelnen Zimmern wurde die ganze Bandbreite des Lebens wie zum Beispiel Einsamkeit, Rituale der tägliche Schulgang des Kindes einer alleinstehenden Frau oder die Abendtoilette eines Paares u.s.w., auf der Südseite eher die dunkle Seite des Alltagslebens gezeigt.

Der zweite Teil war mit „Krise“ übertitelt und fühlte sich an wie ein 3:4 in der Nachspielzeit. Von überall strömten negative Emotionen: Gewalt, Soldaten, Vergewaltigungen. Die Grenze war geschlossen, zwei Soldaten ließen niemanden hinein.

Der dritte Teil, die Synthese war surrealistisch aufgebaut. Major Tom, eine kleine Reminiszenz an David Bowie, schwebte beinahe durch die Gänge, Napoleon las ein Gedicht von Jonathan Meese über das Lolitatum vor und wurde danach feierlich mit der Musik von Gustav Mahlers 2. Sinfonie („Auferstehungssinfonie“) zu Grabe, -pardon: zur Bushaltestelle getragen.

 

Das Lolitatum, spielte im Stück eine durchgehende Rolle. In den ersten beiden Teilen noch dezent, kam es im dritten Teil zu einer wahren Invasion. „The Walking Lolitas“ quasi. Dabei verwandelten sich die meisten der Schauspieler, ob Mann oder Frau, in gleich aussehende, beinahe schon zombiehafte Lolitas, die die Wohnung stürmten.

Neben den sehr ausdrucksstarken Bildern faszinierte die Musik. Ob Glass, Mahler, Bowie oder der „Prozessions-Song“ von Tommy Finke, man hätte auch einfach die drei Stunden nur der Musikspur lauschen können. Dann hätte man aber das optische Vergnügen nicht gehabt. Ein Dilemma!

In den einzelnen Räumen wurde nicht gesprochen. Die Texte wurden aus einem „Studierzimmer“ von den Spielern vorgelesen. Einige der Texte stammten aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts, andere von Größen wie Nietsche oder Brecht, aktuellere waren meist politischer Natur wie Ausschnitte aus der Rede von François Hollande oder Frauke Petry.

Eine durchgehende Handlung existiert bei der „Borderline Prozession“ nicht, es gibt nur Handlungsfetzen, Szenen, die auf Zuruf kreiert werden. Sämtliche Darsteller sind eher Teil eines Gemäldes oder eines Films, als dass sie einen Charakter darstellen. Dieses Stück sprengt die Grenzen zwischen darstellender und bildender Kunst. Das mag für den einen für Aha-Erlebnisse sorgen, wenn er Szenen aus Filmen oder Gemälden wiedererkennt, für den anderen bleibt das ästhetische Empfinden.

Ein großes Lob verdienten sich die Schauspieler. Denn die drei Stunden waren für alle Beteiligten ein Parforceritt, ohne die Möglichkeit, eine Figur schauspielerisch zu entwickeln. Exquisite Musik und ein wunderbares Bühnenbild rundeten das ungewöhnliche Spektakel ab.
Wer sich auf die „Borderline Prozession“ einlässt, sollte einen wachen und offenen Geist mitbringen. Es werden sicher nicht so viele Veränderungen möglich sein wie beim „Goldenen Zeitalter“, aber es lohnt sich sicher öfter hineinzugehen.

Nur ein kleiner Schnitt?

Noch herrscht ungetrübte Stimmung: Ibrahim (Murat Seven), Ismail (Nima Majedzadeh) und Judith (Jasmina Musić).
Noch herrscht ungetrübte Stimmung: Ibrahim (Murat Seven), Ismail (Nima Majedzadeh) und Judith (Jasmina Musić). Foto: © Edi Szekely).

Theatermacher und Mediziner Tuğsal Moğul rückt mit seinem Stück „Der goldene Schnitt“ ein brisantes Thema in den Blickpunkt in der Öffentlichkeit. Während die weibliche Genitalverstümmlung, besonders nach der Veröffentlichungen des autobiografischen Buches „Wüstenblume“ (Waris Dirie) und dessen Verfilmung wegen seiner offensichtliche schmerzhaften dauerhaften Folgen für die Betroffenen weltweit mehrheitlich geächtet ist, ercheint die Diskussion um die Beschneidung (Zirkumzision) von minderjährigen Säuglingen oder Jungen aus religiösen Gründen verhaltener.

Seit 2012 ein Gesetz verabschiedet wurde, dass eine „medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen“ als „grundsätzlich zulässig“, stehen sich zwei Lager unvereinbar gegenüber. Die Vertreter der jüdischen und muslimischen Gemeinden sowie die koptischen Christen fordern ihr Grundrecht auf Religionsfreiheit ein, auf der anderen Seite das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit steht. Eine wissenschaftlich fundierte Diskussion über das Thema mit allen beteiligten Gruppen im Interesse des Kindeswohls, wie in einer Petition vom Humanistischen Verband, Kinderschützern, Jugendhilfe, verschiedener Ärztegruppen und weiterer Experten vor der Gesetzesverabschiedung damals gefordert, konnte es nicht verhindern.

Mit der Premiere vom „Der goldene Schnitt“ am 16.04.2016 im Studio des Dortmunder Schauspiels wird das Publikum teil einer großen Feier zur Beschneidung von Ismail (Levin Can Engin), den zehnjährigen Sohn von Judith (Jasmina Musić) und Ibrahim (Murat Seven). Bevor die Zuschauer den festlich mit einer Ballon-Girlande geschmückten Raum eintreten, bekommen sie eine türkische Süßigkeit in die Hand gedrückt, die Sitze sind rund herum angeordnet.

Die Eltern, in betont freudig-aufgeregter Stimmung, begrüßen humorvoll ausgiebig ihre zahlreich aus dem In-und Ausland angereiste Verwandtschaft. Die Eltern, er mit türkisch-muslimischem Hintergrund, sie mit väterlicherseits jüdischen Wurzeln, sind beide Mediziner und haben alles aufs Beste vorbereitet. Alles , auch die notwendige Narkose für den Jungen.

Wie üblich, werden dem Kind vor der Beschneidung noch besondere Wünsche erfüllt, wie eine rasante Autofahrt mit dem Onkel zu interessanten Stätten wie etwa das Fußball-Museum erfüllt.

Während die Zeit bis zur Ankunft des Kindes schnell vergeht, schlägt die fröhliche Stimmung vor allem beim Vater um. Der Junge kommt wie ein kleiner Prinz mit weißem Anzug und Kopfbedeckung mit einem kleinen roten Flitzer in das Studio gefahren und wird reichlich beschenkt. Die Freude darüber ist ihm im Gesicht anzusehen. Wie bei einem Fest üblich, wird auch getanzt und – begleitet vom Kind mit der Gitarre – gesungen. Dennoch kommen seinem Vater immer mehr Zweifel, ob die Beschneidung des eigenen Sohnes die richtige Entscheidung ist. Das Publikum erfährt von traumatischen Erlebnissen Ibrahims. Die schief gegangenen Anästhesie bei einer Routine Operation vor drei Jahren und das Erlebnis seiner eigenen Beschneidung. Er bezeichnet sie als „symbolische Kastration“ und verweist auch auf die wirtschaftlichen Interessen hinter dem Spektakel.

Seine Frau vertritt vehement die Argumente der religiösen Gemeinschaft. Gerade in der aktuell islamkritischen Stimmungslage suche sie nach Heimat. Ihre besonderen Rituale sollen ihnen nicht auch noch genommen werden.

Das kleine rote Auto mit dem Namen des Jungen wird zu einem Operationstisch umfunktioniert, Ismail vorbereitet. Im Hintergrund läuft auf der Leinwand eine Filmszene über eine Beschneidung. Ob Ismail nun tatsächlich beschnitten wird, bleibt letztlich unklar, denn am Ende zerstört der Junge die Ballon-Girlande.

Die Inszenierung ist eine gute Grundlage für eine notwendige Auseinandersetzung mit dem Thema.

Denn abgesehen von dem gesundheitlichen, medizinischen Risiko des Eingriffes, hat die Vorhaut durchaus eine wichtige Funktion. So ist das innere Vorhautblatt mit 20.000 Nervenendungen und Tatkörperchen durchzogen, die für das sexuelle Empfinden von großer Bedeutung sind. Außerdem hat die die Vorhaut eine Rolle als Gleitlager und hält die Eichel feucht. Das innere Blatt enthält auch Drüsen, die mit verschiedenen Enzymen, unter anderem Lysozym eine antibakterielle Wirkung haben. Die psychischen Folgen einer Zirkumzision sind noch gar nicht vollständig untersucht.

Mehr und umfassendere Information bietet die Broschüre „Das große Zirkumpendium“vo MOGiS e.V. /Eine Stimme für Betroffene (sei 2009).

Weitere Vorstellungstermine und Information unter www.theaterdo.de

Freiheit im Netz?!

Plakat zu Poser(sic!) (Foto: © Sir Gabriel Dellmann)
Plakat zu Poser(sic!) (Foto: © Sir Gabriel Dellmann)

Wie gehen wir damit um, wenn wir überall im Netz unsere Spuren hinterlassen? Werden wir vorsichtiger? Haben wir bereits eine Schere im Netz? In der Vorpremiere von „Poser(sic!) – Gebt Gedankenfreiheit“, einer multimedialen Performance von Sir Gabriel Dellmann, stellt sich die Hauptfigur John le Posa genau diese Fragen. Die Vorpremiere findet statt am 16. April 2016 um 20 Uhr im Theater im Depot.

Das Stück handelt von John le Posa. Er ist ein Nachfahre des berühmten Marquis de Posa, der Figur aus „Don Carlos“ von Schiller. Im Gedenken an die ständige Überwachung des Netzes fragt sich de Posa wie sieht es aus mit der „Gedankenfreiheit“? Ändert man sein Konsumverhalten oder tut man das Gegenteil und gibt extra alles preis?

Vier Schauspieler (Martin Hohner, Fiona Metscher, Aischa-Lina Löbbert und Matthias Hecht) versuchen mit Mitteln der Popkultur und Video-Art diese Fragen zu beantworten und wie man es bei Sir Gabriel Dellmann gewohnt ist, mit Humor und ohne die moralische Keule herauszuholen.

Das Stück wurde geschrieben von Björn Gabriel, der auch Regie führt. Anna Marienfeld ist für die Produktionsleitung zuständig und Steffi Dellmann für die Ausstattung.

Die „echte“ Premiere findet im Rahmen des Festivals Favoriten16 am 28. und 29. September statt.

Der Kampf um die Vorhaut

Judith (Jasmina Musić) und Ibrahim (Murat Seven) diskutieren über die Beschneidung ihres Sohnes. (Foto:  © Edi Szekely)
Judith (Jasmina Musić) und Ibrahim (Murat Seven) diskutieren über die Beschneidung ihres Sohnes. (Foto: © Edi Szekely)

Ein kleines Stück Haut hat in den letzten Jahren die Gesellschaft in Aufruhr gebracht: Darf man einem Kind aus religiösen Gründen an seiner empfindlichsten Stelle etwas abschneiden? Die Beschneidung ist das Thema bei der Uraufführung von „Der Goldene Schnitt“ am 16. April 2016 um 20 Uhr im Studio des Schauspielhauses. Geschrieben hat das Stück der Regisseur Tuğsal Moğul, der mit dem Stück „Die deutsche Aische“ beim Theaterfestival 2014 in Dortmund für Furrore gesorgt hat,

Ibrahim und Judith bereiten die Feier zur Beschneidung ihres Sohnes vor. Verwandte ud Freunde werden eingeladen, alles ist grell und bunt, doch je näher der Tag rückt, desto stärker werden die Bedenken. Denn Ibrahim und Judith haben nicht nur muslimisch-jüdische Wurzeln, sondern sind auch Ärzte. So wird das Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet.

Was wiegt höher: das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit oder das Grundrecht auf Religionsfreiheit? Während die Beschneidung bei Mädchen meistens geächtet wird, hat die Bundesregierung im Schnellverfahren ein Gesetz von 2012 die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen durch den Bundestag gebracht. Damit ist die Diskussion aber nicht beendet. Wie geht eine Gesellschaft mit diesem Thema um, wie wirkt sich der Zuzug von überwiegend muslimischen Flüchtlingen auf eine säkularisierte Gesellschaft aus?

Das Stück lädt zu einer intensiven Auseinandersetzung ein und ist als Dialog mit der türkischen und arabischen Community gedacht, so Dramaturg Michael Eickhoff.

Da die meisten Ensemblemitglieder bei der „Borderline Prozession“ beschäftigt sind, spielen zwei Gäste in dem Stück. Jasmina Musić spielt die Judith und Murat Seven den Ibrahim.

Mehr Informationen unter www.theaterdo.de

Verschiebbare Perspektive

Ein Blick auf die Bühne der "Borderline Prozession". (Foto: © Birgit Hupfeld)
Ein Blick auf die Bühne der „Borderline Prozession“. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Stand bei „Das Goldene Zeitalter“ die Wiederholung im Mittelpunkt geht es beim Nachfolger „Die Borderline Prozession“ (Premiere am 15. April 2016 um 19:30 Uhr im Megastore) um die Grenzen und deren mögliche Überwindung. Musik – Video – Theater – bildende Kunst: alles ist in dem Mammutwerk (um die drei Stunden) erlebbar. Dafür ist eine Rekordzahl an Schauspielern notwendig. 23 Schauspieler sind in verschiedenen Räumen und Situationen zu sehen.

Ort der Handlung ist ein bewohntes Haus mit zehn Zimmern, Pool, Garage und bewachter Außenfront. Draußen ist ein mysteriöser Parkplatz, scharf getrennt vom Haus durch eine Mauer aus Beton und Draht. Im Haus geschieht das pralle Leben: Geburt, Tod, Liebe Hass. Draußen sind Menschen, die hinein wollen, aber nicht können.

Das besondere an dieser Produktion ist, dass die Zuschauer nicht alles Facetten gleichzeitig sehen können. Sie haben die Wahl, ob sie an der Nordseite oder an der Südseite Platz nehmen wollen. Was auf der gegenüberliegenden Seite geschieht wird ihnen per Kamera über Monitore angezeigt. Wollen sie die Perspektive wechseln, so müssen sie sich der „Prozession“ anschließen, die die Schauspieler und Besucher auf die andere Seite bringt.

Der Titel des Stückes bezieht sich einerseits auf die psychische Erkrankung „Borderline“, andererseits auf die biblische Geschichte vom Fall der Mauern Jerichos durch eine Prozession (und Trompeten). Daher ist die Kernfrage des Stückes „Wie überwinde ich Mauern?“. Dabei geht es Regisseur Kay Voges und die Dramaturgen Alexander Kerlin und Dirk Baumann darum, Denkräume zu öffnen und keine bestimmten Antworten zu geben.

Neben dem größten Teil des Dortmunder Ensembles sind neun Schauspielstudierende der Folkwang Universität Essen dabei sowie Raafat Daboul. Daboul ist syrischer Flüchtling, der in seiner Heimat vor dem Krieg Schauspiel studiert hat. Das beeindruckende Bühnenbild schuf Michael Sieberock-Serafimowitsch, die Musik kommt von Tommy Finke und für die bewegten Bilder ist Voxi Bärenklau verantwortlich.

Mehr Informationen unter www.theaterdo.de

Täter und Opfer zugleich

Ein kurzer Moment des Glücks: Emily Newton (Ellen Orford), Peter Marsh (Peter Grimes)  ©Thomas M. Jauk / Stage Picture GmbH
Ein kurzer Moment des Glücks: Emily Newton (Ellen Orford), Peter Marsh (Peter Grimes)
©Thomas M. Jauk / Stage Picture GmbH

Doppelte Premiere in Dortmund. Am 09. 04. 2016 hatte nicht nur Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“ Premiere, es war sogar das erste Mal, dass der britische Komponist in Dortmund aufgeführt wurde. Sicherlich ist „Peter Grimes“ keine leichte Kost und garantiert nicht sofort volle Opernhäuser wie etwa die eingängigen italienischen Opern, Mozart oder Wagner. Es ist zu begrüßen, dass nun mutig gegen den „Mainstream-Geschmack“ endlich auch in Dortmund eine Britten-Oper aufgeführt wird.

Peter Grimes ist eine düstere Oper mit ein wenig britischen schwarzen Humor, geprägt von der rauen See. Ort der Handlung ist die Ostküste Englands, die Heimat des Komponisten. Das einfache Bühnenbild zeigte ein heruntergekommenes Fischerdorf mit einem Pub und Kiosk in düsterer Beleuchtung. Regisseur Tilman Knabe lässt das Publikum wie durch ein Guckloch auf das Geschehen sehen. Die ursprüngliche Handlung verlegt er von den 30iger Jahren des 19. Jahrhundert der Kleidung nach zu Urteilen in die 80iger des 20. Jahrhunderts. Eine Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs und hartem Überlebenskampf der Fischer. Eine Welt von Korruption, Drogen- und Kinderhandel und Prostitution.

Der Fischer Peter Grimes ist ein gewalttätiger Sonderling und Außenseiter, der sich Kinder aus einem Armenhaus als Lehrlinge kauft, um sie zu misshandeln, auszubeuten und zu missbrauchen. Jedem in der Ortschaft ist das klar. Aber es wird weggesehen. Nur die Mrs. Sedley eine Art Opiumsüchtige Miss Marple und der Alkoholabhängige Methodist Bob Boles erheben ihre Stimme nach dem Tod eines Lehrlings bei einer Verhandlung gegen Grimes. Der stellt das Geschehen als ein Unglücksfall dar.

Mit Hilfe der Lehrerin Ellen Orford, eine Frau mit Helfersyndrom und in ihn verliebt, kommt er an einen neun Jungen als Lehrling. Der Traum von einen gemeinsamen Neuanfang und Heirat zerplatzt wie eine Seifenblase. Der Junge John wird schon bald vermisst und der erzürnte Mob jagt Grimes. Dem bleibt nur ein Ausweg….

Die Inszenierung stellt die ambivalente Persönlichkeit des Peter Grimes als Täter und gleichzeitig Opfer in den Mittelpunkt. Er ist ein gewalttätiger Mörder, der als einsamer Sonderling mit pädophiler Neigung aber auch keine Hilfe bekommt. In seiner Verzweiflung ist der Freitod für ihn die einzige Lösung. Gleichgültigkeit und Verrohung der Mehrheitsgesellschaft in seinem verarmten Heimatort entspricht der Gewalt und Unberechenbarkeit der Natur des Meeres.

Der Regisseur setzt in der Aufführung keine plakativ offensive Zeichen, aber klare symbolhafte. So lässt er den wütenden Mob mit Fackeln durch die Gegend laufen, ohne sie aber direkt (wie in Karlsruhe) als Faschisten zu kennzeichnen. Auch die pädophilen Neigungen des Peter Grimes werden nur mit Gesten angedeutet. Für Knabe ist Peter Grimes eher jemand, der seine sadistischen Triebe nicht unter Kontrolle hat, unter denen auch Ellen zu leiden hat.

Peter Marsh, Gastsänger aus Frankfurt, sang und spielte den Peter Grimes mit seiner kräftigen Statur in all seiner Ambivalenz und seiner Verzweiflung in allen Nuancen eindrucksvoll und sensibel. Emily Newton als Ellen Orford steht ihm in ihrer vielschichtigen Charakterdarstellung und Stimme in nichts nach. Die Sängerinnen und Sänger in den wichtigen Nebenrollen, ohne sie jetzt alle einzeln zu nennen, gingen in ihre verschiedenen Charakteren auf und trugen zur Veranschaulichung des gesellschaftlichen Gesamtbildes bei. Sangmin Lee hat als Kapitän Balstrode so eine Art Beschützerfunktion als „Leader of the pack“.

Der Opern und der Extrachor unter der Leitung von Manuel Pujol hatten bei der Aufführung eine herausragende Funktion. Sie waren praktisch immer auf der Bühne präsent und bildeten einen kraftvollen „Mob“.

Eine große und wesentliche Rolle spielt bei der Oper das Orchester als kommentierende Begleiter der verschiedenen Emotionen und Bedrohungen. Während der vier „Sea Intercludes“ gelang es außerdem der Dortmunder Philharmoniker unter der Leitung von Generalmusikdirektor Gabriel Feltz, die Gewalt der See und der Natur in all ihren verschiedenen Ausformungen und Nuancen vor dem Auge des Publikums lebendig werden zu lassen. Sie schafften eine Einheit von Musik, Gesang und Darstellung.

Leider hat das „Nicht-Wissen-wollen“ und nicht genau hinsehen auch heutzutage nichts an Aktualität verloren.

Mit Standing Ovations und „Bravo-Rufen“ wurde die gelungene Premiere vom Publikum gefeiert.

Hingehen lohnt sich!