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Die Magd Zerline – und aufwühlender Seelenlärm

Am Donnerstag den 19.04.2018 hatte das Solo-Stück „Zerline“ nach dem Roman „Die Schuldlosen“ von Hermann Broch unter der Regie von Matthias Rippert im Studio des Dortmunder Schauspiels . Im Gegensatz zu früheren Inszenierungen erzählte hier eine junge Frau, die Schauspielerin Marlena Keil vom Schauspiel-Ensemble eindrucksvoll im Rückblich die Lebens-beichte der alten Magd Zerline“. Diese war lange Jahre als Dienstmädchen bei einer Baronin, deren Mann samt Tochter Hildegard angestellt. Sie erzählt die Geschichte an einem Sommernachmittag einem sich (fiktiv) im Raum befindenden Mieter Herr A. (Andreas).

Im Hintergrund des Studios ist nur eine marode Wand mit einem großen Elch-Geweih zu sehen. Symbolisch steht das Bühnenbild für einen bedeutenden Ort in der Geschichte.

Es ist der Ort, wo sowohl die Baronin und andere Geliebte, auch Zerline ein Verhältnis mit dem Herrn von Juna. Dieser ist auch der leibliche Vater von Hildegard.

Nach dem Prolog geht für kurze Zeit das Licht.

Aus einem auf die Bühne gebrachten alten riesigen Koffer steigt langsam die „alte Zerline“ langsam schlürfend und gebückt mit altem Mantel und Hut aus ihren Erinnerungen heraus. Eine dramaturgisch starke Idee in dieser Inszenierung.

Die neunzig Jahre alte Zerline wird auf der Bühne durch ihren Erinnerung wieder als junge Frau lebendig. Die Zuschauer werden sozusagen in ihre Lebensgeschichte hineingezogen.

Zerline (Marlena Keil) berichtet über ihr unerfülltes Liebesleben. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Zerline (Marlena Keil) berichtet über ihr unerfülltes Liebesleben. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Es ist eine Geschichte voll Sehnsucht nach einer erfüllten Liebe, Begehren und Schmerz, Neid, Stolz und Heimtücke. Es ist eine große Liebesgeschichte der Magd Zerline. Sie begehrte von Juna, war aber vor allem in tiefer Liebe dem Baron zugetan. Das Stück bietet aber auch einen Einblick in die politisch-gesellschaftliche Befindlichkeit in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Auf eindringliche Weise zeugt die Erzählung von der Individualisierung, Vereinsamung und Verunsicherung der Menschen. Das zeigt etwa die „Entscheidungs-Schüchternheit“ des Herrn von Juna, der sich wie viele andere, passiv „vom Schicksal“ treiben lässt. So werden sie „schuldlos schuldig“. An dieser Stelle hat die Aufführung einen aktuell Bezug zu unserer gegenwärtigen Situation.

Marlena Keil bringt die Zerline mit jeder Geste lebendig und ausdrucksstark für das Publikum auf die Bühne. Alle Facetten der Persönlichkeit in ihrem Stolz und Verletzlichkeit werden von ihr einfühlsam dargestellt. Mal schüchtern und tragikomisch, dann wieder in ihrer Wut laut und deutlich. Das Wort „Seelenlärm“ spielt in der Erzählung von Broch eine bedeutende Rolle. Es steht für die Sublimierung der Sexualität und wird von Zerline oft etwas verächtlich verwendet.

Die schöne und etwas verquere Sprache von Hermann Broch hat eine bildhafte Kraft. Die erotischen Passagen der finden in den sinnlichen Gesten der Schauspielerin einen starken Ausdrucksform. Eine Paraderolle für die junge Schauspielerin, die mit ihrer starken Präsenz das Publikum beeindruckte.

Weitere Vorstellungstermine: 03.05.2018 und 30.05.2018 jeweils um 20:00 Uhr

Informationen erhalten sie wie immer unter 0231/ 50 27 222 oder www.theaterdo.de

Zerline – eine Geschichte um Liebe und Lebenslügen

Mit „Zerline“ nach dem Roman „Die Schuldlosen“ von Hermann Broch bringt das Schauspiel Dortmund in seinem Studio am Donnerstag, den 19.04.2018 um 20:00 Uhr ein altes Traditionsstück unter der Regie des jungen Regisseurs Matthias Rippert auf die Bühne.

Die beliebte Schauspielerin Uta Herrmann spielte im reiferen Alter vor über zwanzig Jahren lange die „Magd Zerline“ im Schauspielhaus unserer Stadt. Nun wird die Rückschau der Magd (Stubenmädchen) Zerline auf ihr Leben im Dienst einer Baronin von der jungen Schauspielerin Marlena Keil des aktuellem Ensembles erzählt. Während des Erzählens und der Erinnerungen wird Zerline somit wieder jung.

Es trifft sich gut, dass gerade diese Erzählung auch Teil der Diplomarbeit (Abschlussarbeit) von Marlena Keil am Max-Reinhardt-Seminar 2014 in Wien war. Keil ist seit drei Jahren festes Ensemble-Mitglied im Schauspiel Dortmund und spielte unter anderem die Tochter Jean in Tracy Letts‘ „Eine Familie“ (Regie Sascha Hawemann). Zuletzt war sie als Hauptfigur Orlando in der Regie von Laura N. Junghans im Studio und auf der großen Schauspielhausbühne in Claudia Bauers „Schöpfung“ zu sehen. Nun ihr erstes Solo-Stück.

Zerline (Marlena Keil) berichtet aus ihrem Leben. (Foto: Christian Mair)
Zerline (Marlena Keil) berichtet aus ihrem Leben. (Foto: Christian Mair)

Die Inszenierung beginnt mit dem Prolog des ominösen Herrn A. an einem heißen Sommernachmittag. Die Magd Zerline hält Rückschau auf ihr Leben bei der Baronin und deren Tochter. Es ist eine Lebensbeichte voller Sehnsucht, Begehren und Schmerz, gepaart mit Neid, Stolz und Heimtücke. Zerline ist tief in das Leben der Herrschaft verstrickt. Zuletzt gipfelt der Nachmittag im Anzetteln eines Mordprozesses.

Nach Hannah Arendt ist es eine der größten Liebesgeschichten. Die Erzählungen umfassten den Zeitraum zwischen 1913 und 1933. Zwischen den Kriegen fand ähnlich wie heute eine Vereinsamung, Individualisierung und Entpolitisierung der verunsicherten Menschen statt.

Wie von einem „Schicksal“ getrieben, passieren die Geschehnisse den Menschen, die schwach in ihren Entscheidungsfindungen sind.

Das Stück wird, so Keil, von Brochs schönen und verqueren Sprache und von gezielt eingesetzter Musik getragen.

Neben der Premiere sind am 03.05.2018 und am 30.05.2018 jeweils um 20:00 Uhr weitere Aufführungen des Stücks vorgesehen.

Informationen und Karten unter: 0231/ 50 27 222 oder www.theaterdo.de

Die Schöpfung – eine Inszenierung „Next Generation“

Im Schauspiel Dortmund hatte am Samstag, den 07.04.2018 die „Schöpfung“ nach Joseph Haydn (Text Gottfried van Swieten) unter Verwendung von Szenen aus „Die Ermüdeten“ von Bernhard Studlar, Stanislaw Lem, Goethes Faust, Richard Dawkins, der Bibel u.a. seine Premiere.

Die Regisseurin Claudia Bauer stellte in dieser spannenden Kooperations-Projekt zwischen Oper und Schauspiel dem bekannte Oratorium (Uraufführung 1798 Wien) von Joseph Haydn sozusagen ein existentialistische moderne „Next Generation“-Fassung der Schöpfung gegenüber. Das Oratorium dient als Folie für Gegenwart und Zukunft mit Blick auf die Potentiale und Gefahren einer einer digitalen Schöpfung.

Beteiligt an diesem Projekt waren als Opernsänger Maria Helgath (Sopran) als Engel Gabriel, Ulrich Cordes (Tenor) als Engel Uriel und Robin Grunwald (Bass) als Engel Raphael mit ihren starken Stimmen. Begleitet wurden sie am elektronischen Piano und Cembalo von Petra Riesenweber und mit Live-Musik gestaltet von Tommy Finke (T. D. Finck).

Die sechs Schauspieler des Dortmunder Ensembles (Ekkehard Freye, Björn Gabriel, Frank Genser, Marlena Keil, Bettina Lieder und Uwe Rohbeck) agierten sowohl in den Räumen einer fantastischen Drehbühne, wie auch über eine Bildschirm übertragen und auf der Bühne.

Im Prolog stellten sie sich als Maschine die „Vernunft“, aber keine vernünftige Person ist.

Der gesungenen Schöpfungsgeschichte stellen sie die digitale Schöpfung mit gewaltigen Bildern der sozio-kulturellen Entwicklungsgeschichte gegenüber.

Als Person (Schauspieler) wurden sie durch verschiedene Masken und Kostümierungen verfremdet. Dabei blieben sie eindrucksvoll in ihren maschinelle Bewegungen und ausdrucksstarken Darbieten der Zitate. Dabei wurden auch aktuell diskutierte politische Fragen wie etwa um das bedingungslose Grundeinkommen eingebaut. Der Mensch als defektes Wesen dargestellt, das durch seine individuellen Persönlichkeiten zur Zerstörung und dem Untergang geweiht ist. Die Freiheit ist größer als die Vernunft, mit der die Menschen nicht umgehen können.

Parallel zu Haydns Schöpfung geht es bei der von der Maschine erzählten Geschichte mit dem Chaos am Anfang los, mit der Entstehung des Wetter, dem Phänomen Zivilisation, Entstehung der Arten, Kulturentwicklung, Ideologien und Religion. Der Mensch hat sich schließlich selbst zum „Gott“ gemacht und seine Welt der Zerstörung preis gegeben. Am Ende steht die Entwicklung vernünftiger und unpersönlicher Intelligenz.

Sänger und Schauspieler beim Prolog des Stückes. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Sänger und Schauspieler beim Prolog des Stückes. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Bauer arbeitet nicht nur mit eindringlichen visuellen Bildern, sondern verstärkt ihre Wirkung noch durch Wiederholungen (Loops) und Sprachverzerrung, ähnlich wie zum Beispiel Kay Voges bei seinem „Goldenen Zeitalter“. Dabei geht sie bis zur Schmerzgrenze. Schrill wird da schon mal unverständlich aneinander vorbei geredet, um zu verdeutlichen, dass nur die eigene Persönlichkeit mit ihrer Befindlichkeit im Mittelpunkt steht.

Eindrucksvoll der Dialog gegen Ende von Eva (Bettina Lieder) und Adam (Frank Genser). Eva, eine nach den Maßen von Adams Rippe als und unpersönliche vernünftige Maschine, und Adam geraten vor romantischem Hintergrund in einen Disput. Der entsetzte Adam will keine simulierte, sonder eine nicht planbare geheimnisvolle menschliche Liebe und das Recht aus seinen Kampf um Leben und Tod. Das wird aber laut Eva nicht möglich sein. Der Mensch zerstört seine Biosphäre und nur die Aufgabe der Persönlichkeit kann ihn retten.

Was bleibt dann aber von dem Individuum? Nur der Hunger und die Unersättlichkeit sind der einzige Berührungspunkt zwischen Mensch und „Maschine“.

Die Thematik des abends wurde schon von einigen Autoren und Philosophen behandelt. Zu 80% wurden Zitate aus Werken des polnischen Philosophen und Science-Fiction-Autors Stanislaw Lem (1921-2006). Bedeutend sind dabei vor allem die Zitate aus seinem Buch „Also sprach Golem“. Der Titel spielt auf das Werk „Also sprach Zarathustra“ von Nietzsche an. Der von Menschen gebaute Super-Computer „Golem XIV“ in der Geschichte hat die Intelligenzbarriere durchbrochen und verfügt über eine eigenständige Vernunft. Lem weist hier auf die geistige Beschränktheit des sich als „Krone der Schöpfung“ betrachtenden Menschen hin, die tieferen Gründe der Natur zu erkennen. Der genetische Code hat gegenüber den aus ihm entstandenen Organismen eine evolutionär vorrangige Stellung ein. So heißt es in einem Zitat: „ Der Sinn Boten ist die Botschaft.“ Die Idee des dominanten Gensnahm der britische Biologe und Autor Richard Dawkins (*1941) in seinem Buch „Das egoistische Gen“ (1976) auf und führt die gesamte Entwicklung des Lebens auf die Selektion von Genen zurück.

Die „Schöpfung“ ist kein Oratorium mit Schauspiel und Haydn-Fans werden vielleicht enttäuscht sein, doch den Zuschauer erwartet ein bildgewaltiges, musikalisches Spektakel mit wunderbaren Sängern und engagierten Schauspielern.

Orlando – theatrales Spiel mit Identitäten

Am 11.02.2018 hatte „Orlando“ nach Virginia Woolf (Deutsch von Melanie Walz) in einer Inszenierung von Laura N. Junghanns seine Premiere im Studio des Dortmunder Schauspiels.

Orlando ist der Titel des 1928 erschienen Romans der englischen Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941). Es ist eine Hommage an ihre jahrelange Geliebte Vita Sackville-West. Es stellt eine Art fiktive Biografie der Schriftstellerin Sackville-West selbst dar. So enthält er beispielsweise Schilderungen über deren Geburtshaus Knole House in Kent.

Die fantastische Geschichte des jungen Adeligen Orlando geht über 350 Jahre hinweg beginnt im Jahr 1586 zu Zeiten Elisabeth I. Nach einer enttäuschten Liebschaft flüchtet er sich als Dichter in die Natur und später als Botschafter in Konstantinopel. Orlando fällt in einen seltsamen „Schlaf“ und wacht als Frau auf. Im nun 18. Jahrhundert in ihre britische Heimat zurückgekehrt, kämpft sie nun als Frau um Ansprüche auf ihre alten Ländereien und Anerkennung als Schriftstellerin.

Ihr ungebundenes Leben stellt sie erst mit Beginn der bedrückend und biederen Viktorianischen Epoche in Frage. Sie heiratet einen Kapitän und der Kritiker Nicholas Greene verhilft ihr zur Publikation des Gedichts „The Oak Tree“. Das Buch endet im Jahr seiner Publikation (1928) mit der 300 Jahre alten Orlando als verheiratete Frau mit Kind von 36 Jahren. Unterschiedliches Klimata, Umgangsformen, Frauen- und Männerbilder oder Literatur in den verschiedenen Epoche werden offenbar.

Bei der im dunklerem Licht gehaltenen Studio-Bühne fällt ein als riesiger Baum stilisierte Lichterketten-Reihe auf. Er ist ein Synonym für den „Oak Tree“. Die Konstruktion umspannt das Studio wie eine Kuppel und kann in verschieden Farben, je nach Stimmung und Bedarf, in seiner Farbe verändert werde.

Für die Inszenierung wurde nicht nur der Roman als Grundlage verwendet. Ein wichtiger Schwerpunkt lag auf dem intensiven Schriftverkehr und das Verhältnis zwischen Virginia Woolf und Vita Sackville-West zur Entstehungszeit von Orlando (1927-1928).

Atmosphärisch sensibel begleitet wurde die Aufführung musikalisch von der Dortmunder Gruppe AniYo kore mit neun Songs ihrer neuesten CD. Diese wurden extra für das Theater arrangiert. Melody und René (AniYo kore) waren ein integraler Bestandteil des Stückes.

Die drei Schauspieler auf der Bühne hatten sichtlich Spaß an dem Spiel mit den Identitäten. Ekkehard Freye hatte einen wunderbaren Auftritt als Elisabeth I. Mit roter Perücke, Kleid und Pumps glänzte als singende Königin. Wobei Melody (AniYo kore) sang, und er den Mund bewegte.

Orlando - ein Theaterabend über Identitäten. Mit Ekkehard Freye, Marlena Keil und Friederike Tiefenbacher. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Orlando – ein Theaterabend über Identitäten. Mit Ekkehard Freye, Marlena Keil und
Friederike Tiefenbacher. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Marlena Keil als Orlando hielt ein eindrucksvolles Plädoyer bei einer dargestellten Gerichtsverhandlung. Sie weigert sich vehement, sich nach dem Geschlechterwechsel“ von Orlando amtlich als Frau deklariert und festgelegt zu werden.

Friederike Tiefenbacher hatte ihren komischsten Auftritt mit weißer Perücke als ein etwas verrückter Kritiker Nicholas Greene.

Auf die Spitze getrieben wird das Vergnügen, wenn Freye und Keil sich zunächst als „Harriet“ und Orlando (Mann) und später unter veränderten Geschlechtern wieder begegnen. Köstlich, wie die Beiden mit festgefahrenen Bilden von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ kokettieren.

Die Inszenierung geht aber noch weiter. Am Ende wir das Publikum mit einem andern Ereignis, was mit dem Namen „Orlando“ verbunden ist durch kurze Einspielung originaler Tonaufzeichnungen konfrontiert. In Orlando (Florida) stürmte ein homophober Mann den von einer queeren Community besuchten Nachtclub „Pulse“ und erschoss 49 Menschen.

Ein Theaterabend um aktuelle Themen wie Identitäten, Kategorien und Zuschreibungen nach Geschlechtern.

Weibliche und männliche Anteile gehören beide gemeinsam zu unserem Leben.

Weitere Aufführungstermine und Informationen erhalten sie unter www.theaterdo.de

Der Kirschgarten – Aus der Ordnung gefallen

Ein großes Ensemble-Stück im kleinen Studio. 10 Schauspieler und einen Musiker brachte Regisseur Sascha Hawemann in den „Kirschgarten“ von Anton Tschechov unter. Die Tragik-Komödie war die bitter-süße Kapitulation des Adels vor dem neu aufstrebenden Bürgertum. Ein Premierenbericht vom 29. Dezember 2017.

Wenig Platz fürs Publikum. Zwei Stuhlreihen vor Kopf, an der Seite nur eine. Selbst das Füße ausstrecken war nicht immer gefahrlos möglich, denn der kleine Gang wurde auch von den Schauspielern benutzt. Aber gerade diese Nähe machte die Inszenierung von Havemann zu einem emotionalen Erlebnis.

In „Der Kirschgarten“ von Tschechow geht es um das Gut und den Kirschgarten von Ljubow Andrejewka Ranjewskaja, die dort mit ihrem Bruder Gajew, ihrer Tochter Anja und ihrer Adoptivtochter Warja lebt. Gerade aus dem Ausland wiedergekommen, sind sie zwar völlig überschuldet, aber vor allem Ljubow Andrejewka ist noch dem aristokratischen Denken verfallen. Daher lehnt sie auch das Angebot vom Kaufmann Lopachin ab, den Kirschgarten zu parzellieren und zu verpachten. Am Ende verliert sie Gut und Garten.

Warja (Bettina Lieder) ist reifer als das müde "Seelchen" Anja (Merle Wasmuth) kann aber den Verkauf von Gut und Garten nicht verhindern. (Foto: © Brigit Hupfeld)
Warja (Bettina Lieder) ist reifer als das müde „Seelchen“ Anja (Merle Wasmuth) kann aber den Verkauf von Gut und Garten nicht verhindern. (Foto: © Brigit Hupfeld)

1861 wurde die Leibeigenschaft in Russland abgeschafft. Die alten traditionellen Werte lebten aber in den Köpfen weiter. Sehr gut zu sehen in den Figur von Ljubow Andrejewka. Friederike Tiefenbacher spielte die weibliche Hauptfigur als verletzliche Frau, die zwar immer wieder versucht ihren Stolz zu bewahren, aber am Ende vor den Trümmern ihrer Existenz steht. Ljubow Andrejewka hatte es nie verstanden, dass die Macht vom Adel zum Geldadel wechselte. Vom gleichen Schlag ist ihr Bruder Gajew (Ekkehard Freye). Er scheitert in seinen Versuchen, Geld aufzutreiben, um das Gut zu retten.

Die andere Figur, die den Zeitenwandel versucht zu negieren, ist der alte Diener Firs (Uwe Schmieder). Für Firs ist die neue Ordnung nichts. „Hie Bauern, hie Herren – man wusste, woran man war. Jetzt läuft alles durcheinander, kein Mensch kennt sich mehr aus.“ Am Ende des Stückes bleibt er einsam und vergessen im verlassenen Gutshaus.

Die neue Zeit repräsentiert niemand so gut wie der Kaufmann Lopachin. Eine Paraderolle für Frank Genser, der dem Stück eindeutig seinen Stempel aufdrückte. „Dasselbe Gut hab‘ ich gekauft, auf dem mein Vater und Großvater leibeigene Knechte waren, die nicht mal die herrschaftliche Küche betreten durften“, sagt er als Lopachin. Eines der zentralen Sätze im Stück. Doch Lopachin fehlt etwas, die Liebe. Er liebt Warja (Bettina Lieder), doch er ist vor lauter Geld verdienen unfähig, seine Gefühle auszudrücken. Warja ist zwar die realistischere der beiden Töchter und wurde von Lieder auch mit einer gehörigen Portion Energie und Entschlossenheit gespielt.

Auch dem nächsten Liebespaar ist kein glückliches Ende beschieden. Anja (bezaubernd Merle Wasmuth) ist ein sensibles Mädchen, das den ewigen Studenten Trofimov liebt. Trofimov, gespielt von Björn Gabriel im Rudi-Dutschke-Look), kann sehr gute Reden halten, ist aber unfähig zu lieben. Von daher trennen sich ihre Wege am Schluss.

Das Stück ist in den Nebenrollen sehr gut besetzt. Carline Hanke als überdrehte Gouvernante Charlotta und Marlena Keil als Dunjascha. Dunjascha teilt das Schicksal von Anja und Warja, denn auch aus ihrer Liebe wird nichts. Jascha (schön geckenhaft gespielt von Raafat Daboul) verschmäht sie, und den Pechvogel Semjon (auch Uwe Schmieder) will sie nicht.

Eine wichtige Rolle spielte Alexander Xell Dafov als Musiker, der die Inszenierung klanglich begleitete. Von Russen-Pop über russischer Sakralmusik und 80er Jahre Reminiszenzen „The final Countdown“ bis hin zu elektronischer Partymusik reichte das Repertoire.

Nach „Eine Familie“ im großen Haus und „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ im Megastore war es die erste Arbeit Hawemanns im Studio. Bühnenbildner Wolf Gutjahr nutzte den verfügbaren Raum optimal aus. Durch die Nähe zum Publikum war die Inszenierung sehr intensiv, vor allem im zweiten Teil, als die Komödie sich in eine Tragödie wandelte. Emotion pur – Dank eines engagierten und spielfreudigen Ensembles mit Frank Genser als Kirsche auf der Sahne.

 

Infos und Karten unter www.theaterdo.de

 

Eat the rich – auf österreichisch

Elendstouristen kommen in eine Kneipe, die es besonders in sich hat – voll mit Außenseitern und gescheiterten Existenten wie sie nur Werner Schwab kreieren konnte. Willkommen in der Wiedereröffnung des Studios des Schauspiel Dortmund, willkommen bei „Übergewicht, unwichtig: Unform“, ein europäisches Abendmahl von Werner Schwab. Nehmen Sie etwas zu trinken und vergessen Sie Ihr Brot nicht.

Früher gab es in Dortmund die Kneipe „Bei Ernie“ direkt hinter dem Burgtor. Wenn man den Geschichten und Mythen glauben schenkt, dann war das kein Ort für Schicki-Micki-Menschen auf der Suche nach dem coolsten Elendstourismus. So einen Kneipencharme zauberte auch Johannes Lepper ins Studio, obwohl seine Kneipe (mit einem riesigen Bild der Schlacht von Austerlitz) ein wenig geräumiger Aussicht.

In der Kneipe befinden sich neben der Wirtin (Amelie Barth), der Kneipenphilosoph Jürgen (Uwe Rohbeck), das Pärchen Schweindi (Andreas Beck) und Hasi (Marlena Keil), der grobschlächtige Karli (Frank Genser) mit seiner Freundin Herta (Friederike Tiefenbacher) und Fotzi (Christian Freund).

Das Stück kreist im wesentlichen um die Unzulänglichkeiten der anwesenden Akteure. Der naive und linksliberale Jürgen versucht seine Los als einfacher Lehrer zu überspielen, Schweindi möchte mit Hasi ein Kind, ist aber impotent und pädophil. Hasi selber wurde als Kind von ihrem Vater missbraucht, wie sich gegen Ende des Stückes herausstellt.

Karli ist ein grobschlächtiger Mensch, der eine ziemlich kurze Zündschnur besitzt und seinen Frust gerne auch gewalttätig an seiner Freundin Herta ablässt. Herta selbst spielt die Rolle der Schmerzensmaria und hält dies geduldig aus. Fotzi hingegen ist eine Frau unbestimmten Alters, die durch ihr exhibitionistisches Verhalten versucht, die Aufmerksamkeit auf sich zuziehen und Geld für die Musikbox zu schnorren.

Ein wesentlicher Bestandteil in den Werken Schwabs ist die Beschäftigung mit Nahrung. In „Übergewicht“ geht es besonders um das „Brot“, das für Schweindi einen sakralen Charakter besitzt. Jedoch immer mit einem aggressiven Unterton. So fährt er Karli mehrfach an: „Kriegsverbrecher, Brotbetrüger, Kriegsbetrüger, Brotverbrecher. Nie wieder erlangst du von mir eine Vergebung.“

Ein weiteres Merkmal der Schwabschen Sprache sind die teilweise vulgären Sprüche der Protagonisten, die aber durch hochgestochene Ausdrücke angereichert und dadurch konterkariert werden.

Die Ausdrucksweise mancher von Schwabs Figuren wirkt abgehärtet, ungebildet und arrogant, sogar vulgär. Sie überraschen gleichzeitig aber, in dem sie plötzlich einen hoch gestochenen Ausdruck verwenden, der man in demjenigen Milieu und von derjenigen Figur nicht erwarten hätte.

Schwabs Figuren träumen von einem einfachen, normalen Familienleben, sie sind aber nicht in der Lage, es zu verwirklichen.

Das große Fressen. Mit dabei sind (v.l.n.r.) Christian Freund, Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Amelie Barth und Uwe Rohbeck (Foto: © Birgit Hupfeld)
Das große Fressen. Mit dabei sind (v.l.n.r.) Christian Freund,
Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Amelie Barth und Uwe Rohbeck (Foto: © Birgit Hupfeld)

Im weiteren Verlauf kommen zwei Gäste (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul) in die Wirtschaft, die sich separieren und stumm bleiben. Langsam aber sicher ziehen sie den Unmut der anderen Gäste auf sich, die ihren persönlichen Frust und Neid auf die beiden Neuankömmlinge abladen bis es zum Mord und Kannibalismus kommt ähnlich im Film „Eat The Rich“. Dabei mutiert Herta, die als einzige nichts vom Menschenfleisch genommen hat zu einer Heiligen, um die alle Füße-küssend eine Prozession abhalten. Hier kommt die Auseinandersetzung mit Schwabs religiöser Mutter wohl zum Tragen.

Surreal wie bei Beckett wird es, wenn nach dem Aufräumen plötzlich wieder das Paar ins Wirtshaus einkehrt.

Das Gute an der Inszenierung von Lepper ist es, dass er den Figuren auch ein wenig Zeit zum Atmen gibt. Denn das Stück besteht nicht nur aus skurrilen Dialogen, die zum lachen sind, sondern auch ab und an aus sehr ernsten Teilen. Wenn beispielsweise Schweindi seine Verzweiflung klagt oder Jürgen seine Weltverbesserungsideen zum besten gibt.

Die Schauspieler tragen mit dazu bei, dass „Übergewicht“ eine rundum gelungene Inszenierung wird. Vor allem Beck, Genser und Rohbeck. Denn in dem Stück versuchen die männlichen Hauptfiguren ihre Dominanz unter Beweis zu stellen. Da sind die Frauen mehr oder weniger Staffage. Dennoch zeigen Keil (Hasi), Tiefenbacher (Herta) und Barth (Wirtin), dass sie den Männern durchaus Kontra geben können, wenn es auch für Herta danach schmerzhaft wird.

Eine Sonderrolle hat Fotzi, die von Christian Freund gespielt wird.

Eine Empfehlung für alle, die auf absurdes, surreales Theater stehen. Derbe Sprache und viel Blut auf dem Theaterboden. Alle, die das nicht stört, werden einen unterhaltsamen Abend bekommen.

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Tichy in der Chemo-Matrix

[fruitful_alert type=“alert-success“]Die Bühne sieht ein wenig aus wie die Brücke eines Raumschiffes. (Foto: © Birgit Hupfeld)[/fruitful_alert]

Stanisław Lem trifft auf „Die Matrix“. Live-Animation trifft auf reale Schauspieler. „Der Futurologische Kongress“ nach Lem mischt Zukunftsvisionen und Darstellungsformen. Ars tremonia war bei der Premiere am 11. Juni 2017 im Megastore dabei.

Ein Stück über die Zukunft in Räumen, die bald der Vergangenheit angehören. Denn das Schauspiel Dortmund wird das Megastore bald verlassen und wieder zurück in ihr angestammtes Domizil am Burgwall gehen.

Für den Schluss hat man sich was besonderes aufgehoben: Eine Live-Animations-Performance. Die Idee hatten die Medienkünstler von sputnic unter der Leitung von Nils Voges. Manche werden sich an das Stück „Die Möglichkeit einer Insel“ erinnern, das 2015 Premiere feierte. Auch beim „Futurologischen Kongress“ gab es die Animationstafeln, die die Akteure auf einer Landwand zum leben erweckten. Daneben gab es Szenen mit Modellen und Puppen, die eher an Arbeiten von Klaus Gehre erinnerten, der ebenfalls in Dortmund inszenierte, beispielsweise mit „Minority Report“. Dazu gab es auch immer wieder Szenen, die live von Schauspielern Marlena Keil, Frank Genser, Friederike Tiefenbacher und Uwe Schmieder gespielt wurden. Musik kam vom musikalischen Leiter Tommy Finke.

Die Handlung orientiert sich an Lems Erzählung „Der Futurologische Kongress. Aus Ijon Tichys Erinnerungen“. Astronaut und Wissenschaftler Tichy wird von seiner Raumstation zurück auf die Erde befohlen. In Costricana findet der Futurologische Kongress statt. Doch Proteste begleiten den Kongress. Im Laufe der Auseinandersetzungen zwischen Polizei, Militär und Demonstranten werden auch psychotrophe Substanzen eingesetzt. Dennoch eskaliert die Gewalt und Tichy sowie sein Bekannter, Professor Trottelreimer, kommen ums Leben, nur um etwa 60 Jahre später wieder zu erwachen. Und zwar im Körper einer Frau. Inzwischen lebt die Gesellschaft in einer Chemokratie, bei der die Einnahme von Pillen zur Grundvoraussetzung gehört. Doch was ist Realität und was nicht?

Die Frage nach der Realität scheint ein beliebtes Thema in der Science-Fiction zu sein. Sputnic zitiert auch beispielsweise aus den „Matrix“-Filmen, gegen Ende muss sich Tichy zwischen der roten und der blauen Pille entscheiden. Lems Erzählung – eigentlich gegen das kommunistische System in seinem Heimatland Polen gerichtet – hat auch in der kapitalistischen Welt seine kritische Berechtigung. Gewalt gegen Demonstranten, Einschränkung von Bürgerrechten sind aktuelle Probleme und Herausforderungen. Tichy wird von Frank Genser und Marlena Keil (ja, der Körpertausch) herrlich dargestellt. Der männliche und weibliche Aspekt von Tichy kamen gut zur Geltung. Auch Uwe Schmieder als überdrehter Professor Trottelreimer war klasse. Friederike Tiefenbacher sprach die künstliche Intelligenz „Automaty“, die ebenfalls an die Matrix erinnerte.

Wobei alle Schauspieler die Doppelfunktion als „Animateure“ und Schauspieler mit Bravour hinbekamen.

Wer „Die Möglichkeit einer Insel“ liebte, sollte den „Futurologischen Kongress“ nicht verpassen.

Karten und Informationen unter www.theaterdo.de

Die Unmöglichkeit trotz unbegrenzter Möglichkeiten

[fruitful_alert type=“alert-success“]Von diesem Tisch gehen die meisten Episoden aus. (Foto: © Birgit Hupfeld)[/fruitful_alert]

Was ist die Liebe in Zeiten von „alles kann – nichts muss“? Joël Pommerat zeigt uns in „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ die Schwierigkeiten von Menschen, sich aufeinander einzulassen, ihre Lebensentwürfe in Einklang zu bringen und ehrlich zu anderen zu sein. Die Premiere des Stückes unter der Regie von Paolo Magelli war am 08. April 2017 im Megastore.

er die Liebe. Doch keine Angst, der französische Autor hat keinen großen Eimer Zuckerguss parat, um ihn über das Publikum zu gießen. Kein triefender Kitsch á la „Tatsächlich… Liebe“, bei Pommerat geht es ums Eingemachte in den Beziehungen. Und die können durchaus komisch sein, wie bei einer geplanten Hochzeit, der bei die Braut kurz vorher feststellt, dass ihr Bräutigam doch auch ein Techtelmechtel mit jeder ihrer Schwestern hatte. Mehr ins Genre Horror/Psychodrama geht die Episode einer Babysitterin, die auf die nichtexistierenden Kinder eines Paares aufpassen muss. Natürlich machen sie die Babysitterin für das vermeintliche Verschwinden ihrer Kinder verantwortlich und dem Zuschauer ist es nicht deutlich: Ist das ein perfides Spiel, was die beiden treiben oder nicht.

Die Liebe hat bei Pommerat auch schmerzhafte Facetten: Einer Patientin einer Psychiatrie-Einrichtung soll überzeugt werden, ihr Kind abzutreiben, das sie mit einem anderen Patienten gezeugt hat und die Liebe eines Priesters zu einer Prostituierten steht unter einer harten Belastungsprobe.

In dem Stück stehen die Schauspieler im Mittelpunkt: Besonders wenn alle mehrere Rollen spielen. Die Premiere war auch die Premiere für Christian Freund, der ab der Spielzeit 2017/18 dem Ensemble angehören wird. Zusammen mit Ekkehard Freye, Frank Genser, Caroline Hanke, Marlena Keil, Sebastian Kuschmann, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth fügte sich Freund in das gut funktionierende Team ein, das neben Tempokomödie auch die leisen romantischen Töne traf.

Ein großes Lob gebührt dem Bühnenbildner Christoph Ernst. Der Anfang und das Ende war eine Reminiszenz an da Vincis Gemälde „Das letzte Abendmahl“ und der Tisch war ein zentraler Punkt in dem Stück. Rechts und links waren Treppen zu einer Balustrade und ein vergittertes „Dachgeschoss“ zu sehen. Styroporplatten mit sichtbaren Leimspuren und Plastikflaschen als Baluste erzeugten die Anmutung eines Rohbaus. Vielleicht ein Symbol für die Liebe, die immer Veränderungen unterworfen ist. Vielleicht ist es auch unmöglich, der Liebe eine bestimmte, dauerhafte Gestalt zu geben, ebenso unmöglich wie die Wiedervereinigung der beiden Koreas.

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Reflexion über Vergänglichkeit und die Schönheit des Moments

Hier trägt der Engel Schwarz: (v.l.n.r.) Frank Genser, Marcel Schaar (Fotograf), Uwe Schmieder, Julia Schubert, Ensemble- (Foto: ©Birgit Hupfeld)

Kann man einen Augenblick für die Ewigkeit festhalten? Diese Frage spielt nicht nur in Goethes Faust beim Packt mit dem Teufel (Mephisto) eine große Rolle. Die Fotografie versucht schon länger, besondere Momente des Lebens für die Zukunft einzufangen. Einerseits kann der Betrachter sich so vergangene Augenblicke wieder in das Gedächtnis rufen, führen uns aber auch die Vergänglichkeit unseres Lebens und die Relativität von Raum und Zeit vor Augen.

Schauspielintendant Kay Voges, drei Dramaturgen und sein gesamtes Ensemble haben zusammen mit dem Kunstfotografen Marcel Schaar versucht, sich der Thematik durch die Verbindung von Fotografie und Theater zu nähern. Am Samstag, den 11.02.02017 hatte im Megastore das Theater-Abenteuer „hell / ein Augenblick“ Premiere.

Wohl einmalig in der Theatergeschichte lichtet ein Fotograf während der Vorstellung live auf der dunklen Bühne ein Motiv ab, das dann direkt in den Zuschauerraum projiziert wird. Helligkeit und Dunkelheit tauschen ihre Plätze. Die Bühne wird zu einer Dunkelkammer, die nur ab und zu durch das Blitzlicht des Fotografen für eine 1/50 Sekunden durchzuckt. Insgesamt etwa 100 mal am Abend.

Zur Erläuterung: Auf der Bühne stehen an den Seiten zwei große Leinwände und zwei Minni-Flutlichtanlagen. In der Mitte befindet sich im Hintergrund eine Art weiße „Magic-Box“ ,wo der Fotograf als „Meister des Augenblicks“ Schauspieler in speziellen Momenten ablichtet. Diese werden als schwarz-weiß Bilder auf die großen Leinwände projiziert. Diese Reduktion verlangt von den Schauspieler/innen viel Mut, denn sie sind es normalerweise gewohnt, ihre Körper deutlich sichtbar dem Publikum zu präsentieren. Die entstehenden Bilder sind berührend ehrlich und zeigen die kleinste Poren im Gesicht und Körper.

Alles fließt, alles steuert der Blitz“ ,sagt Heraklit. So beginnt der Abend mit einer philosophische Abhandlung aus dem „Baum des Lebens“ (Rabbi Isaak, Luria, um 1590) erzählt von Friederike Tiefenbacher.. Es geht darin um die Themen Leben und Licht, Raum und Zeit. Die Schauspieler/innen befinden sich sowohl auf der Bühne und in der „Magic- Box“, wo sie abgelichtet werden. Die Bilder auf der Großleinwand werden von den Schauspielern mit passenden philosophische Texte von Arthur Schopenhauer, Nietzsche, Bertand Russel, Charles Bukowski, Rainald Götz und andere begleitet. Das verstärkte die Wirkung der Bilder.

Als typisch für das, was viele Menschen empfinden, wenn sie fotografiert wurden denken, steht Uwe Schmieder, abgelichtet mit einem Schild „You see me“. Erschrocken ruft er in die Dunkelheit: „Das bin ich nicht, das bin doch nicht ich!“ Andere hingegen finden sich fotogener und rufen: „Das bin ich. So sehe ich aus.“

Es entstehen schöne Bilder von Zuneigung und Liebe, aber auch viele ernste, nachdenklich machende eindrucksvolle Bilder von Vergänglichkeit.

Für das sinnliche Erleben war der sensible begleitende Soundtrack von Tommy Finke und die Musik von Mahler bis Brian Molko/Placebo von großer Bedeutung.

Es war ein meditativer,archaischer Abend mit Nachwirkung. Wenn es um sich nicht erinnern können, Tod und Vergänglichkeit geht, ist das keine leichte komödiantische Kost. Das der Tod nicht gerne gesehen ist, zeigen die Text von Christoph Schlingsensief oder Robert Gernhardt aus dem Jahr 1997. Gernhardts Gedicht „So“ besagt, dass der Mensch in keinem Monat gerne sterben will. Er will immer wieder neue Moment generieren, um sie fest zu halten.

Heldenhafter Kampf gegen die Monotonie

Die Damen von der Telefonzentrale (Dortmunder Sprechchor) erzählten von Burnout und Depressionen. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Die Damen von der Telefonzentrale (Dortmunder Sprechchor) erzählten von Burnout und Depressionen. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Herzlich willkommen zum „Tag der offenen Tür“ in ihrem Finanzamt. Was wie eine komische Idee klingt, gab und gibt es aber in der Realität. Julia Schubert präsentiert – zum ersten Mal als Regisseurin – in den Kulissen der „Borderline Prozession“ eine irre Reise durch die Räume eine fiktiven Steuerbehörde. Merkwürdiges, Verzweifeltes, Komisches wechseln in jeder Runde ab. „Heimliche Helden“ könnte der skurrile Zwillingsbruder der „Borderline-Prozession“ sein. Auch bei den „Heimlichen Helden“ sieht der Zuschauer nicht alles, es sei denn, er kommt öfter wieder. Da wir von Ars tremonia zu Zweit unterwegs waren, konnten wir bei der Premiere am 21. Oktober 2016 einen Blick in alle Räume erhaschen.

Wie bereits geschrieben, das Stück findet in den Kulissen der „Borderline-Prozession“ statt, genauer gesagt, im vorderen Teil. Es gibt acht Räume und den Garten, aber nur sieben Runden, die jeweils um die 10 Minuten dauerten. Natürlich unterbrochen von der Mittagspause („Mahlzeit“) Jeder Zuschauer erhält eine Karte mit einer Nummer. Dort ist penibel (wir sind ja in einer deutschen Steuerbehörde) aufgezeichnet, welche Räume in welcher Runde man zu besuchen hat. Nicht, dass noch etwas durcheinander kommt.

Doch am Anfang erzählte uns Frank Genser im Wartebereich über die „heimlichen Helden“: Die Beamten in der Steuerbehörde, die treu gegen die Monotonie ihres Tagesablauf ankämpften. Ich halte es aber eher wie Schriftsteller Terry Pratchett, der in seinem Buch „Das Licht der Fantasie“ eine Figur folgendermaßen charakterisierte: „Er machte graue Durchschnittlichkeit zu einer erhabenen Kunst, und in seinem Bewusstsein herrschte die gleiche dunkle, gnadenlose Logik wie in einer Beamtenseele“.

Stichwort: Grau. Schauspieler und Mitglieder des Sprechchores trugen beinahe allesamt diese schöne unbunte Farbe.

Für mich begann der Zug durch die Büros bei Herrn Genser, der gekonnt die Möglichkeiten darbot, wie man sich die Zeit vertrieb, wenn man nichts zu arbeiten hatte. Gekonntes Kugelschreiber bewegen von rechts nach links und ein kleines Theaterstück mit Spielfiguren. Danach hatte ich gleich in zwei Räumen die Konfrontation mit dem negativen Auswirkungen der sich ständig wiederholenden Arbeiten. Depression bei den Damen vom Telefondienst und Marlena Keil präsentierte eine Mitarbeiterin mit persönlichen Problemen.

Hier noch ein kleiner Einschub: Innerhalb der Räume wechseln sich die Szenen auch noch ab, so dass kaum jemand den gleichen Abend erleben wird.

Eine besondere Rolle spielte Uwe Schmieder, alias Herr Krüger. In ziemlich mitgenommener Kleidung schlürfte er schon zu Beginn durch den Gang. In dem kleinsten grottenartigen Raum der „Büros“ konnten die Besucher erfahren, das er schon über 35 Jahre im Steuerbüro gearbeitet hat und nun in den Ruhestand geschickt wird. Sein Wellensittich im Einweckglas hat diese Zeit nicht überlebt. Tragisch-komisch dargestellt.

Neben „normalen“ Büros, gab es auch noch sehr besondere Räume: Im Garten wurde das Betriebsfest vorbereitet und die Zuschauer durften mit Hand anlegen. Käsewürfel zurecht machen, an einer Büroklammergirlande basteln oder Buchstaben ausschneiden. Der abgefahrenste Ort war sicherlich das Auto mit den Einschusslöchern der Borderline Prozession. Hier unterhielten Ekkehard Freye und Thorsten Bihegue die Besucher auf ihre spezielle Art.

Zum Abschluss des Tages der offenen Tür stieg dann noch das Betriebsfest, bei dem der altgediente Kollege Krüger verabschiedet wurde und der Alleinunterhalter Rene Carmen drei Lieder sang.

Julia Schubert schafft es, zusammen mit dem Ensemble und dem Sprechchor, ein warmherziges Stück auf die Bühne zu bringen. Ein liebevoller und humorvoller Blick auf Typen und Situationen von Menschen, die eben nicht 24 Stunden, sieben Tage die Woche kreativ arbeiten müssen, dafür aber nach 17 Uhr den Stift fallen lassen können. Welches Leben ist das bessere? Das muss jeder Besucher für sich selber entscheiden.

Wann ist wieder Tag der offenen Tür in der Finanzbehöre? Am 01. und am 27. November 2106 oder unter www.theaterdo.de nachschauen.