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Über die Farce eines Prozesses

Bettina Lieder (im Vordergrund) erzählte gegen Ende des Stück noch etwas über das Dortmudner Opfer Mehmet Kubasik. (Foto: Birgit Hupfeld)
Bettina Lieder (im Vordergrund) erzählte gegen Ende des Stück noch etwas über das Dortmunder Opfer Mehmet Kubaşık. (Foto: Birgit Hupfeld)

Welche Rolle spielte Beate Zschäpe bei der NSU? Nachdem sie vor Gericht jahrelang geschwiegen hatte, ließ sie vor einigen Tagen ihre Rechtsanwälte eine lange Erklärung vorlesen. Müsste die Premiere am 11. Dezember 2015 von „Das schweigende Mädchen“ nach dem Text von Elfriede Jelinek jetzt abgesagt werden, weil sie ja nicht mehr schweigt? Keine Sorge, etwas vorlesen zu lassen, ist noch nicht „sprechen“ und Jelinek hat frisch für die Premiere noch etwas Text hinzugefügt. So konnte die neue Zwischenspielstätte im ehemaligen BVB-Megastore gebührend eingeweiht werden.

Regisseur Michael Simon hat die über 300 Seiten der Vorlage selbstverständlich nicht 1:1 umgesetzt, sondern hat den Text sehr stark eingedampft, beziehungsweise sich auf den Anfang konzentriert. Positiv ist auch, dass Simon sich nicht auf das „schweigende Mädchen“, sprich Zschäpe, einschießt, denn diese Popularisierung hat sie nicht verdient. Im Mittelpunkt steht für Simon, die Beziehung der Deutschen zu der Mordserie, die ja durch die Bezeichnung „Dönermorde“ ins Lächerliche gezogen wurde. Darüber hinaus wurde sehr stark auf die Rolle des Verfassungsschutzes hingewiesen, der einerseits nichts wusste, aber andererseits mit Geld die militante Neonazi-Szene unterstützt.

Die Entscheidung, die erste Premiere in den neuen Räumen mit dem „schweigende Mädchen“ zu beginnen, ist eine sehr gute. Denn die Inszenierung nimmt den Raum, die große Halle, bewusst auf uns spielt optimal mit ihren Möglichkeiten. Zu Beginn sind die sechs Schauspieler an verschiedenen Orten und sprechen wie auf ein geheimes Kommando alle zugleich. Da sich der Text wiederholt, kann der Zuschauer verschiedenen „Engeln“ zuhören.

Im Raum ist ein zerstörtes Polizeiauto zu sehen, in Anlehnung an den Fall Kiesewetter, die die NSU ermordete, aber auch eine Silhouette des Wohnwagen, in dem sich Mundlos und Böhnhardt umgebracht haben. Auf einer Seite sind die Namen der Opfer samt Todesdatum eingetragen. Mitten im Stück wird von den Schauspielern auch das Bild „Die Kreuzigung Christi“ von Matthias Grünewald nachgestellt. Später dürfen die Zuschauer auch auf einer kleinen Tribüne Platz nehmen.

Das Stück hat den Charakter einer typischen Stückentwicklung, bei der verschiedene Texte zu einem Werk verschmelzen. Unter der Regie von Simon gibt es klar definierte Teile wie beispielsweise die grosteke Gerichtsverhandlung, bei der Uwe Schmieder den Richter gibt. Hier werden neue Texte benutzt, die Jelinek extra geschrieben hatte. Hier tauchen albtraumartige Geschöpfe auf, die den Richter quälen.

„Das schweigende Mädchen“ ist ein sehr emotionales Stück, weil Simon hauptsächlich auf die Rolle des Verfassungsschutzes und die Frage, wie die Mehrheitsgesellschaft mit den Taten umgegangen ist und noch umgeht. Nach all den Jahren bleibt immer noch Fassungslosigkeit über die Morde und deren Aufarbeitung samt jahrelangen Prozess. Es ist gut, dass Zschäpe nicht in den Mittelpunkt rückt.

Neben den Schauspielern Frank Genser, Marlena Keil, Bettina Lieder, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth spielte der Dortmunder Sprechchor eine beeindruckende Rolle in dem Stück. Wer die neue Örtlichkeit des Dortmunder Schauspiel kennenlernen möchte, kann die neuen Möglichkeiten in „Das schweigende Mädchen“ erleben.

Infos und Karten unter www.theaterdo.de

Familiäre Kernspaltung

Wer den Tod vor Augen hat wie Violet, kann auch mal Tacheles reden! (v.l.n.r.) Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Carlos Lobo, Bettina Lieder, Merle Wasmuth, Janine Kreß und Friederike Tiefenbacher. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Wer den Tod vor Augen hat wie Violet, kann auch mal Tacheles reden! (v.l.n.r.) Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Carlos Lobo, Bettina Lieder, Merle Wasmuth, Janine Kreß und Friederike Tiefenbacher. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Die Familie ist der Kern der Gesellschaft, so heißt es. Und wenn es zur Kernspaltung kommt, dann entsteht auch zerstörerische Energie, die wehtut und Narben hinterlässt. Wenn dann noch ein gut gehütetes Geheimnis wie eine Bombe in die Familie platzt, sind wir bei „Eine Familie“ von Tracy Letts in der Inszenierung von Sascha Hawemann. Ein Premierenbericht.

„Eine Familie“ ähnelt ein wenig dem Stück „Das Fest“, das von Kay Voges vor einigen Spielzeiten inszeniert wurde. In beiden Stücken geht es um den Zerfall einer Familie, wobei beim „Fest“ ein dunkles Geheimnis des Familienpatriarchen im Mittelpunkt stand, während bei der „Familie“ die Matriarchin und ihre Töchter ein bitteres Resümee ihres Lebens ziehen müssen.

Kurz zur Geschichte: Nachdem der alkoholkranke Beverly eine Pflegekraft für seine krebskranke und tablettensüchtige Frau Violet gefunden hat, verschwindet er. Violet ruft ihre Schwester sowie ihre drei Töchter zu sich, später kommt die Nachricht über Beverlys Selbstmord. Auf der Trauerfeier eskaliert die Situation.

Schmutzige Wäsche waschen ist ein viel zu harmloser Begriff, was in den mehr als drei Stunden auf der Bühne von Sascha Hawemann passiert, es ist eine knallharte Abrechnung der Matriarchin Violet (Friederike Tiefenbacher), die erkennt, dass ihr Matriarchin-Gen in ihren Töchtern nicht weiterlebt. Barbara (Merle Wasmuth) wird von ihrem Mann Bill (Carlos Lobo) verlassen und ihre 14-jährige Tochter Jean (Marlena Keil) entgleitet ihr. Karen (Bettina Lieder), der Typ Karrierefrau, hat mit ihrer neuen Eroberung zur Verwirklichung ihrer Kleinmädchenträume auch keinen Glückstreffer gelandet, denn Steve (Frank Genser) macht sich an Jean ran. Ivy (Julia Schubert) ist die tragische Gestalt des Stückes, denn die jüngste Tochter, die noch in der Nähe ihrer Mutter wohnt und von ihr nicht ernst genommen wird, erlebt bei ihrem Emanzipationsversuch – sie will mit ihrem Cousin Little Steve (Peer Oscar Musinowski) nach New York – eine persönliche Katastrophe. Dazu bekommt auch Violets Schwester Mattie Fae (Janine Kreß) mit ihrem Mann Charlie (Andreas Beck) ordentlich ihr Fett weg.

Jeder der Charaktere in dem Stück ist nicht ohne Fehler, und solche aufzudecken ist die Spezialität von Violet, die mit ihrem Mundhölenkrebs die „passende“ Krankheit hat, denn aus ihrem Mund kommen fast nur Gehässigkeiten.

Während die Elterngeneration noch Werte und Ideale der 68er Generation hochhält, nicht umsetzt erscheinen auf der Drehbühne Begriffe aus dem Gedicht „The hollow men“ von T.S. Eliot, in dem es um den moralischen Verfall der Gesellschaft geht, die letztlich daran zugrunde geht. Die Warnerin vor diesem Verfall ist Violet. Ihre Töchter sind alles Produkte einer narzisstischen Gesellschaft, die letztlich aber scheitern. Oft hält Violet ihren Töchtern das Alter vor. „Du kannst mit einer jüngeren Frau nicht mithalten“, wirft sie Barbara an den Kopf.

Hawemann nutzt in seiner Inszenierung exzessiv die Drehbühne und fordert von seinen Schauspielern höchsten Einsatz. Besonders beeindruckend war das Konterfei von Beverly (ebenfalls gespielt von Andreas Beck) während der Trauerfeier. Als schwebte sein Geist noch über der Familie.

Eine kleine, aber wichtige Rolle spielte Alexander Xell Dafov als unterstützende Pflegekraft Johnna, der auch noch live die Musik auf der Gitarre und dem Akkordeon spielte.

Ein monumentales Stück, das vor allem nach der Pause an Schwung und Dramatik gewinnt. Hier stehen nicht nur die Frauen im Mittelpunkt, sondern auch der Wertewandel von Generation zu Generation. Von einer Familie zu einer Gemeinschaft, mit der man nur zufällig genetisch miteinander verbunden sei, wie zu Ivy ihren Schwestern sagt. Nicht mehr von „Blut ist dicker als Wasser“. Hier werden Familienbande nicht nur gelöst, sondern auch radikal gekappt.

Auch die Frage „Was machen wir mit Mutter?“ steht im Raum. In Hawemanns Inszenierung bleibt letztendlich Barbara bei ihr, da sich ihr Familienglück komplett aufgelöst hat, während Ivy und Karen das Weite suchen.

Wetten, dass Ihnen das Lachen im Hals stecken bleibt

Bodo Aschenbach (Frank Genser) begrüßt den Kandidaten Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann). (Foto: © Birgit Hupfeld)
Bodo Aschenbach (Frank Genser) begrüßt den Kandidaten Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann). (Foto: © Birgit Hupfeld)

Ausgerechnet am Sonntag, den 23. August 2015 um 19:30 Uhr fand sie statt – die große Wiedergeburt der Samstagabendshow. Die Premiere der „Die Show“ (ja, englisch ausgesprochen!) zeigte, warum es sich lohnt ins Dortmunder Schauspiel zu gehen. Knapp drei Stunden witzige, gefühlvolle, musikalische, verrückte, technisch anspruchsvolle, zynische Unterhaltung. „Die Show“ ist einfach kultverdächtig.

Ok, 2.000 Bewerbungen, um als Kandidat in der nächsten Staffel der „Die Show“ mit zuspielen, wird das Theater Dortmund wohl nicht bekommen. Anders als das Vorbild „Die Millionenshow“ von Wolfgang Menge, die 1970 ausgestrahlt wurde. Dafür war die „Die Show“ doch ein bisschen zu deutlich als Mediensatire erkennbar.

Wie beim „Millionenspiel“ geht es bei der „Die Show“ darum, dass ein Kandidat mehrere Prüfungen zu überstehen hat, bis er eine Millionen Euro erhält. Dabei wird er von drei Leuten alias dem „Kommando“ verfolgt, die am sechsten Tag, der Live-Ausstrahlung der Sendung, sogar die Lizenz zum Töten haben. Lotz muss die ganze Zeit unbewaffnet bleiben.

Hinein also ins Schauspielhaus Dortmund, das sich für die „Die Show“ zum Fernsehstudio wandelt. Was gehört natürlich zu Beginn einer jeden Live-Show? Der Anheizer oder auch „Warm-Upper“ genannt. Carlos Lobo spielte ihn mit einer wahren Freude. Dabei halfen natürlich auch die Fußballergebnisse vom Nachmittag und mit dem BVB als Tabellenführer ging das Klatschen viel leichter.

Das Gewerke des Theaters hatten ganze Arbeit geleistet und zauberten eine beeindruckende Showtreppe im knallen Rot hin, während in der rechten Ecke die Sitzgelegenheiten und sehr aparte Tische (ein Hingucker!) für die Moderation und deren Gäste vorhanden war. Links war die Rezeption und darüber spielte die Band. Aber zur Musik kommen wir später.

Neben dem Kandidaten Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann) ist in einer Fernsehshow natürlich der Moderator das wichtigste Element. Es würde nicht verwundern, wenn für eine eventuelle Neuauflage von „Wetten, dass…“ Frank Genser ins Gespräch gebracht würde, denn seine Darstellung als Moderator Bodo Aschenbach war umwerfend. Ähnlich wie bei den großen Moderatorenvorbildern ist Aschenbach ein König der belanglosen Überleitungen, die von einer Sekunde zu anderen von einem tragischen Beitrag zu einem musikalischen Gast überleiten können. „Wer vor dem Fernseher sitzt, kann jedenfalls nicht gleichzeitig foltern“, kommentiert er eine Szene, in der Kandidat Lotz Schmerzen zugefügt werden. Kuschmann war als gepeinigter Gejagter ziemlich beeindruckend, vor allem gegen Ende, als er völlig verzweifelt war.

Aschenbach wurde Assistentin Ulla zur Seite gestellt, eine Mischung zwischen Sylvie van der Vaart und Michelle Hunzinger. Julia Schubert, mit roter Perücke und holländischem Akzent, spielte ebenfalls großartig. Immer zwischen geheuchelter Anteilnahme und trockenem Zynismus.

Im Mittelpunkt stand natürlich der Kandidat Bernhard Lotz. Dabei hatte Sebastian Kuschmann die meiste Arbeit bereits im Vorfeld hinter sich gebracht, denn die fünf Aufgaben, die Lotz in den Tagen davor absolviert hatte, wurden als Einspieler gezeigt. Erst gegen Ende der Show kam Lotz live auf die Bühne, um die letzte Aufgabe „Silver Bullet“ zu absolvieren, da er sich leider bewaffnet hatte, um gegen das „Kommando“ zu bestehen.

Zu einer Live-Show gehört auch Musik. Die stammt vom neuen musikalischen Leiter des Schauspielhauses, Tommy Finke, der mit seinen Mitstreitern nicht nur die Studioband „Tommy Love and the Smilers“ bildete, sondern auch die Musik für die Stargäste schrieb.

Zu den Stargästen gehörte die umjubelte „Baeby Bengg“, eine J-Pop-Sängerin im Mangastyle und die an Klaus Nomi erinnernde „Brit Bo“. Beide wurden von Eva Verena Müller gesungen. Ein großen Auftritt hatte auch Sebastian Graf als „Johannes Rust“, dem ehemalige DSDS-Sieger und jetzigen Musicalstar, der mit seinem Jesus-Musical Erfolg hat. Der kleine Seitenhieb geht an Alexander Klaws, der in Dortmund ja den Jesus in „Jesus Christ Superstar“ singt.
Bettina Lieder sang den Anastacia-Klon „Slyvia Saint-Nicolas“ ebenso gekonnt wie Julia Schubert einen Song der Assistentin Ulla. Zum Schluß brachte Schubert als Lotzes Freundin „Cindy“ auch eine schräge Sarah-Conner-mäßige Version der deutschen Nationalhymne.

Für diese Produktion haben sich alle im Schauspielhaus sehr ins Zeug gelegt. Das ganze Ensemble war zumindest in kleineren Rollen zu sehen. Köstlich war Ekkehard Freye als Dortmunder Oberbürgermeister, der vor dem Rathaus eine Rede zum Tod der BVB-Hoffnung „Ricardo Gomez de la Hoz“ hielt. De la Hoz (Peer Oscar Musinowski) war als Kollateralschaden vom „Kommando“ erschossen worden. Das Kommando bestand aus Andreas Beck, der den ehemaligen Hells-Angel Bruno Hübner spielte, Bettina Lieder als russische Killerin Natascha Linovskaya und Björn Gabriel, der den leicht irren Howie Bozinsky verkörperte. Sehr schräg war auch Uwe Schmieder als Elisabeth Lotz, die Mutter vom Kandidaten Bernhard.

Die „Die Show“ hat neben ihrer klaren Medienkritik an den Formaten wie „Dschungelcamp“, „Big Brother“ und andere auch eine aktuelle Komponente. Denn Flüchtlinge aus Syrien oder Afrika müssen auch mehrere „Prüfungen“ absolvieren, um letztendlich an ihr Ziel zu gelangen. „Endlich mal ein Flüchtling, zu dem man halten kann“ oder „Dem geht es doch nur ums Geld“ waren die (fiktiven) Zuschauerkommentare zur Situation von Lotz.
Aufs Korn genommen wurde auch die unsäglichen Charity-Aktionen von Prominenten und die deutsche Tierliebe. Als Lotz bei einem Spiel von Hunden gejagt wird und die Tiere verletzt, ist natürlich die Empörung groß. Wegen der Hunde, nicht wegen Lotz.
Kritiker der Sendung werden auch nicht einfach vom Saalschutz abgeführt. Das gibt es bei Moderator Aschenbach nicht, er lässt – wie damals Gottschalk – den Kritiker zu Wort kommen. Oder besser: er lullt ihn mit seinem Geschwafel ein, bis er geht.

Die drei Stunden vergingen fast wie im Flug. Das ist ein großes Verdienst aller Beteiligten und vor allem von Regisseur Kay Voges. Schließlich überzog „Wetten, dass“ auch regelmäßig. Um alle kleinen Feinheiten zu erkennen, sollte man öfter in die „die Show“ gehen. Es lohnt sich vor allem wegen den guten Schauspielern und der tollen Musik. Ein unterhaltsamer, aber auch nachdenklicher Abend. „Die Show“ hat die Messlatte für diese Saison schon ziemlich hoch gesetzt.

Die „Die Show“ ist wieder in Dortmund am 29. August, 13. und 30. September und 12. November 2015.

Am Ende lauert der Faschismus

Caroline Hanke als desillusionierte Elektra im ländlichen Exil. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Caroline Hanke als desillusionierte Elektra im ländlichen Exil. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Elektra gegen Klytaimnestra. Revolte gegen Ordnung. Alexander Kerlin schuf aus dem Familiendrama „Elektra“ von Euripides ein wortgewaltiges Gesellschaftsdrama. Was passiert, wenn sich der ewige Kampf zwischen Revolution und unbedingten Machterhalt abnutzt? Dann entsteht aus dem Chaos etwas viel schlimmeres: Der absolute Vernichtungswillen. Etwas, das skrupellos genug ist, ohne mit der Wimper zu zucken, 100 Millionen Menschen umzubringen. Ein Premierenbericht vom 07. Februar 2015.

Die Geschichte bleibt im wesentlichen die alte: Elektra, zwangsweise mit einem Bauern verheiratet, sinnt auf Rache an ihrer Mutter Klytaimnestra. Diese hat ihren Mann und Elektras Vater Agamemnon umgebracht und ihren Liebhaber Aighist zum König ernennen lassen. Die Hoffnung auf Rache wächst, als Elektras totgeglaubter Bruder Orest auftaucht, im Schlepptau seinen Freund Pylades. Endlich kann es zum Showdown kommen, doch am Ende spielt Pylades seinen letzten Trumpf aus.

Im ersten Teil von Kerlins Neubearbeitung treffen zwei Systeme aufeinander. Das Prinzip „Machterhalt“ mit dem Motto „In unserem erfolgreichen Staat, der gut ist und ohne Alternative“ gegen die Revolte. „Ich lehne deinen Staat ab, Seine Freiheit ist die größte Heuchelei“ schreit Elektra ihrer Mutter vor ihrer geplanten Hinrichtung zu. „Lieber das Nichts als dieses Leben“.

Doch in der großen „Beschimpfungsszene“ wird deutlich, wie sich Mutter und Tochter doch ähneln. „Unsere Mittel gleichen sich und wer am Ende Recht hat weiß der Geier“, so Klytaimnestra zu Elektra.

Orest klingt am Anfang ebenfalls revolutionär, dabei ein wenig naiv. Er will „mit seinem letzten blutigen Schlag den Kreislauf des Tötens durchbrechen“. Für ein goldene Zeitalter, das gerechtere Menschen und eine bessere Ordnung der Dinge schafft. Auf zum letzten Gefecht. Doch sein Ziel Aighist zu töten, schafft er nicht, denn „Aighist ist überall. Er ist nirgendwo. Überall und nirgendwo“, verzweifelt Orest, der statt des Kopfes des Königs einen Schweinskopf mitgebracht hat.

Nachdem Elektra Klytaimnestra ermordet hat, scheint die Revolution doch geglückt, oder? Es ist Pylades, der Freund von Orest, der das Ruder an sich reißt. Aus dem schweigsamen Pylades wird der totalitäre Pylades. Nachdem er einen Ledermantel anzieht, der gewisse Ähnlichkeit mit einem Gestapo-Mantel hat, beginnt er seinen Monolog. Der erinnert in Teilen an rechte Ökos, die „um die Erde zu retten“, auch einen Großteil der Menschen vernichten würde. So redet auch Pylades. „14 Milliarden Füße. Der Erdball schreit um Hilfe.“ dagegen hilft nur „Erstmal bringen wir testweise 100 Millionen Menschen um. Und das einzige, was uns dann noch hilft, ist noch mal 100 Millionen umzubringen. Und so weiter.“

Alexander Kerlin präsentiert uns einen Kampf der Systeme, der nach dem Motto endet „wenn zwei sich streiten freut sich der Dritte“. Ruhig und gelassen wartet Pylades auf seine Chance, die kommen wird, wenn sich beide Systeme erschöpft haben. Eine ähnliche Situation wie in den 30er Jahren in Deutschland.

Sehr stark in dem Stück waren die beiden Frauenrollen der Elektra und der Klytaimnestra. Caroline Hanke war nach ihrer Zeit im Mutterschutz wieder voll aktiv, wie man sofort zu beginn sah, als sie sich mit gymnastischen Übungen auf eine Art von Einsatz vorzubereiten schien. Friederike Tiefenbacher spielte eine Klytaimnestra als „Diva der herrschenden Klasse“. Elegant, aber auch festkrallend an der Macht war sie eine ebenbürtige Gegnerin von Elektra.

Peer Oscar Musinowski zeigte einen Orest, der an seiner Aufgabe Aighist zu töten scheitert. „Die Tragödie ist aus“, verzweifelt er. „Da ist kein Feind mehr, der eure Freiheit unterdrückt“. Musinowski bringt diesen Zwiespalt zwischen den energischen Orest zu Beginn und dem desillusionierten Orest gegen Ende des Stückes gut auf die Bühne.

Carlos Lobo hat eine sehr spannende Rolle, denn er spielt den Pylades. Der sagt erst einmal gar nichts und steht wie ein Unbeteiligter im Hintergrund. Erst am Ende, als sich die Kräfte der Revolte und des Beharrens erschöpft haben, kommt er zu seinem großen Auftritt.

Der Bauer/Henker wurde von Frank Genser dargestellt. Der Henker, der eigentlich Elektra töten sollte, bekommt sie zur Frau und wird Bauer. Aus einem Werkzeug der Mächtigen entwickelt der Charakter eine Art „Stockholm-Syndrom“ und stellt sich auf die Seite Elektras. Doch sein Henkerhandwerk scheint noch nicht vergessen, er dient sich Pylades an. „Wo echte Not herrscht, wird mein Handwerk noch geschätzt.“

Mit viel Humor spielten auch die Chormitglieder Bettina Lieder und Merle Wasmuth ihre Rollen. Der Chor, der das Volk symbolisiert stellte sich je nach Situation immer auf die Seite derjenigen, die gerade obenauf war.

Regisseur Paolo Magelli stellte in „Elektra“ die Schauspieler in den Mittelpunkt seiner Inszenierung. Das Bühnenbild war reduziert. Das Feld des Bauern wurde mit Schottersteinen dargestellt, um die Kargheit des Bodens zu symbolisieren. Einfache Tische und Stühle.

Daneben gab es Videoeinblendungen mit Klytaimnestra und Elektra und Orest als Kindern. In dieser Art Rückblende versucht die Mutter ihren Kindern die „wahre“ Geschichte von Helena, Paris und Agamemnon zu erzählen. Ihre Kinder schreien aber „Du lügst, du lügst!“

Die Musik kam von einer Liveband mit dem musikalischen Leiter des Schauspiels Paul Wallfisch sowie Geoffrey Burton und Larry Mullins. Ihre Musik war avantgardistisch, manchmal laut, aber nicht schrill und passte sich dem Geschehen auf der Bühne an.

Elektra wurde entscheidend gegen den Strich gebürstet und mit vielen Anspielungen aus der Jetztzeit versehen. Das ist ein Verdienst der Textbearbeitung von Alexander Kerlin. Ein sehenswertes Stück.

Im Fegefeuer der Eitelkeiten

Der Moment der Wahrheit, als Johan erzählt, er habe eine Geliebte.  Friederike Tiefenbacher Carlos Lobo Bettina Lieder Uwe Schmieder Julia Schubert Frank Genser Merle Wasmuth. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Der Moment der Wahrheit, als Johan erzählt, er habe eine Geliebte. Friederike Tiefenbacher, Carlos Lobo, Bettina Lieder, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Frank Genser und Merle Wasmuth. (Foto: © Birgit Hupfeld)

„Love is a Battlefield“, sang Pat Benatar im Jahre 1983. Und in dieses Schlachtfeld geraten Johan und Marianne nach zehn Jahren Ehe. Urplötzlich und heftig. Claudia Bauer nahm sich „Szenen einer Ehe“ von Ingmar Bergman vor und verwandelte den Film in eine besondere Bühnenfassung mit multiplen Johanns und Mariannes. Ein Premierenbericht.

Johann und Marianne führen seit zehn Jahren eine mustergültige Ehe. Sie haben zwei Kinder, Erfolg im Beruf und sind der Ansicht, dass sie ihre Konflikte offen besprechen können. Doch plötzlich erklärt Johann, dass er sich in ein junge Frau namens Paula verliebt habe und verlässt sie. Für Marianne bricht eine Welt zusammen, doch nach einiger Zeit lernt sie, mit den Geschehnissen umzugehen. Dennoch bricht die aufgestaute Aggression am Ende durch.

Stecken in einem Menschen nicht mehr als eine Persönlichkeit? Mal muss man die devote oder die freundliche Gesicht zeigen. Manchmal präsentiert man auch hässliche Fratze. Aber man muss funktionieren, ob im Beruf oder in der Familie. Regisseurin Claudia Bauer lässt Marianne und Johan in vier Paare aufspalten, die völlig unterschiedlich mit der Katastrophe der Trennung umgehen (müssen). Vom Flehentlichen „Bitte bleib doch“, bis hin zum Wütend werden, all das zeigen die unterschiedlichen Mariannes in der Szene als Johan zu Paula geht.

Wie konnten Johan und Marianne es nur zehn Jahre aushalten und zwei Kinder bekommen? Durch Verstellung und durch Verleugnung der eigenen Wünsche. Besonders schön zu sehen in der ersten Szene: Katarina und Peter zwei Freunde von Johann und Marianne kommen zu Besuch. Alle tragen Masken, um ihre wahren Gefühle nicht gegenüber ihren Freunden zu zeigen. Die „wilde“ Art mit der Katarina und Peter ihre Ehe und Streitigkeiten austragen, irritiert Marianne und Joahnn.

Dass die unterdrückten Aggressionen bei Marianne und Johann brodeln, wurde in der nächsten Szene deutlich. Ihre Versuche aus dem täglichem Einerlei auszubrechen, sind zum Scheitern verurteilt. Brav bleiben sie hinter Schafsmasken versteckt, aber wollen den jeweiligen Partner mit dem Telefon eins überbraten.

Besonders komisch wurde es vor allem in der Szene. Als Johan, in dem Fall Carlos Lobo, bei einem Wiedersehen ein paar Jahren nach der Trennung erkennt, dass seine inzwischen starke Ex diese anscheinend besser verarbeitet hat als er selber. Der „weinerliche Johan“ lässt sich von allen Seiten trösten und klagt sein Leid über die „anstrengende“ Geliebte Paula.

Das ganze Stück hindurch wird auch musikalisch mit einem Soundtrack begleitet. Vom positiven „(You make me feel) Mighty Real“ von Jimmy Somerville zu Beginn über das verzweifelte „Jolene“ von Dolly Parton als Johan Marianne verlässt bis hin zum „Love Hurts“ von Roy Orbinson am Ende werden die Emotionen musikalisch verarbeitet. Teilweise singen die Schauspieler auch live.

Am Ende haben die beiden wieder ein gemeinsames Verhältnis gefunden. Als gute Freunde, die heimlich im Landhaus ihrer Leidenschaft frönen können, ohne gesellschaftliche Verpflichtungen oder irgendwelche Rollens spielen zu müssen.

Respekt an alle Schauspielerinnen und Schauspieler, die vier Mariannes und Johans gespielt haben. Dabei waren Frank Genser, Sebastian Kuschmann, Bettina Lieder, Carlos Lobo, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth.

Ein oft grotesk-komisches und sehr direktes Schauspiel.

Abtauchen in einen Sommernachtstraum

Das erste Konzert „Wiener Klassik“ am 29.September im Konzerthaus brachte mehrere Sparten zusammen: Schauspiel, Oper und natürlich die Dortmunder Philharmoniker unter der Leitung von Generalmusikdirektor Gabriel Feltz. Darüber hinaus war das Konzerthaus mit dem Sinfonischen Frauenchor der Chorakademie vertreten.

Doch zuvor stand Schuberts dritte Sinfonie in D-Dur auf dem Programm. Geschrieben 1815, ist sie in ihrer Gesamtheit erst 1881 uraufgeführt worden. Das relativ kurze (25 Minuten) Stück versprüht eine fröhliche Stimmung und wurde von Feltz und seinen Musikern entsprechend dynamisch aufgeführt. Das wurde vor allem im vierten Satz deutlich, als Feltz und die Musiker die Zuhörer zur schwungvollen Tarantella bat.

Nach der Pause wurde es voll auf der Bühne. Chor, zwei Solisten, zwei Erzähler und die Dortmunder Philharmoniker präsentierten „Ein Sommernachtstraum“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Die Geschichte um Puck, Oberon, Titiana, Zettel und weiteren Akteuren aus dem Elfen- und Menschenreich von William Shakespeare ist ein Klassiker. Die Musik von Mendelssohn-Bartholdy ebenfalls, wer kennt den berühmten Hochzeitsmarsch nicht.

Friederike Tiefenbacher und Frank Genser vom Dortmunder Schauspielensemble übernahmen die Sprechrollen, während Ileana Mateescu (Mezzosporan) und Talia Or (Sopran) die Solostimmen sangen, unterstützt vom Sinfonischen Frauenchor. Gabriel Feltz ließ es sich nicht nehmen, die Rolle des Erzählers zu übernehmen. Dennoch hätte dem Stück vielleicht ein weiterer Schauspieler gut getan, so wechselte die Rolle von Puck zwischen Genser und Teifenbacher. Gut, letztendlich sind wir nicht beim Schauspiel. Der Chor und die Solistinnen fügten sich dem musikalischen Rahmen wunderbar ein.

Das 1. Wiener Klassik Konzert hat schon ein deutliches positives Signal gesetzt, aber auch schon die Messlatte recht hoch gelegt. Auf die weiteren Konzerte der Wiener Klassik freue ich mich schon.

Hamlet-Konzentrat mit Überwachungskameras

Gertrud, die Königin, Hamlets Mutter, nun Frau des Claudius: Friederike Tiefenbacher Claudius, König von Dänemark: Carlos Lobo Laertes, Polonius' Sohn: Christoph Jöde. (Foto: © Edi Szekely)
Gertrud, die Königin, Hamlets Mutter, nun Frau des Claudius: Friederike Tiefenbacher
Claudius, König von Dänemark: Carlos Lobo
Laertes, Polonius‘ Sohn: Christoph Jöde. (Foto: © Edi Szekely)

Am Ende von „Hamlet“ stand ein typischer Voges-Gag. Frank Genser und Uwe Schmieder, seit Beckets Lum und Purl ein kongeniales Duo, standen als Wum und Wendelin auf der Bühne und riefen ständig „Wir machen jetzt politisches Theater“, während die Zuschauer ermuntert wurden Tweets zu senden, bis sich der Saal leerte. Wie heißt es so schön, wenn sie nicht gestorben sind, dann rufen sie noch heute. Nur Schade für die Schauspieler, sie erhielten nicht ihren verdienten Applaus und Regisseur Kay Voges nicht die Reaktion der Zuschauer auf seine Inszenierung.

Hamlet. Ein Klassiker. Nicht totzukriegen. Kay Voges sah in dem Stoff von Shakespeare Hamlet nicht als Zauderer, sondern als Überwachten. Diese Interpretation gibt es Stoff mühelos her. Polonius lauscht ständig hinter irgendwelchen Vorhängen und Rosencrantz und Guildenstern werden als Spione auf Hamlet angesetzt.

Voges modernisiert das Stück und bringt es in die Gegenwart. Gleich zu beginn wird das Grundgesetz (repräsentiert vom alten König Hamlet) mit der Begründung „Kampf dem Terror“ quasi ermordet. Danach entwickelt sich eine Tragödie mit Überwachung, Schaffung eines Übermenschen und vielen Toten. Nichts für Freunde von werkgetreuen Inszenierungen, denn neben Shakespeares Text gibt es zeitgenössisches Material zum Thema Überwachung und Leben in der Moderne.

Fünf Video-Kameras und eine Kinect-Kamera sorgen für ein riesiges Überwachungsbild. Mittels Videobearbeitung können wir Bilder aus jedem Raum des Königsschlosses sehen. Voges schafft aus dem Stoff „Hamlet“ eine Überwachungs-Exegese, die mit Elementen aus populären Fernsehsendungen wie etwa „Big Brother“ spielt. War bei „Das Fest“ noch für den Zuschauer deutlicher zu sehen, wie der Film im Hintergrund live entstand, ist bei „Hamlet“ diese Transparenz verloren gegangen. Der „Container“, indem die eigentliche Handlung stattfindet, ist für den Theaterzuschauer nicht einsehbar. Intransparenz in einer Geschichte über die allgegenwärtige Transparenz von Daten und Vorgängen. Wir agieren wie jemand, der diverse Monitore in einer U-Bahn-Station oder in einem Kaufhaus überwacht. Überall scheint etwas zu passieren.

„Hamlet“ als Überwachungsdrama zu inszenieren ist so verkehrt nicht, das Konzept ist schlüssig. Doch Berater Polonius als eine Art Dr. Frankenstein in Szene zu setzen, der an einer perfekten Symbiose von Mensch und Maschine bastelt (der alte König Lear wird in den transhumanen Fortinbras verwandelt), ist meiner Meinung nach ein wenig überdreht.

Technisch ist der „Hamlet“ auf einer hohen Stufe angelangt. Video, Sound und Musik verschmelzen zu einer Symbiose und zusammen mit den Schauspielern entwickelt sich eine Form von Zwitter zwischen Film und Schauspiel. Doch man kann auch bemängeln, dass die Schauspieler von der Technik in den Hintergrund gespielt werden. Schön zu sehen, wenn Hamlet (Eva Verena Müller) oder Laertes (Christoph Jöde) nach vorne auf die Bühne kommen. Sie wirken unter der Riesenleinwand ein wenig klein und unbedeutend.

Die Hauptrolle hatte Eva Verena Müller inne. Im Batman-Kostüm, mit blonder Perücke und Nerdbrille spielte sie einen „Hamlet“, der vielleicht gerne ein Superheld sein möchte, aber viel zu zögerlich ist und letztendlich an seiner Aufgabe – der Rache an seinen Vater – scheitert. Bettina Lieder spielte eine zarte zerbrechliche Ophelia, im Ballettkleid, die ein wenig hilflos durch die Handlung irrt. Publikumsliebling Christoph Jöde spielte den Laertes in Uniform. Bestimmt entschlossen. Zu tun, was zu tun ist. Letztendlich als Gegenteil von Hamlet. Beide gehen in einem Showdown oder besser „Shootdown“ unter. Carlos Lobo als König Claudius hatte ein wenig Ähnlichkeit mit Graf Orloc aus „Nosferatu. Er spielte ihn als reinen Machtmenschen. Frederike Tiefenbacher spielte die Mutter Hamlets ebenfalls nur eine Nebenrolle. Michael Witte gab einen Polonius in der Variante „verrückter Wissenschaftler“, während Sebastian Kuschmann die merkwürdigste Rolle hatte: Er spielte nicht nur den alten König, sondern auch den als künftigen Übermenschen angelegten Fortinbras.

Für Shakespeare-Puristen ist dieser Hamlet mit Sicherheit nicht gedacht. Die Bücher können also getrost zu Hause gelassen werden. Wer sich auf ein Konzentrat einlässt, in der die Technik eine wesentliche Rolle spielt, sollte den Versuch wagen und sich Voges‘ Inszenierung anschauen. Nicht zögern wie Hamlet, es braucht schon etwas Mut.

 weitere Termine sind: SO, 21. SEPTEMBER 2014, MI, 01. OKTOBER 2014. FR, 14. NOVEMBER 2014, FR, 12. DEZEMBER 2014, SA, 27. DEZEMBER 2014, DO, 08. JANUAR 2015, SA, 14. FEBRUAR 2015, MI, 04. MÄRZ 2015, SO, 12. APRIL 2015 und DO, 21. MAI 2015

Karten und Infos unter 0231 50 27 222 oder www.theaterdo.de

Turbulenter Wahnsinn im Schauspielhaus

Im Laufe der Tournee liegen bei den Beteiligten doch die Nerven blank: (v..l.n.r.) Merle Wasmuth, Frank Genser, Andreas Beck und Sebastian Graf. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Im Laufe der Tournee liegen bei den Beteiligten doch die Nerven blank: (v..l.n.r.) Merle Wasmuth, Frank Genser, Andreas Beck und Sebastian Graf. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Nach „Arsen und Spitzenhäubchen“ hatte am Samstag, den 5. April 2014 der „Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn als zweiter Komödien-Spaß unter der Regie des Duos Peter Jordan und Leonhard Koppelmann seine Premiere auf die Bühne des Dortmunder Schauspielhauses.

Diese absurd-turbulente britische Komödie hat es wirklich in sich.

 

In dieser abgefahrenen Geschichte rund um das Theater versucht der verzweifelte Regisseur Lloyd Dallas mit seinem Assistenten Poppy Norton-Taylor und dem Inspizienten Tim Allgood kurz vor Mitternacht die am nächsten Tag anstehende Premiere des Stückes „Nackte Tatsachen“ zu retten.

Doch das Chaos hinter der Bühne groß, sondern auch Backstage wüten Eifersucht, Neid und Geltungsdrang. Das Problem ist, alle müssen irgendwie zusammenhalten, denn es steht, wie in England üblich, eine zehnwöchige Tournee an…

 

Ein Stück über Schauspieler, die ein Stück proben, klingt eigentlich mehr nach Insider-Gags. Doch „Der nackte Wahnsinn“ bot als Komödie alle Zutaten, was der Zuschauer an einer Komödie schätzt: Wenn irgendwo eine Tür zugeht, geht woanders eine Tür auf. Belanglose Requisiten wie beispielsweise Sardinen spielen plötzlich eine große Rolle und Schauspieler wechseln urplötzlich ihre Rollen. Schließlich durfte auch eine gewisse Portion Slapstick nicht fehlen.

Dabei zeigte das Dortmunder Ensemble erneut, welch gute Chemie zwischen den Schauspielern herrscht. Denn eine solche Komödie braucht Esprit, sonst funktioniert sie nicht und verkommt zur Nummernrevue.

 

Andreas Beck spielte mit sichtlichem Vergnügen den Regisseur mit langem Pferdeschwanz, mal väterlich mild verständnisvoll, dann wieder bestimmend („wenn Gottvater spricht“ ) und aufbrausend und laut, wenn die Jungschauspielerin Brooke Ashton mal wieder nichts versteht. Peer Oscar Musinowski als Regieassistent Poppy Norton-Taylor steht ihm als etwas „tuntig“ mit blonder Popper-Haarperücke treu zur Seite. Musinowski konnte hier, wie zum Beispiel schon in „Drama Queens“ bewiesen, sein komisches Talent wieder voll ausleben. Sebastian Graf spielt den Inspizienten und Bühnenmeister Tim Allgood, der als „Mädchen für alles“ fungiert. Klemmen Türen muss Tim ran, braucht das Ensemble noch Einbrecherkostüme, muss er sich trotz Schlafdefizit („Tim war 48 Stunden auf den Beinen“) ebenfalls drum kümmern.

 

Regisseur Peter Jordan hatte die Schauspielriege sehr gut besetzt. Fast möchte man niemanden herausheben, doch sehr gut war Friederike Tiefenbacher, die die leicht schusselige „Dotty Otley“ spielte. Dotty hatte darüber hinaus Geld in die Produktion gesteckt und sah im Laufe des Stückes ihre Altersvorsorge davonschwimmen. Auch Merle Wasmuth brillierte mit ihrer Darstellung der äußerst naiven Jung-Schauspielerin „Brooke Ashton“, die leider öfters ihre Kontaktlinsen verlor. Doch auch Frank Genser, Ekkehard Freye, Eva Verena Müller und Uwe Schmieder waren bei der Premiere gut aufgelegt.

 

Die beiden Regisseure Jordan und Koppelmann haben sich beim Bühnenbild nicht lumpen lassen und nutzten den Vorteil, den eine Drehbühne sich bietet. Im ersten Teil sah das Publikum ein ganz normales Bühnenbild, den Eingangsbereich eines typischen englischen Herrenhauses. Denn es war Generalprobe.Im zweiten Teil wechselt die Perspektive. Dann sehen wir das Bühnenbild von hinten. Und es wird deutlich: Aus dem Zusammenhalt am Anfang ist Neid, Missgunst und Eifersucht geworden. Im dritten Teil ist das Chaos dann perfekt. Zu sehen ist wieder das Bühnenbild vom Beginn, nur hat es durch die lange Reise und die vielen Aufführungen ordentlich was abbekommen. Die Treppe zum ersten Stock besteht nur noch zur Hälfte aus dem Original, manche Türen sind verschwunden. Der pompöse Elchkopf verliert auch noch sein Geweih.

 

Die Aufführung war ein augenzwinkernder Blick hinter die Kulissen des Theaters mit viel Spaß und Selbstironie der beteiligten Schauspieler/innen am Spiel.Sie verlangte den beteiligten Schauspieler/innen in den drei Stunden sowohl physisch als auch vom genauen Timing alles ab.

 

Kurz gesagt: Bei „Der nackte Wahnsinn“ ist der Titel Programm. Und ehrlich gesagt: Das ist auch gut so!

 

Weitere Vorstellungen: 9., 19., 25., 27. April und 8. Mai. Infos und Karten gibt es unter www.theaterdo.de oder 0231 5027222.

Dunkle Seiten im Märchen

Die Gebrüder Grimm (Ekkehard Freye und Sebastian Kuschmann) legen Hand bzw. die Schere an das Märchen von "Rotkäppchen und dem bösen Wolf". Der Wolf wird von Uwe Schmieder gespielt.
Die Gebrüder Grimm (Ekkehard Freye und Sebastian Kuschmann) legen Hand bzw. die Schere an das Märchen von „Rotkäppchen und dem bösen Wolf“. Der Wolf wird von Uwe Schmieder gespielt. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Drehbühne, Live-Musik und Video: Die drei Erfolgszutaten von „Meister und Margarita“ spielten auch beim Stück „Republik der Wölfe“, das am 15. Februar 2014 Premiere feierte, eine zentrale Rolle. Claudia Bauer interpretierte die bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm in ihrer eigentlich rohen und sexualisierten Art und kombinierte sie mit Texten von Anne Sexton. Absolut nichts für Kinder. Ein Premierenbericht.

 

In dieser Spielzeit sind die Gebrüder Grimm und ihre Märchen im Theater Dortmund ja hoch im Kurs. Das Kinder- und Jugendtheater zeigte am 16. Februar zum letzten Mal „Grimm spielen“, die Oper präsentiert ab dem 22. März „Aschenputtel“ von Rossini und das Schauspiel eben „Die Republik der Wölfe“.

 

Acht Märchen von „Schneewittchen“ bis „Dornröschen“ werden nicht durch den Kakao gezogen, sondern in die heutige Zeit transportiert. Sie sind zu „urban legends“ geworden, denn der wahren Schrecken findet heute nicht mehr im finsteren Wald statt, sondern in der Stadt, im Großstadtdschungel.

 

Den Beginn machte „Schneewittchen“. Friederike Tiefenbacher spielte die „böse Königin“, die vom Hofstaat umschwärmt wird. Sie ahnt aber, dass es mit ihrer Schönheit bald vorbei sein wird, und das 13-jährige Schneewittchen (Eva Verena Müller) an ihre Stelle tritt. Schneewittchen flieht zu den sieben Zwergen (Mitglieder des Dortmunder Sprechchors), nimmt aber auch den vergifteten Apfel der Königin an und fällt in einen Tiefschlaf. Am Ende der „Republik der Wölfe“ vermischt sich „Schneewittchen“ mit „Dornröschen“.

 

Nach einer kleinen Drehung ging es weiter mit dem Märchen. „Hänsel und Gretel“ wurde vermischt mit dem Märchen „Der süsse Brei“. Frank Genser rezitierte nach einem Schaumkuss-Massaker einige Zeilen aus dem Märchen. Claudia Bauer stellte in ihrer Sichtweise von „Hänsel und Gretel“ den Aspekt der „zu stopfenden Münder“ in den Vordergrund. Die Mutter (Julia Schubert) schickt zwei ihrer Kinder weg, weil sie „total unproduktiv sind und nichts zur Gesellschaft beitragen“. Daher müssen die beiden (Peer Oscar Musinowski und Carloline Hanke) in den Wald.

 

Sehr beeindruckend war auch die Interpretation von „Rumpelstilzchen“. Ekkehard Freyer spielte einen Müller, der eine Aufstiegsmöglichkeit sucht und seine Tochter (Bettina Lieder) als das „Nonplusultra“ anpreist. Wie es heutzutage Eltern gerne tun, die ihre Kinder als „Wunderkinder“ anpreisen. Das Stroh zu Gold spinnen kann sie natürlich nur mit Hilfe von Rumpelstilzchen (Uwe Schmieder). Erst nachdem sie seinen Namen sagt, wird sie ihn los. Hier brilliert Uwe Genser als König, der nur an dem Gold interessiert ist.

 

Einen sehr stark sexualisierten Aspekt hatte der „Froschkönig“. Hier wird er nicht an die Wand geworfen und mutiert auch nicht zum Prinzen, sondern wird nach der Vergewaltigung der Königstochter (Friederike Tiefenbacher) von ihr ermordet.

 

Den aktuellen „Supermodel“-Hype nahm Bauer beim „Aschenputtel“ auf das Korn. Die Stiefschwestern (Bettina Lieder und Julia Schubert) nahmen sogar Verstümmelungen in Kauf, um dem blasierten reichen König (Oscar Musinowski) zu gefallen. Letztendlich entscheidet er sich doch für Aschenputtel (Caroline Hanke).

 

Rotkäppchen ist in „Republik der Wölfe“ sehr nahe an der ursprünglichen Fassung des Märchens. Denn Charles Perraults Fassung sollte jungen Mädchen vor Sittenstrolchen warnen. In seiner Fassung wird auch das Rotkäppchen nicht befreit. Die Brüder Grimm (Sebastian Kuschmann und Ekkehard Freye) kämpfen um das „Märchen-Ende“. Letztendlich wird Rotkäppchen mit der Schere aus dem Bauch des Wolfes geschnitten. Der Wolf (Uwe Schmieder) ist hier kein Tier, sondern ein skrupelloser (Serien-)Mörder.

 

Beeindruckend war an diesem Abend die Bühne. Doppelstöckig drehte sie sich und bot die Möglichkeit, die Märchen ohne Unterbrechung hintereinander weg zu spielen. Sie gingen quasi ineinander über. Neben der Aktion auf der Bühne gab es Live-Videos, die vom Sohn des Schauspieldirektor Jan Voges aufgenommen wurden. Zu sehen waren sie auf der linken Seite der Bühne.

 

Neben den Schauspielern, die eine engagierte Leistung boten, war auch der Dortmunder Sprechchor zu sehen: Bei „Schneewittchen“ spielten sie die sieben Zwerge und bei „Die 12 tanzenden Prinzessinnen“ durften die Damen passenderweise im Prinzessinnen-Kostüm auf die Drehbühne.

 

Eine wichtige Rolle spielte die Musik. Paul Wallfisch, Alexander Hacke, Mick Harvey und Danielle de Picciotto standen auf der rechten Seite als „Ministry of Wolves“ auf der Mühne. Verkleidet waren sie als Art Geistliche mit Beffchen dazu eine Wolfsmaske. Eine kleine Doppeldeutigkeit, denn ministry kann „Ministerium“ oder aber „geistliches Amt“ bedeuten.

 

Ihre Musik war nicht nur Soundtrack, sondern mehr mit den Märchen verwoben. Musikalisch eine Mischung zwischen „Botanica“ (Wallfisch) und Einstürzende Neubauten (Hacke). Bei der Premiere gab es noch einige Abstimmungsprobleme mit dem Ton, so dass sich manchmal Schauspieler gegen die Musik nicht durchsetzen konnte (beispielsweise die Mutter von „Hänsel und Gretel“).

 

Ein gelungener Abend, an dem alles passte: Schauspieler, Dortmunder Sprechchor, Musik, Bühne, Regie. Wer seine Kindheitsmärchen gerne mal sehen möchte, wie sie „gegen den Strich“ gebürstet und in die heutige Zeit transponiert werden, sollte sich unbedingt eine Karte für die kommenden Aufführungen besorgen.

 

Für die weiteren Termine gibt es noch Karten: 05., 06., 07., 08.,09. März sowie 11., 12., 13. April und 09., 10. und 11. Mai 2014. Weitere Infos: www.theaterdo.de

Kampf um Bewahrung der Menschlichkeit

Kurzer Moment der Glückseligkeit. Die junge Nawal (Friederike Tiefenbacher) und Wahab (Peer Oscar Musinowski). (Foto: © Birgit Hupfeld)
Kurzer Moment der Glückseligkeit. Die junge Nawal (Friederike Tiefenbacher) und Wahab (Peer Oscar Musinowski). (Foto: © Birgit Hupfeld)

Am 30. November 2013 war Premiere für „Verbrennungen“, nach dem Thriller des im Libanon aufgewachsenen kanadischen Autoren Wajdi Mouawad. Das Buch wurde 2010 unter dem Titel „Die Frau die singt“ verfilmt.Die niederländische Regisseurin Liesbeth Coltof unterstützt schon seit vielen Jahren junge Schauspieler/innen im Gaza-Gebiet und hat dort auch schon verschieden Inszenierungen aufgeführt.Diese besondere Beziehung zum Nahen Osten merkt man auch in ihrer sensiblen Inszenierung von „Verbrennungen“. Kampf um Bewahrung der Menschlichkeit weiterlesen