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Konstellationen – Was wäre, wenn – unendliche Varianten einer Beziehung

Am Freitag, den 31.01.2020 feierte im Studio des Dortmunder Schauspiels „Konstellationen“ von Nick Payne unter der Regie von Péter Sanyó seine Premiere.

In dem Stück für zwei Personen geht es um die Beziehungsgeschichte zwischen der Quantenphysikerin Marianne (Gastschauspielerin Louisa Stroux) und dem Imker Roland (Frank Genser) mit seinem rational-kausalem Blick eines Biologen auf das Leben.

Diese Geschichte wird in all ihren Stadien, vom Kennenlernen bis zu den unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten, immer wieder gestoppt und wie bei einer Reset-Taste wiederholt. Allerdings mit leichten Veränderungen. Die unterschiedlichsten Möglichkeiten von Konstellationen in einer multiversalen Welt, macht den Reiz des Stoffes aus. So gibt es verschiedene Varianten des Kennenlernens: Mal kommen sie zueinander, mal nicht. In einer Variante betrügt Roland Marianne, in einer anderen Marianne Roland. Es gibt in diesem Wechsel zwischen den Paralleluniversen die unterschiedlichsten alternativen Schicksale für das Paar.

Gibt es eine ideale Variante in den unzähligen Möglichkeiten für Marianne (Louisa Stroux) und Roland (Frank Genser)? (Foto: © Birgit Hupfeld)
Gibt es eine ideale Variante in den unzähligen Möglichkeiten für Marianne (Louisa Stroux) und Roland (Frank Genser)? (Foto: © Birgit Hupfeld)

Zur Umsetzung war eine ganz besondere Art der Dramaturgie notwendig. Auf der Bühne standenzwei Schallplattenspieler plus Mixtapes, die das Geschehen von Beginn an atmosphärisch begleiteten und gezielt auch von den beiden Schauspielern eingesetzt wurden. Verantwortlich für die Komposition war Patrick Christensen alias „PC Nackt“.

Außerdem waren auf der Bühne mehrere längliche Leuchtröhren angebracht.

Auf der Bühne war eine große runde Scheibe angebracht, die sich leicht schräg nach unten neigte. Sie wirkte wie ein riesiges Präparat unter einem Mikroskop oder einer Lupe (Brennglas), unter dem Zellgruppen zu sehen waren. Dort zeigte die so auf ihre Individualität und auf Kontrolle bedachte Marianne ihre unsichere Seite und Angst vor ihrer Krankheit. Das Stück spielt mit dem Gegensatz zwischen Individualität und dem sozialen „Schwarm“.

Louisa Stroux und Frank Genser überzeugten mit Spielfreude. Die große Herausforderung, sich immer wieder auf neue emotionale Grundsituationen und Stimmungen einzustellen und zu vermitteln, gelang ihnen mit einer Leichtigkeit.

Die Vorstellung eines Multiversums, wo jede Möglichkeit, Entscheidung und jeder irgendwie denkbare Verlauf des Lebens gleichzeitig existiert, ist schon spannend und interessant. Gibt es aber eine ideale Konstellation? Diese Frage ist nicht allgemeingültig zu beantworten. Es bleibt wohl nur, sein Leben bewusst zu leben und das Wichtige in seiner momentanen realen Existenz zu erkennen.

Die nächsten Vorstellungstermine sind am 09.02.2020 um 18:00 Uhr und am 21.02.2020 um 20:00 Uhr.

Weiter Informationen erhalten Sie wie immer unter www.theaterdo.de oder Tel.. 0231/ 50-27222.

Schimmelpfennigs „Das Reich der Tiere“ mit persönlicher Brisanz

Mit der Premiere von „Das Reich der Tiere“ (Roland Schimmelpfennig, * 1967 Göttingen) unter der Regie von Thosten Bihegue startete das Schauspiel Dortmund am 05.10.2019 in die neue Spielzeit 2019/20. Um es vorweg zu nehmen. Ja, die bissig-ironische Komödie „Das Reich der Tiere“ bekam natürlich durch den anstehenden Wechsel der Intendanz im Schauspiel ab der nächsten Spielzeit auch eine persönliche Note.

Das Schauspielmilieu mit seinen besonderen Gesetzen und Unsicherheiten für die Ensemble- Mitgliedern steht ja im Mittelpunkt dieser Parabel. Enthalten ist zudem eine viel weitergehende gesellschaftliche Kritik und Offenlegung der Mechanismen des kapitalistischen Systems.

Im Stück führen sechs Schauspielerinnen und Schauspieler seit sechs Jahren ein Tier-Musical auf.

Als Löwe (Christian Freund), Zebra (Ekkehard Freye), Ginsterkatze (Marlena Keil), Marabu (Frank Genser), Schildkröte (Bettina Lieder) und elegante Antilope (Alexandra Sinelnikova) erzählen sie vom Reich der Tiere. Hier regiert zunächst das Zebra, bis ihm der Löwe den Platz als Herrscher streitig macht. Beide müssen sich in brenzliger Situation vor einem Brannd und gegen das gefährliche Krokodil helfen und zusammenhalten. Aber hält der Friede lange an?

Nun soll das Stück abgesetzt werden, etwas Neues soll her. Die Unsicherheit, Neid und Missgunst, Vermutungen, eigene Träume und ganz persönliche Ängste machen sich unter den SchauspielerInnen breit. Jeder versucht, seine Chancen auszuloten und kämpft für sich. Bitter dabei ist, alle sind durch ihre langjährige Tierrolle zu namenlosen Darstellern degradiert, und keiner kennt sie wirklich als Person.

Solidarität oder Alle gegen Alle. Und die Frage: Lässt sich das Darstellerprekariat auf jeden Job ein? "Das Reich der Tiere" mit u.a.  Christian Freund, Alexandra Sinelnikova, Marlena Keil und Frank Genser. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Darstellerprekariat auf jeden Job ein? „Das Reich der Tiere“ mit u.a. Christian Freund, Alexandra Sinelnikova, Marlena Keil und Frank Genser. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Das Zebra, Schauspieler Frankie, versucht in seiner Wohnung Informationen zum neue Stück „Garten der Dinge“ von der Regisseurin (wunderbar gespielt von Bettina Lieder) zu bekommen und Vorteile für sich erlangen, indem er zur Lesung zu diesem Stück geht. Doch das geht schief. Ernüchtert spielt er später sogar in einem Werbespot mit

Obwohl eigentlich niemand (vor allem die Ginsterkatze) bei dem „Garten der Dinge“ mitmachen will, lassen sich am Ende als entpersönlichte „Dinge“ wie etwa eine Ketchupflasche, Toaster, Pfeffermühle oder Spiegelei in diesem surrealen Stück einsetzen.

Die Inszenierung stellte das Ensemble neben der schauspielerischen auch wieder einmal vor physische Herausforderungen. Choreografien und musikalische Anforderungen, ob punkig-rockig oder leiser, wurden von ihnen gemeistert. Das dieses Ensemble auch musikalische Qualitäten hat , bewies es ja schon öfter. Die verschiedenen Charaktere (Symbolhaft bei den Tieren) wurden mit großer Intensität und Körperlichkeit für die ZuschauerInnen auf die Bühne gebracht.

Künstliche Kakteen und andere Requisiten sorgten auf der Bühne für den passenden Hintergrund. Auf einer erhöhten Plattform spielen Serge Corteyn und Manuel Loos Live-Musik zur atmosphärischen Begleitung des Abends.

Die Kostüme waren sehr fantasievoll von Theresa Mielich gestaltet.

Ein komödiantisch-ironischer Theaterabend, der das Publikum trotz des ernsten gesellschaftlichen Hintergrund zum lachen brachte.

Wäre es doch besser für uns und die Gesellschaft allgemein, sich nicht spalten und gegeneinander ausspielen zu lassen. Wären Zusammenhalt und Solidarität gegen das „Krokodil“ eine Möglichkeit?

Informationen über weitere Aufführungstermin erhalten Sie wie immer unter www.theaterdo.de oder Tel.. 0231/ 50 27 222.

Gemeinsam in den Tod?!

Es klingt wie eine von diesen Fake-News, doch hat das Stück „norway.today“ von Igor Bauersima einen realen Hintergrund. Mitte Februar 2000 sind ein Norweger und eine Österreicherin gemeinsam vom „Prekestolen“-Felsen int Norwegen gesprungen. Kennengelernt und verabredet hatten sich beide in einem Chat. Bauersima dreht die tragische Geschichte ins positive und schreibt ein kluges Stück über den Wert des „Echten“ gegenüber dem „Fake“. Premiere hatte das Stück am 26.01.2019.

Gemeinsam in den Tod zu gehen hat durchaus etwas romantisches an sich. Man denke an Heinrich von Kleist und andere. Doch Julie (Alexandra Sinelnikova) ist anders. Sie hält das Leben in der Gesellschaft für sinnlos und fühlt sich nicht authentisch mit anderen. Daher möchte sie Selbstmord begehen, sucht aber Begleitung beim Sterben. Die sucht sie in einem Chat und findet den 19-jährigen August (Frieder Langenberger), den sie nach Norwegen fliegen lässt. August fühlt sich nicht wirklich lebendig, für ihn ist alles „Fake“.

Am Anfang steht für das „Blinddate“ erst einmal das Kennenlernen. Die Motive für den Selbstmord werden abgeklopft und das Misstrauen von Julie weicht sehr langsam. Denn sie ist die abgeklärte von beiden. Während August in seiner Unsicherheit ein sehr starkes Redebedürfnis hat, braucht Julie für ihre Selbstbeherrschung das Schweigen. Der Streit zwischen den beiden birgt angesichts des Todes dennoch komödiantisches Potential. Beispielsweise, als Julie halt von August braucht beim Herunter sehen über den Felsen. Der erste Selbstmordversuch endet im Fiasko, beide sind ängstlich und wütend. August, weil er Angst hat, dass Julie ihn umbringen will, Julie, weil er sie hängen lässt.

Julie (Alexandra Sinelnikova) und August (Frieder Langenberger) stellen fest, dass man das "echte" Leben nicht auf Video bannen kann. (Foto: © Edi Szekely)
Julie (Alexandra Sinelnikova) und August (Frieder Langenberger) stellen fest, dass man das „echte“ Leben nicht auf Video bannen kann. (Foto: © Edi Szekely)

In der Nacht geschieht ein besonderes Naturerlebnis: Ein Polarlicht ist zu sehen und zwar in echt und nicht als „Fake“. Beim Versuch es mit der Kamera aufzunehmen, erkennen sie den Unterschied. Das ist auch der Punkt, an dem beide versuchen, sich emotional zu öffnen.

Am nächsten Morgen probieren August und Julie einen medialen Abschiedsgruß an Familie und Freunde – und scheitern total. Beide finden zurück ins Leben, denn nur wer lebendig ist, ist echt. Der Wunsch zu Sterben und die Lebenslust sind nicht miteinander vereinbar und was viel wichtiger ist, sie sind auch nicht medial festzuhalten. Denn das Echte muss erlebt werden.

Bei der Inszenierung feierte Frank Genser sein Regiedebut. Er gab seinen beiden Darstellern genug Raum sich zu entfalten und sie dankten es ihm mit einem engagiertem Spiel. Die Bühne war minimalistisch, der Felsen durch eine Kante angedeutet. Ein Zelt für die Nacht und zwei Kleiderständer zum Umziehen, das war alles, was das Stück benötigte.

Ein intensives Stück nicht nur über das Leben, sondern auch über die postmoderne Wirklichkeit, bei der Schein mehr ist als Sein und das Leben als Schauspiel gesehen wird, welches inszeniert wird. „norway.today“ ist mit Recht eines der beliebtesten Jugendtheaterstücke (wegen des Alters der Protagonisten), aber die Zahl der Menschen, die in einer Filterblase voller „Fake-News“ leben, wächst. Daher ist das Stück – nicht nur wegen den tollen Schauspielern – allen Altersklassen zu empfehlen.

Theaterstück zwischen Todessehnsucht und Lebenslust

Im Studio des Schauspiel Dortmund hat Ensemble-Mitglied Frank Genser am Samstag, den 26.01.2019 um 20:00 Uhr mit dem Theaterklassiker „norway.today“ von Igor Bauersima (Schweizer Dramatiker) Premiere und feiert gleichzeitig sein Regiedebüt.

Dieses Kammerspiel für zwei Personen hat, obwohl vor neunzehn Jahre uraufgeführt, nichts von seiner Aktualität und Brisanz eingebüßt. Ganz im Gegenteil.

Im Stück treffen die jungen Erwachsenen Julie und August aufeinander. Sie möchte sich das Leben nehmen und sucht eine Person, die sich zusammen mit ihr von einem 604 Meter hohen Fels am norwegischen Lyse-Fjord ins Bodenlose stürzen will. Der von der Scheinheiligkeit des Lebens angewiderte August sagt dem Vorhaben entschlossen zu. Das Datum wird festgelegt und mit Proviant und Zelt sind die Beiden alleine und ohne gesellschaftlichen Druck zusammen, lernen sich kennen und arbeiten sich aneinander ab. Mit ihren Zweifeln, gespielten gesellschaftlichen Rollen und den echten Gefühlen. Überrascht von ihren eigenen Gefühlen und der der Naturschönheit, bewegen sie sich zwischen Todessehnsucht und jugendlicher Lust auf Leben…

Es steht viel auf dem Spiel!

Das Stück ist auf mehreren Ebenen interessant. Es ist zum einen, so Genser, eine Auseinandersetzung mit dem Tabu-Thema „Freitod“ oder „Selbstmord“. Darf man das „geschenkte Leben“ von sich aus beenden? Wofür lohnt es sich zu Leben? Das sind nur zwei der vielen Fragen, die sich ergeben.

Alexandra Sinelnikova (Julie) und Frieder Langenberger (August) sind die Darsteller des kleinen Kammerstücks im Studio. (Foto: 
©Birgit Hupfeld)
Alexandra Sinelnikova (Julie) und Frieder Langenberger (August) sind die Darsteller des kleinen Kammerstücks im Studio. (Foto:
©Birgit Hupfeld)

Zum anderen spielt der immer größer werdende Einfluss der modernen Medien auf das Lebensgefühl, gerade bei Jugendlichen, eine wachsende Rolle. Das Gefühl von „persönlichen Defiziten“ wird oft zu einem unerträglichen Problem. Mobbing hat eine immense Dimension angenommen und verzweifelte (junge) Menschen nehmen sich (wie schon geschehen) das Leben. Dazu gibt es auch einschlägige Foren (Suizid-Foren).

Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem „idealem“ und dem realen Leben. Es ist das Gefühl, den Anforderungen des Lebens nicht zu genügen. Was für ein Bild wollen wir vor anderen von uns abgeben? Zweifel bleiben. Am Ende bleibt, so der Regisseur, die Frage: Was ist das richtige Happy-End?

Für Bühne und Kostüm ist Ann-Heine, für Video Laura Urbach verantwortlich. Einen Eisberg aus Styropor, wie bei früheren Aufführungen des Stückes, wird jedenfalls, soviel verrieten der Dramaturg Matthias Seier und Regisseur Frank Genser, nicht auf der Bühne zu sehen sein.

Julie wird von Alexandra Sinelnikova vom Ensemble, und August von Frieder Langenberger gespielt.

In der Saison 2018/2019 ist Langenberger im Rahmen des Schauspielstudio Graz Ensemblemitglied am Schauspiel Dortmund.

Für die Premiere am 26.01.2019 gibt es noch Rest-Karten.

Informationen über weitere Aufführungstermine erhalten Sie wie immer unter www.theaterdo.de oder Tel.: 0231/ 50 27 222

Die Schöpfung – eine Inszenierung „Next Generation“

Im Schauspiel Dortmund hatte am Samstag, den 07.04.2018 die „Schöpfung“ nach Joseph Haydn (Text Gottfried van Swieten) unter Verwendung von Szenen aus „Die Ermüdeten“ von Bernhard Studlar, Stanislaw Lem, Goethes Faust, Richard Dawkins, der Bibel u.a. seine Premiere.

Die Regisseurin Claudia Bauer stellte in dieser spannenden Kooperations-Projekt zwischen Oper und Schauspiel dem bekannte Oratorium (Uraufführung 1798 Wien) von Joseph Haydn sozusagen ein existentialistische moderne „Next Generation“-Fassung der Schöpfung gegenüber. Das Oratorium dient als Folie für Gegenwart und Zukunft mit Blick auf die Potentiale und Gefahren einer einer digitalen Schöpfung.

Beteiligt an diesem Projekt waren als Opernsänger Maria Helgath (Sopran) als Engel Gabriel, Ulrich Cordes (Tenor) als Engel Uriel und Robin Grunwald (Bass) als Engel Raphael mit ihren starken Stimmen. Begleitet wurden sie am elektronischen Piano und Cembalo von Petra Riesenweber und mit Live-Musik gestaltet von Tommy Finke (T. D. Finck).

Die sechs Schauspieler des Dortmunder Ensembles (Ekkehard Freye, Björn Gabriel, Frank Genser, Marlena Keil, Bettina Lieder und Uwe Rohbeck) agierten sowohl in den Räumen einer fantastischen Drehbühne, wie auch über eine Bildschirm übertragen und auf der Bühne.

Im Prolog stellten sie sich als Maschine die „Vernunft“, aber keine vernünftige Person ist.

Der gesungenen Schöpfungsgeschichte stellen sie die digitale Schöpfung mit gewaltigen Bildern der sozio-kulturellen Entwicklungsgeschichte gegenüber.

Als Person (Schauspieler) wurden sie durch verschiedene Masken und Kostümierungen verfremdet. Dabei blieben sie eindrucksvoll in ihren maschinelle Bewegungen und ausdrucksstarken Darbieten der Zitate. Dabei wurden auch aktuell diskutierte politische Fragen wie etwa um das bedingungslose Grundeinkommen eingebaut. Der Mensch als defektes Wesen dargestellt, das durch seine individuellen Persönlichkeiten zur Zerstörung und dem Untergang geweiht ist. Die Freiheit ist größer als die Vernunft, mit der die Menschen nicht umgehen können.

Parallel zu Haydns Schöpfung geht es bei der von der Maschine erzählten Geschichte mit dem Chaos am Anfang los, mit der Entstehung des Wetter, dem Phänomen Zivilisation, Entstehung der Arten, Kulturentwicklung, Ideologien und Religion. Der Mensch hat sich schließlich selbst zum „Gott“ gemacht und seine Welt der Zerstörung preis gegeben. Am Ende steht die Entwicklung vernünftiger und unpersönlicher Intelligenz.

Sänger und Schauspieler beim Prolog des Stückes. (Foto: © Birgit Hupfeld)
Sänger und Schauspieler beim Prolog des Stückes. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Bauer arbeitet nicht nur mit eindringlichen visuellen Bildern, sondern verstärkt ihre Wirkung noch durch Wiederholungen (Loops) und Sprachverzerrung, ähnlich wie zum Beispiel Kay Voges bei seinem „Goldenen Zeitalter“. Dabei geht sie bis zur Schmerzgrenze. Schrill wird da schon mal unverständlich aneinander vorbei geredet, um zu verdeutlichen, dass nur die eigene Persönlichkeit mit ihrer Befindlichkeit im Mittelpunkt steht.

Eindrucksvoll der Dialog gegen Ende von Eva (Bettina Lieder) und Adam (Frank Genser). Eva, eine nach den Maßen von Adams Rippe als und unpersönliche vernünftige Maschine, und Adam geraten vor romantischem Hintergrund in einen Disput. Der entsetzte Adam will keine simulierte, sonder eine nicht planbare geheimnisvolle menschliche Liebe und das Recht aus seinen Kampf um Leben und Tod. Das wird aber laut Eva nicht möglich sein. Der Mensch zerstört seine Biosphäre und nur die Aufgabe der Persönlichkeit kann ihn retten.

Was bleibt dann aber von dem Individuum? Nur der Hunger und die Unersättlichkeit sind der einzige Berührungspunkt zwischen Mensch und „Maschine“.

Die Thematik des abends wurde schon von einigen Autoren und Philosophen behandelt. Zu 80% wurden Zitate aus Werken des polnischen Philosophen und Science-Fiction-Autors Stanislaw Lem (1921-2006). Bedeutend sind dabei vor allem die Zitate aus seinem Buch „Also sprach Golem“. Der Titel spielt auf das Werk „Also sprach Zarathustra“ von Nietzsche an. Der von Menschen gebaute Super-Computer „Golem XIV“ in der Geschichte hat die Intelligenzbarriere durchbrochen und verfügt über eine eigenständige Vernunft. Lem weist hier auf die geistige Beschränktheit des sich als „Krone der Schöpfung“ betrachtenden Menschen hin, die tieferen Gründe der Natur zu erkennen. Der genetische Code hat gegenüber den aus ihm entstandenen Organismen eine evolutionär vorrangige Stellung ein. So heißt es in einem Zitat: „ Der Sinn Boten ist die Botschaft.“ Die Idee des dominanten Gensnahm der britische Biologe und Autor Richard Dawkins (*1941) in seinem Buch „Das egoistische Gen“ (1976) auf und führt die gesamte Entwicklung des Lebens auf die Selektion von Genen zurück.

Die „Schöpfung“ ist kein Oratorium mit Schauspiel und Haydn-Fans werden vielleicht enttäuscht sein, doch den Zuschauer erwartet ein bildgewaltiges, musikalisches Spektakel mit wunderbaren Sängern und engagierten Schauspielern.

Der Kirschgarten – Aus der Ordnung gefallen

Ein großes Ensemble-Stück im kleinen Studio. 10 Schauspieler und einen Musiker brachte Regisseur Sascha Hawemann in den „Kirschgarten“ von Anton Tschechov unter. Die Tragik-Komödie war die bitter-süße Kapitulation des Adels vor dem neu aufstrebenden Bürgertum. Ein Premierenbericht vom 29. Dezember 2017.

Wenig Platz fürs Publikum. Zwei Stuhlreihen vor Kopf, an der Seite nur eine. Selbst das Füße ausstrecken war nicht immer gefahrlos möglich, denn der kleine Gang wurde auch von den Schauspielern benutzt. Aber gerade diese Nähe machte die Inszenierung von Havemann zu einem emotionalen Erlebnis.

In „Der Kirschgarten“ von Tschechow geht es um das Gut und den Kirschgarten von Ljubow Andrejewka Ranjewskaja, die dort mit ihrem Bruder Gajew, ihrer Tochter Anja und ihrer Adoptivtochter Warja lebt. Gerade aus dem Ausland wiedergekommen, sind sie zwar völlig überschuldet, aber vor allem Ljubow Andrejewka ist noch dem aristokratischen Denken verfallen. Daher lehnt sie auch das Angebot vom Kaufmann Lopachin ab, den Kirschgarten zu parzellieren und zu verpachten. Am Ende verliert sie Gut und Garten.

Warja (Bettina Lieder) ist reifer als das müde "Seelchen" Anja (Merle Wasmuth) kann aber den Verkauf von Gut und Garten nicht verhindern. (Foto: © Brigit Hupfeld)
Warja (Bettina Lieder) ist reifer als das müde „Seelchen“ Anja (Merle Wasmuth) kann aber den Verkauf von Gut und Garten nicht verhindern. (Foto: © Brigit Hupfeld)

1861 wurde die Leibeigenschaft in Russland abgeschafft. Die alten traditionellen Werte lebten aber in den Köpfen weiter. Sehr gut zu sehen in den Figur von Ljubow Andrejewka. Friederike Tiefenbacher spielte die weibliche Hauptfigur als verletzliche Frau, die zwar immer wieder versucht ihren Stolz zu bewahren, aber am Ende vor den Trümmern ihrer Existenz steht. Ljubow Andrejewka hatte es nie verstanden, dass die Macht vom Adel zum Geldadel wechselte. Vom gleichen Schlag ist ihr Bruder Gajew (Ekkehard Freye). Er scheitert in seinen Versuchen, Geld aufzutreiben, um das Gut zu retten.

Die andere Figur, die den Zeitenwandel versucht zu negieren, ist der alte Diener Firs (Uwe Schmieder). Für Firs ist die neue Ordnung nichts. „Hie Bauern, hie Herren – man wusste, woran man war. Jetzt läuft alles durcheinander, kein Mensch kennt sich mehr aus.“ Am Ende des Stückes bleibt er einsam und vergessen im verlassenen Gutshaus.

Die neue Zeit repräsentiert niemand so gut wie der Kaufmann Lopachin. Eine Paraderolle für Frank Genser, der dem Stück eindeutig seinen Stempel aufdrückte. „Dasselbe Gut hab‘ ich gekauft, auf dem mein Vater und Großvater leibeigene Knechte waren, die nicht mal die herrschaftliche Küche betreten durften“, sagt er als Lopachin. Eines der zentralen Sätze im Stück. Doch Lopachin fehlt etwas, die Liebe. Er liebt Warja (Bettina Lieder), doch er ist vor lauter Geld verdienen unfähig, seine Gefühle auszudrücken. Warja ist zwar die realistischere der beiden Töchter und wurde von Lieder auch mit einer gehörigen Portion Energie und Entschlossenheit gespielt.

Auch dem nächsten Liebespaar ist kein glückliches Ende beschieden. Anja (bezaubernd Merle Wasmuth) ist ein sensibles Mädchen, das den ewigen Studenten Trofimov liebt. Trofimov, gespielt von Björn Gabriel im Rudi-Dutschke-Look), kann sehr gute Reden halten, ist aber unfähig zu lieben. Von daher trennen sich ihre Wege am Schluss.

Das Stück ist in den Nebenrollen sehr gut besetzt. Carline Hanke als überdrehte Gouvernante Charlotta und Marlena Keil als Dunjascha. Dunjascha teilt das Schicksal von Anja und Warja, denn auch aus ihrer Liebe wird nichts. Jascha (schön geckenhaft gespielt von Raafat Daboul) verschmäht sie, und den Pechvogel Semjon (auch Uwe Schmieder) will sie nicht.

Eine wichtige Rolle spielte Alexander Xell Dafov als Musiker, der die Inszenierung klanglich begleitete. Von Russen-Pop über russischer Sakralmusik und 80er Jahre Reminiszenzen „The final Countdown“ bis hin zu elektronischer Partymusik reichte das Repertoire.

Nach „Eine Familie“ im großen Haus und „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ im Megastore war es die erste Arbeit Hawemanns im Studio. Bühnenbildner Wolf Gutjahr nutzte den verfügbaren Raum optimal aus. Durch die Nähe zum Publikum war die Inszenierung sehr intensiv, vor allem im zweiten Teil, als die Komödie sich in eine Tragödie wandelte. Emotion pur – Dank eines engagierten und spielfreudigen Ensembles mit Frank Genser als Kirsche auf der Sahne.

 

Infos und Karten unter www.theaterdo.de

 

Eat the rich – auf österreichisch

Elendstouristen kommen in eine Kneipe, die es besonders in sich hat – voll mit Außenseitern und gescheiterten Existenten wie sie nur Werner Schwab kreieren konnte. Willkommen in der Wiedereröffnung des Studios des Schauspiel Dortmund, willkommen bei „Übergewicht, unwichtig: Unform“, ein europäisches Abendmahl von Werner Schwab. Nehmen Sie etwas zu trinken und vergessen Sie Ihr Brot nicht.

Früher gab es in Dortmund die Kneipe „Bei Ernie“ direkt hinter dem Burgtor. Wenn man den Geschichten und Mythen glauben schenkt, dann war das kein Ort für Schicki-Micki-Menschen auf der Suche nach dem coolsten Elendstourismus. So einen Kneipencharme zauberte auch Johannes Lepper ins Studio, obwohl seine Kneipe (mit einem riesigen Bild der Schlacht von Austerlitz) ein wenig geräumiger Aussicht.

In der Kneipe befinden sich neben der Wirtin (Amelie Barth), der Kneipenphilosoph Jürgen (Uwe Rohbeck), das Pärchen Schweindi (Andreas Beck) und Hasi (Marlena Keil), der grobschlächtige Karli (Frank Genser) mit seiner Freundin Herta (Friederike Tiefenbacher) und Fotzi (Christian Freund).

Das Stück kreist im wesentlichen um die Unzulänglichkeiten der anwesenden Akteure. Der naive und linksliberale Jürgen versucht seine Los als einfacher Lehrer zu überspielen, Schweindi möchte mit Hasi ein Kind, ist aber impotent und pädophil. Hasi selber wurde als Kind von ihrem Vater missbraucht, wie sich gegen Ende des Stückes herausstellt.

Karli ist ein grobschlächtiger Mensch, der eine ziemlich kurze Zündschnur besitzt und seinen Frust gerne auch gewalttätig an seiner Freundin Herta ablässt. Herta selbst spielt die Rolle der Schmerzensmaria und hält dies geduldig aus. Fotzi hingegen ist eine Frau unbestimmten Alters, die durch ihr exhibitionistisches Verhalten versucht, die Aufmerksamkeit auf sich zuziehen und Geld für die Musikbox zu schnorren.

Ein wesentlicher Bestandteil in den Werken Schwabs ist die Beschäftigung mit Nahrung. In „Übergewicht“ geht es besonders um das „Brot“, das für Schweindi einen sakralen Charakter besitzt. Jedoch immer mit einem aggressiven Unterton. So fährt er Karli mehrfach an: „Kriegsverbrecher, Brotbetrüger, Kriegsbetrüger, Brotverbrecher. Nie wieder erlangst du von mir eine Vergebung.“

Ein weiteres Merkmal der Schwabschen Sprache sind die teilweise vulgären Sprüche der Protagonisten, die aber durch hochgestochene Ausdrücke angereichert und dadurch konterkariert werden.

Die Ausdrucksweise mancher von Schwabs Figuren wirkt abgehärtet, ungebildet und arrogant, sogar vulgär. Sie überraschen gleichzeitig aber, in dem sie plötzlich einen hoch gestochenen Ausdruck verwenden, der man in demjenigen Milieu und von derjenigen Figur nicht erwarten hätte.

Schwabs Figuren träumen von einem einfachen, normalen Familienleben, sie sind aber nicht in der Lage, es zu verwirklichen.

Das große Fressen. Mit dabei sind (v.l.n.r.) Christian Freund, Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Amelie Barth und Uwe Rohbeck (Foto: © Birgit Hupfeld)
Das große Fressen. Mit dabei sind (v.l.n.r.) Christian Freund,
Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Amelie Barth und Uwe Rohbeck (Foto: © Birgit Hupfeld)

Im weiteren Verlauf kommen zwei Gäste (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul) in die Wirtschaft, die sich separieren und stumm bleiben. Langsam aber sicher ziehen sie den Unmut der anderen Gäste auf sich, die ihren persönlichen Frust und Neid auf die beiden Neuankömmlinge abladen bis es zum Mord und Kannibalismus kommt ähnlich im Film „Eat The Rich“. Dabei mutiert Herta, die als einzige nichts vom Menschenfleisch genommen hat zu einer Heiligen, um die alle Füße-küssend eine Prozession abhalten. Hier kommt die Auseinandersetzung mit Schwabs religiöser Mutter wohl zum Tragen.

Surreal wie bei Beckett wird es, wenn nach dem Aufräumen plötzlich wieder das Paar ins Wirtshaus einkehrt.

Das Gute an der Inszenierung von Lepper ist es, dass er den Figuren auch ein wenig Zeit zum Atmen gibt. Denn das Stück besteht nicht nur aus skurrilen Dialogen, die zum lachen sind, sondern auch ab und an aus sehr ernsten Teilen. Wenn beispielsweise Schweindi seine Verzweiflung klagt oder Jürgen seine Weltverbesserungsideen zum besten gibt.

Die Schauspieler tragen mit dazu bei, dass „Übergewicht“ eine rundum gelungene Inszenierung wird. Vor allem Beck, Genser und Rohbeck. Denn in dem Stück versuchen die männlichen Hauptfiguren ihre Dominanz unter Beweis zu stellen. Da sind die Frauen mehr oder weniger Staffage. Dennoch zeigen Keil (Hasi), Tiefenbacher (Herta) und Barth (Wirtin), dass sie den Männern durchaus Kontra geben können, wenn es auch für Herta danach schmerzhaft wird.

Eine Sonderrolle hat Fotzi, die von Christian Freund gespielt wird.

Eine Empfehlung für alle, die auf absurdes, surreales Theater stehen. Derbe Sprache und viel Blut auf dem Theaterboden. Alle, die das nicht stört, werden einen unterhaltsamen Abend bekommen.

Weitere Termine finden Sie unter www.theaterdo.de

 

Tichy in der Chemo-Matrix

[fruitful_alert type=“alert-success“]Die Bühne sieht ein wenig aus wie die Brücke eines Raumschiffes. (Foto: © Birgit Hupfeld)[/fruitful_alert]

Stanisław Lem trifft auf „Die Matrix“. Live-Animation trifft auf reale Schauspieler. „Der Futurologische Kongress“ nach Lem mischt Zukunftsvisionen und Darstellungsformen. Ars tremonia war bei der Premiere am 11. Juni 2017 im Megastore dabei.

Ein Stück über die Zukunft in Räumen, die bald der Vergangenheit angehören. Denn das Schauspiel Dortmund wird das Megastore bald verlassen und wieder zurück in ihr angestammtes Domizil am Burgwall gehen.

Für den Schluss hat man sich was besonderes aufgehoben: Eine Live-Animations-Performance. Die Idee hatten die Medienkünstler von sputnic unter der Leitung von Nils Voges. Manche werden sich an das Stück „Die Möglichkeit einer Insel“ erinnern, das 2015 Premiere feierte. Auch beim „Futurologischen Kongress“ gab es die Animationstafeln, die die Akteure auf einer Landwand zum leben erweckten. Daneben gab es Szenen mit Modellen und Puppen, die eher an Arbeiten von Klaus Gehre erinnerten, der ebenfalls in Dortmund inszenierte, beispielsweise mit „Minority Report“. Dazu gab es auch immer wieder Szenen, die live von Schauspielern Marlena Keil, Frank Genser, Friederike Tiefenbacher und Uwe Schmieder gespielt wurden. Musik kam vom musikalischen Leiter Tommy Finke.

Die Handlung orientiert sich an Lems Erzählung „Der Futurologische Kongress. Aus Ijon Tichys Erinnerungen“. Astronaut und Wissenschaftler Tichy wird von seiner Raumstation zurück auf die Erde befohlen. In Costricana findet der Futurologische Kongress statt. Doch Proteste begleiten den Kongress. Im Laufe der Auseinandersetzungen zwischen Polizei, Militär und Demonstranten werden auch psychotrophe Substanzen eingesetzt. Dennoch eskaliert die Gewalt und Tichy sowie sein Bekannter, Professor Trottelreimer, kommen ums Leben, nur um etwa 60 Jahre später wieder zu erwachen. Und zwar im Körper einer Frau. Inzwischen lebt die Gesellschaft in einer Chemokratie, bei der die Einnahme von Pillen zur Grundvoraussetzung gehört. Doch was ist Realität und was nicht?

Die Frage nach der Realität scheint ein beliebtes Thema in der Science-Fiction zu sein. Sputnic zitiert auch beispielsweise aus den „Matrix“-Filmen, gegen Ende muss sich Tichy zwischen der roten und der blauen Pille entscheiden. Lems Erzählung – eigentlich gegen das kommunistische System in seinem Heimatland Polen gerichtet – hat auch in der kapitalistischen Welt seine kritische Berechtigung. Gewalt gegen Demonstranten, Einschränkung von Bürgerrechten sind aktuelle Probleme und Herausforderungen. Tichy wird von Frank Genser und Marlena Keil (ja, der Körpertausch) herrlich dargestellt. Der männliche und weibliche Aspekt von Tichy kamen gut zur Geltung. Auch Uwe Schmieder als überdrehter Professor Trottelreimer war klasse. Friederike Tiefenbacher sprach die künstliche Intelligenz „Automaty“, die ebenfalls an die Matrix erinnerte.

Wobei alle Schauspieler die Doppelfunktion als „Animateure“ und Schauspieler mit Bravour hinbekamen.

Wer „Die Möglichkeit einer Insel“ liebte, sollte den „Futurologischen Kongress“ nicht verpassen.

Karten und Informationen unter www.theaterdo.de

Die Unmöglichkeit trotz unbegrenzter Möglichkeiten

[fruitful_alert type=“alert-success“]Von diesem Tisch gehen die meisten Episoden aus. (Foto: © Birgit Hupfeld)[/fruitful_alert]

Was ist die Liebe in Zeiten von „alles kann – nichts muss“? Joël Pommerat zeigt uns in „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ die Schwierigkeiten von Menschen, sich aufeinander einzulassen, ihre Lebensentwürfe in Einklang zu bringen und ehrlich zu anderen zu sein. Die Premiere des Stückes unter der Regie von Paolo Magelli war am 08. April 2017 im Megastore.

er die Liebe. Doch keine Angst, der französische Autor hat keinen großen Eimer Zuckerguss parat, um ihn über das Publikum zu gießen. Kein triefender Kitsch á la „Tatsächlich… Liebe“, bei Pommerat geht es ums Eingemachte in den Beziehungen. Und die können durchaus komisch sein, wie bei einer geplanten Hochzeit, der bei die Braut kurz vorher feststellt, dass ihr Bräutigam doch auch ein Techtelmechtel mit jeder ihrer Schwestern hatte. Mehr ins Genre Horror/Psychodrama geht die Episode einer Babysitterin, die auf die nichtexistierenden Kinder eines Paares aufpassen muss. Natürlich machen sie die Babysitterin für das vermeintliche Verschwinden ihrer Kinder verantwortlich und dem Zuschauer ist es nicht deutlich: Ist das ein perfides Spiel, was die beiden treiben oder nicht.

Die Liebe hat bei Pommerat auch schmerzhafte Facetten: Einer Patientin einer Psychiatrie-Einrichtung soll überzeugt werden, ihr Kind abzutreiben, das sie mit einem anderen Patienten gezeugt hat und die Liebe eines Priesters zu einer Prostituierten steht unter einer harten Belastungsprobe.

In dem Stück stehen die Schauspieler im Mittelpunkt: Besonders wenn alle mehrere Rollen spielen. Die Premiere war auch die Premiere für Christian Freund, der ab der Spielzeit 2017/18 dem Ensemble angehören wird. Zusammen mit Ekkehard Freye, Frank Genser, Caroline Hanke, Marlena Keil, Sebastian Kuschmann, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth fügte sich Freund in das gut funktionierende Team ein, das neben Tempokomödie auch die leisen romantischen Töne traf.

Ein großes Lob gebührt dem Bühnenbildner Christoph Ernst. Der Anfang und das Ende war eine Reminiszenz an da Vincis Gemälde „Das letzte Abendmahl“ und der Tisch war ein zentraler Punkt in dem Stück. Rechts und links waren Treppen zu einer Balustrade und ein vergittertes „Dachgeschoss“ zu sehen. Styroporplatten mit sichtbaren Leimspuren und Plastikflaschen als Baluste erzeugten die Anmutung eines Rohbaus. Vielleicht ein Symbol für die Liebe, die immer Veränderungen unterworfen ist. Vielleicht ist es auch unmöglich, der Liebe eine bestimmte, dauerhafte Gestalt zu geben, ebenso unmöglich wie die Wiedervereinigung der beiden Koreas.

Weitere Termine und Karten unter www.theaterdo.de

 

Reflexion über Vergänglichkeit und die Schönheit des Moments

Hier trägt der Engel Schwarz: (v.l.n.r.) Frank Genser, Marcel Schaar (Fotograf), Uwe Schmieder, Julia Schubert, Ensemble- (Foto: ©Birgit Hupfeld)

Kann man einen Augenblick für die Ewigkeit festhalten? Diese Frage spielt nicht nur in Goethes Faust beim Packt mit dem Teufel (Mephisto) eine große Rolle. Die Fotografie versucht schon länger, besondere Momente des Lebens für die Zukunft einzufangen. Einerseits kann der Betrachter sich so vergangene Augenblicke wieder in das Gedächtnis rufen, führen uns aber auch die Vergänglichkeit unseres Lebens und die Relativität von Raum und Zeit vor Augen.

Schauspielintendant Kay Voges, drei Dramaturgen und sein gesamtes Ensemble haben zusammen mit dem Kunstfotografen Marcel Schaar versucht, sich der Thematik durch die Verbindung von Fotografie und Theater zu nähern. Am Samstag, den 11.02.02017 hatte im Megastore das Theater-Abenteuer „hell / ein Augenblick“ Premiere.

Wohl einmalig in der Theatergeschichte lichtet ein Fotograf während der Vorstellung live auf der dunklen Bühne ein Motiv ab, das dann direkt in den Zuschauerraum projiziert wird. Helligkeit und Dunkelheit tauschen ihre Plätze. Die Bühne wird zu einer Dunkelkammer, die nur ab und zu durch das Blitzlicht des Fotografen für eine 1/50 Sekunden durchzuckt. Insgesamt etwa 100 mal am Abend.

Zur Erläuterung: Auf der Bühne stehen an den Seiten zwei große Leinwände und zwei Minni-Flutlichtanlagen. In der Mitte befindet sich im Hintergrund eine Art weiße „Magic-Box“ ,wo der Fotograf als „Meister des Augenblicks“ Schauspieler in speziellen Momenten ablichtet. Diese werden als schwarz-weiß Bilder auf die großen Leinwände projiziert. Diese Reduktion verlangt von den Schauspieler/innen viel Mut, denn sie sind es normalerweise gewohnt, ihre Körper deutlich sichtbar dem Publikum zu präsentieren. Die entstehenden Bilder sind berührend ehrlich und zeigen die kleinste Poren im Gesicht und Körper.

Alles fließt, alles steuert der Blitz“ ,sagt Heraklit. So beginnt der Abend mit einer philosophische Abhandlung aus dem „Baum des Lebens“ (Rabbi Isaak, Luria, um 1590) erzählt von Friederike Tiefenbacher.. Es geht darin um die Themen Leben und Licht, Raum und Zeit. Die Schauspieler/innen befinden sich sowohl auf der Bühne und in der „Magic- Box“, wo sie abgelichtet werden. Die Bilder auf der Großleinwand werden von den Schauspielern mit passenden philosophische Texte von Arthur Schopenhauer, Nietzsche, Bertand Russel, Charles Bukowski, Rainald Götz und andere begleitet. Das verstärkte die Wirkung der Bilder.

Als typisch für das, was viele Menschen empfinden, wenn sie fotografiert wurden denken, steht Uwe Schmieder, abgelichtet mit einem Schild „You see me“. Erschrocken ruft er in die Dunkelheit: „Das bin ich nicht, das bin doch nicht ich!“ Andere hingegen finden sich fotogener und rufen: „Das bin ich. So sehe ich aus.“

Es entstehen schöne Bilder von Zuneigung und Liebe, aber auch viele ernste, nachdenklich machende eindrucksvolle Bilder von Vergänglichkeit.

Für das sinnliche Erleben war der sensible begleitende Soundtrack von Tommy Finke und die Musik von Mahler bis Brian Molko/Placebo von großer Bedeutung.

Es war ein meditativer,archaischer Abend mit Nachwirkung. Wenn es um sich nicht erinnern können, Tod und Vergänglichkeit geht, ist das keine leichte komödiantische Kost. Das der Tod nicht gerne gesehen ist, zeigen die Text von Christoph Schlingsensief oder Robert Gernhardt aus dem Jahr 1997. Gernhardts Gedicht „So“ besagt, dass der Mensch in keinem Monat gerne sterben will. Er will immer wieder neue Moment generieren, um sie fest zu halten.